Sechste Ordnung: Die Nager [266] (Rodentia)

In der dritten großen Gruppe der Krallenthiere sehen wir ein durchaus in sich abgeschlossenes Ganze vor uns. Die Nager tragen ihren Namen fast noch mit größerem Rechte als die Raubthiere den ihrigen; denn man braucht ihnen bloß in den Mund zu sehen, um sie sofort und unzweifelhaft als das zu erkennen, was sie sind. Zwei große Nagezähne in beiden Kiefern, welche nicht allein die Schneidezähne vertreten, sondern auch die Eck- und Lückzähne zu ersetzen scheinen, sind das allen gemeinsame Merkmal.

Ueber die äußere Leibesgestalt der Nager läßt sich im allgemeinen nicht viel sagen, weil die Ordnung, welche sehr zahlreich ist an Familien und Arten, die verschiedensten Gestalten umfaßt. Als allgemeingültige Kennzeichen der Gesammtheit kann man etwa folgende annehmen. Der Körper ist in den meisten Fällen walzig und ruht auf niederen Beinen von regelmäßig gleicher Länge, der Kopf sitzt auf einem kurzen, dicken Halse; die Augen sind groß und treten gewöhnlich stark hervor; die Lippen sind fleischig, mit Schnurren besetzt, sehr beweglich und vorn gespalten; die Vorderfüße, welche zuweilen hinter den Hinterfüßen zurücktreten, haben in der Regel vier, die hinteren fünf Zehen, und diese Zehen sind mit mehr oder weniger starken Krallen und Nägeln bewaffnet, auch zuweilen durch Schwimmhäute verbunden. Das Haarkleid ist fast immer von gleicher Länge und höchstens an den Ohrspitzen pinselartig verlängert oder am Schwanze buschig geworden.

Die Nagezähne sind bedeutend größer als alle übrigen Zähne des ganzen Gebisses, die oberen immer stärker als die unteren, alle bogenförmig gekrümmt, an der Schneide breit oder spitzmeiselartig, an der Wurzel drei- oder vierkantig, bald flach, bald gewölbt, glatt oder gefurcht, weiß oder gelblich und roth gefärbt. Ihre äußere oder vordere Fläche ist mit stahlhartem Schmelz belegt, und dieser bildet auch die scharfe Spitze oder den breiten, schneidenden Meiselrand. Der übrige Zahn besteht aus der gewöhnlichen Zahnmasse. Bei der ausgedehnten Benutzung dieser Hauptzähne würden sie sich in kurzer Zeit abstumpfen oder abnutzen, hätten sie nicht einen großen Vorzug vor allen übrigen Zähnen des Säugethiergebisses: ihr Wachsthum ist unbeschränkt. Die Zahnwurzel liegt in einer Zahnhöhle, welche sich weit in dem Kiefer einbohrt, und enthält an dem hinteren, offenen Ende in einer trichterförmigen Einbuchtung einen bleibenden Keim, welcher ununterbrochen den Zahn in demselben Grade ergänzt, wie er vorn sich abnutzt. Die feine Schärfe der Schneide wird durch gegenseitiges Aufeinanderreiben und dadurch bewirktes Abschleifen der Zähne erhalten; beide Kiefern können auch bloß senkrecht von vorn nach hinten wirken. So vereinigen diese Zähne alles erforderliche, um dem ungeheuren Kraftaufwande, welchen das Nagen beansprucht, gewachsen zu sein. Von dem beständigen Wachsthume der Nagezähne überzeugt man sich[266] leicht, wenn man einem Nager, einem Kaninchen z.B., einen seiner Nagezähne gewaltsam abbricht. Dann wächst der gegenständige, weil er nun nicht mehr abgenutzt wird, rasch weiter, tritt in einem engen Bogen aus dem Maule hervor und rollt sich gehörnartig ein, hierdurch das ganze Gebiß verstümmelnd und die Ernährung des Thieres im höchsten Grade erschwerend. Nur bei den Mitgliedern einer einzigen Familie finden sich oben neben den Nagezähnen noch zwei kleine Schneidezähne, von denen der mittlere jedoch später schwindet. Die Backenzähne, welche durch eine große Lücke von den Nagezähnen getrennt sind, haben entweder wie letztere offene oder geschlossene Wurzeln und sind auf ihrer Oberfläche in der Regel mit Schmelzleisten oder Schmelzhöckern versehen, welche gute Merkmale für die Kennzeichnung der Arten abgeben. Ihre Anzahl schwankt zwischen zwei und sechs in jedem Kiefer.

