Zehnte Familie: Stachelschweine (Aculeata)

Geripp des Stachelschweins. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Stachelschweins. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

[405] Eine anderweitige Unterordnung (Hystrichida), welche wir als die der Plumpnager bezeichnen können, vereinigt mehrere sehr beachtenswerthe Gruppen. [405] Die Familie der Stachelschweine (Aculeata), nach welcher die gesammte Gruppe wissenschaftlich benannt wurde, bedarf keiner langen Beschreibung hinsichtlich der äußerlichen Kennzeichen ihrer Mitglieder. Das Stachelkleid läßt sämmtliche hierher gehörige Thiere sofort als Verwandte erscheinen, so verschieden es auch ausgebildet sein mag. Der Leib ist gedrungen, der Hals kurz, der Kopf dick, die Schnauze kurz, stumpf und an der Oberlippe gespalten, der Schwanz kurz oder sehr verlängert und dann greiffähig; die Beine sind ziemlich gleich lang, die Füße vier- oder fünfzehig, breitsohlig, die Zehen mit stark gekrümmten Nägeln bewehrt, die Ohren und Augen klein. Die hinsichtlich ihrer Länge und Stärke sehr verschiedenen Stacheln stehen in geraden Reihen zwischen einem spärlichen Unterhaare oder umgekehrt einem längeren Grannenhaare, welches so überwiegend werden kann, daß es die Stacheln gänzlich bedeckt. Bezeichnend für letztere ist eine verhältnismäßig lebhafte Färbung. Die Nagezähne sind auf der Vorderseite glatt oder gerinnelt, die vier Backenzähne in jeder Reihe mit oder ohne Wurzeln, fast gleich groß und schmelzfaltig. Die Wirbelsäule zählt außer den Halswirbeln 12 bis 13 rippentragende, 5 rippenlose, 3 bis 4 Kreuz- und bis 12 oder 13 Schwanzwirbel.

Alle Stachelschweine bewohnen gemäßigte und warme Länder der alten und neuen Welt. Dort finden sich die kurzschwänzigen, hier die langschwänzigen Arten. Die altweltlichen sind an den Boden gebunden, die neuweltlichen sind Baumthiere. Dem entsprechend leben sie in dünn bestandenen Wäldern und Steppen oder in großen Waldungen, die ersteren bei Tage in selbstgegrabenen Gängen und Höhlen verborgen, die letzteren zusammengeknäuelt auf einer Astgabel dichter Baumwipfel oder in einer Baumhöhlung sitzend. Ungesellig wie sie sind, vereinigen sie sich nur während der Fortpflanzungszeit zu kleinen Trupps, welche mehrere Tage miteinander verbringen können; außerdem lebt jedes einsam für sich. Ihre Bewegungen sind langsam, gemessen, träge; zumal die kletternden Arten leisten Erstaunliches in der gewiß schweren Kunst, stunden- und tagelang bewegungslos auf einer und derselben Stelle zu verharren. Jedoch würde man irren, wenn man behaupten wollte, daß die Stachelschweine rascher und geschickter Bewegungen unfähig wären. Wenn einmal die Nacht eingetreten ist, und sie ordentlich munter geworden sind, laufen die einen trippelnden Ganges sehr rasch auf dem Boden hin, und die anderen klettern, wenn auch nicht mit der Behendigkeit des Eichhorns, so doch immer gewandt genug, in dem Gezweige auf und nieder. Die Bodenbewohner verstehen das Graben meisterhaft und wissen allen Schwierigkeiten, welche ihnen harter Boden entgegensetzt, zu begegnen. Unter den Sinnen scheint ausnahmslos der Geruch obenan zu stehen, bei den Kletterstachelschweinen auch noch der Tastsinn einigermaßen ausgebildet zu sein, Gesicht und Gehör dagegen sind bei allen schwach. Ihre geistigen Fähigkeiten stehen auf einer tiefen Stufe. Sie sind dumm, vergeßlich, wenig erfinderisch, boshaft, jähzornig, ängstlich, scheu und furchtsam, obgleich sie bei drohender Gefahr durch Sträuben ihres Stachelkleides und ein eigenthümliches Rasseln mit den Schwanzstacheln Furcht einzuflößen suchen. Mit anderen [406] Geschöpfen halten sie ebenso wenig Freundschaft wie mit ihres Gleichen: ein beliebter Bissen kann selbst unter den Gatten eines Paares ernsthaften Streit hervorrufen. Niemals sieht man zwei Stachelschweine miteinander spielen oder auch nur freundschaftlich zusammen verkehren. Jedes geht seinen eigenen Weg und bekümmert sich so wenig als möglich um das andere, und höchstens um zu schlafen, legen sich ihrer zwei nahe nebeneinander nieder. Mit dem Menschen, welcher sie gefangen hält und pflegt, befreunden sie sich nie, lernen auch ihren Wärter von anderen Personen nicht unterscheiden. Ihre Stimme besteht in grunzenden, dumpfen Lauten, in Schnauben, leisem Stöhnen und einem schwer zu beschreibenden Quieken, welches wahrscheinlich zu dem im übrigen gänzlich unpassenden Namen »Schwein« Veranlassung gegeben hat.

Allerlei Pflanzentheile, von der Wurzel an bis zur Frucht, bilden die Nahrung der Stachelschweine. Nach anderer Nager Art führen sie das Futter mit den Vorderpfoten zum Munde oder halten es, während sie fressen, damit am Boden fest. Das Wasser scheinen fast alle längere Zeit entbehren zu können; wahrscheinlich genügt ihnen der Thau auf den Blättern, welche sie verzehren.

Ueber die Fortpflanzung sind erst in der Neuzeit Beobachtungen gesammelt worden. Die Begattung wird in eigenthümlicher Weise vollzogen, die Jungen, deren Anzahl zwischen eins und vier schwankt, kommen ungefähr sieben bis neun Wochen später zur Welt.

Für den Menschen sind die Stachelschweine ziemlich bedeutungslose Wesen. Die erdbewohnenden Arten werden zuweilen durch das Graben ihrer Höhlen in Feldstücken und Gärten lästig, nützen aber dafür durch ihr Fleisch und durch ihr Stachelkleid, dessen schön gezeichnete, glatte Horngebilde zu mancherlei Zwecken Benutzung finden. Die kletternden Arten richten als arge Baumverwüster nur Unfug an und nützen gar nichts. In den reichen Gegenden zwischen den Wendekreisen können die dort lebenden Arten ebenso wenig schaden wie nützen.

Die Kletterstachelschweine (Cercolabina), eine besondere Unterfamilie bildend, unterscheiden sich zumeist durch schlanken Bau, mehr oder minder langen, in der Regel zu einem Greifwerkzeuge ausgebildeten Schwanz, warzige Sohlen, kurze Stacheln und die Backenzähne, welche kurze, getheilte Wurzeln haben, von den übrigen Mitgliedern der Familie. Alle hierher gehörigen Arten bewohnen Amerika.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 405-407.
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