Der im allgemeinen längliche Schädel ist oben platt, das Hinterhauptsloch an der hinteren Fläche gelegen, ein geschlossener Jochbogen regelmäßig vor handen, der Oberkiefer kurz, der Zwischenkiefer bedeutend entwickelt, der Unterkiefer so fest eingelenkt, daß eine seitliche Bewegung fast unmöglich wird. Die Wirbelsäule besteht außer den Halswirbeln aus 12 bis 16 rippentragenden, 5 bis 7 rippenlosen, 3 bis 6 Kreuz- und 6 bis 32 Schwanzwirbeln. Das lange, schmale Becken ist mit seltenen Ausnahmen geschlossen, ein Schlüsselbein regelmäßig vorhanden. Bei vielen Nagern öffnen sich an der Innenseite der Lippen Backentaschen, welche sich bis in die Schultergegend ausdehnen können und bei Einsammlung der Nahrung als Vorrathssäcke dienen. Ein besonderer Muskel zieht diese Taschen zurück, wenn sie gefüllt werden sollen. Die Speicheldrüsen sind gewöhnlich sehr stark entwickelt. Der Magen ist einfach, jedoch bisweilen durch Einschnürung in zwei Abschnitte getheilt. Die Länge des Darmschlauches beträgt die fünf- bis siebzehnfache Leibeslänge. Die Eileiter der Weibchen gehen jeder für sich in einen Fruchthalter von darmförmigen Gestalt über, welcher dann in der langen Scheide mündet. Das Gehirn deutet auf geringe geistige Fähigkeiten; die Halbkugeln des großen Gehirnes sind klein und die Windungen schwach. Die Sinneswerkzeuge sind gleichmäßig und ziemlich vollkommen entwickelt.

Die Nager verbreiten sich über alle Erdtheile und finden sich in allen Klimaten der Breite und Höhe, so weit die Pflanzenwelt reicht. »Mitten in ewigem Schnee und Eise«, sagt Blasius, »wo stellenweise noch ein warmer Sonnenstrahl nur auf wenige Wochen ein kurzes und kümmerliches Pflanzenleben hervorlockt, auf den stillen, einsamen Schneehöhen der Alpen, in den weiten, öden Flächen des Nordens findet man noch Nager, welche nicht nach einer schöneren Sonne sich sehnen. Aber je reicher und üppiger die Pflanzenwelt, desto bunter, mannigfaltiger wird das Leben dieser Thierordnung, welche kaum ein Fleckchen Erde unbewohnt läßt.«

Höchst verschiedenartig ist die Lebensweise dieser allverbreiteten Geschöpfe. Nicht wenige sind Baum-, viele Erdthiere, diese leben im Wasser, jene in unterirdischen, selbstgegrabenen Höhlen, die einen im Gebüsch, die anderen im freien Felde. Alle sind mehr oder weniger bewegliche Säugethiere, welche je nach der Verschiedenheit ihrer Wohnorte entweder vortrefflich laufen oder klettern oder graben oder schwimmen. Meist scharfsinnig, munter und lebhaft, scheinen sie doch nicht klug oder besonders geistig befähigt zu sein. Die große Mehrzahl aller ist ein geistarmes Gesindel, welches wohl scheu, nicht aber vorsichtig oder listig sein kann, sich auch sonst niemals durch irgend welche hervorragende geistige Thätigkeiten auszeichnet. Manche leben paarweise, andere in Familien und nicht wenige scharenweise zusammen, vertragen sich auch gut mit anderen Thieren, ohne sich jedoch mit diesen zu befassen. Bosheit und Tücke, Wildheit und Unverschämtheit, hervorgegangen aus Ueberlegung, äußern nur wenige. Bei Gefahr ziehen sie sich so schleunig als möglich nach ihren Verstecken zurück; aber nur die allerwenigsten sind klug genug, Verfolgungen auf listige Weise zu vereiteln. Alle Nager nähren sich hauptsächlich von pflanzlichen Stoffen: Wurzeln Rinden, Blätter, Blüten, Früchte aller Art, Kraut, Gras, mehlige Knollen, ja selbst Holzfasern werden von ihnen verzehrt; die meisten aber nehmen auch thierische Stoffe zu sich und werden zu wirklichen Allesfressern. Eigenthümlich ist, daß viele, welche zu schwach sind, größere Wanderungen zu unternehmen oder [267] der Strenge des Winters zu widerstehen, Vorräthe einsammeln und diese in unterirdischen Kammern aufspeichern. Unter den Säugethieren dürfen die Nager als die Baumeister gelten; denn einzelne von ihnen errichten sich wahrhaft künstliche Wohnungen, welche schon seit den ältesten Zeiten die Bewunderung der Menschen erregt haben. Nicht wenige verbringen den Winter in einem todtenähnlichen Schlafe, verfallen in Erstarrung und erhalten sich von ihrem im Sommer reichlich aufgespeicherten Fette, welches bei den in jeder Hinsicht herabgestimmten Lebensthätigkeiten nun gemachsam verzehrt wird.

Nach Altums Meinung haben die Nager im »Haushalte« der Natur die »wichtige Aufgabe«, eine übergroße Vermehrung verschiedener Pflanzengruppen zum einhelligem Verhältnisse aller zu hemmen. »Zu diesem Zwecke greifen sie die Wurzeln an, schälen die Rinde ab und fressen den Samen, bewirken also, daß eine ungeheure Menge von Pflanzen sich gar nicht entwickelt.« Beherzigung dieser billigen Weisheit müßte eigentlich Dank im Herzen der Menschen gegen die Nager erwecken, da bekanntlich der Haushalt der Natur nur zu unseren Gunsten geführt wird. Wir denken jedoch anders.

Im Verhältnisse zu der geringen Größe der Nager ist ihre Bedeutung allerdings eine sehr erhebliche, sie erscheinen uns aber als unsere schädlichsten und gefährlichsten Feinde. Hätten nicht auch sie ein ungezähltes Heer von Feinden gegen sich, und wären sie nicht Seuchen und Krankheiten mancherlei Art in hohem Grade unterworfen, sie würden die Erde beherrschen und verwüsten. Der ununterbrochene Vertilgungskrieg, welcher gegen sie geführt wird, erhält in ihrer erstaunlichen Fruchtbarkeit und Vermehrungsfähigkeit ein Gegengewicht, welches nur zu oft zum überwiegenden wird. Es klingt überraschend und ist dennoch wahr, wenn angegeben wird, daß ein Nagerpärchen binnen Jahresfrist seine Nachkommenschaft auf Tausend bringen kann. Solche erzeugungstüchtige Arten werden oft zu furchtbaren Verwüstern des menschlichen Besitzthums. Ihre Wühlerei in Feld und Garten, ihr Zernagen und Abbeißen von allerlei nützlichen Gegenständen und Pflanzen, ihre Räubereien im Speicher und Wohnhause verursachen einen Schaden, welcher von dem Nutzen nicht entfernt erreicht werden kann. Der Mensch ist also gezwungen, sich dem Heere der Feinde dieser Thiere anzuschließen, und er übt nur das Recht des selbstsüchtigen Stärkeren, wenn er alle Mittel in Anwendung bringt, um sich solches Ungeziefers zu entwehren. Wirklich befreunden kann er sich bloß mit höchst wenigen Gliedern dieser zahlreichen Ordnung, und von diesen wenigen sind nur einzelne der Zähmung würdig. Wichtiger als durch ihre Eigenschaften werden die Nager durch ihr Fell und Fleisch, obschon es verhältnismäßig wenige sind, welche uns hierdurch nützen. Und auch bei ihnen dürfte der Schaden den Nutzen bei weitem überwiegen.

Ueber die Eintheilung der Nager in Sippen, Familien und Unterordnungen oder Horden kann man verschiedener Ansicht sein. Wir folgen der neueren Eintheilung und werden durch die von mir ausgewählten Arten einen genügenden Ueberblick der Ordnung gewinnen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 266-268.
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