Sechste Familie: Wühlmäuse (Arvicolina)

[375] Die Familie der Wühlmäuse (Arvicolina) umfaßt eine erhebliche Anzahl von kleinen, einander sehr ähnlichen Nagethieren, welche noch vielfach an die Mäuse erinnern und deshalb ihnen früher untergeordnet wurden. Aeußerlich unterscheiden sie hauptsächlich der plumpe Körperbau, der dicke Kopf, die ganz versteckten oder nur wenig aus dem Kopfhaare hervorragenden Ohren und der kurze Schwanz, welcher höchstens zwei Drittel der Körperlänge erreicht. Im Gebisse finden sich drei Backenzähne, welche aus mehreren in der Mitte schwach geknickten Platten bestehen und keine eigentlichen Wurzeln haben, bei einzelnen auch, wie die Nagezähne, beständig nachwachsen, bei anderen dagegen wurzelartig sich schließen. Ihre Kaufläche erscheint zickzackförmig, weil an den Seiten tiefe Furchen zwischen den einzelnen Platten herablaufen. Hierzu treten noch Eigenthümlichkeiten des Knochengerüstes. Der Schädel ist am Stirntheile sehr verengt, der Jochbogen weit abstehend. Die Wirbelsäule besteht außer den Halswirbeln aus 12 bis 14 rippentragenden, 5 bis 7 rippenlosen, 3 bis 4 Kreuz-und 11 bis 24 Schwanzwirbeln.

Die Wühlmäuse bewohnen den Norden der alten und neuen Welt, fehlen daher in Australien. Sie leben ebensowohl in der Ebene wie im Gebirge, auf bebautem Lande wie auf ziemlich wüstem, auf Feldern, Wiesen, in Gärten, an den Ufern von Flüssen, Bächen, Seen, Teichen und wohnen in selbstgegrabenen Höhlen und Löchern. Fast alle meiden die Nähe des Menschen, und nur wenige kommen zuweilen in seine Ställe und Scheuern oder in seine Gärten herein. Ihre Baue bestehen aus längeren oder kürzeren, einfacheren oder verzweigteren Röhren, welche sich vor anderen oft durch große Flachheit auszeichnen; manche aber bauen hüttenförmige Kessel und andere mehr oder minder künstliche Wohnungen. Die meisten wohnen einzeln oder paarweise zusammen; doch vereinigen sie sich zuweilen zu bedeutenden Scharen. Ihre Nahrung nehmen sie vorzugsweise aus dem Pflanzenreiche, manche verschmähen aber auch thierische Stoffe nicht. Viele tragen sich Wintervorräthe ein, obgleich sie keinen Winterschlaf abhalten. Im übrigen ähneln sie den wirklichen Mäusen fast in jeder Hinsicht. Ihre Lebensweise ist fast dieselbe wie bei jenen; ihre Bewegungen sind ziemlich rasch, jedoch nicht so behend und gewandt wie die echter Mäuse. Wenige [375] Arten können klettern, aber fast alle verstehen das Schwimmen meisterhaft, einige leben ja gänzlich im Wasser, andere monatelang wenigstens im Schnee, wo sie sich lange Gänge ausgraben und künstliche Nester bauen. Einzelne Arten unternehmen, wahrscheinlich vom Nahrungsmangel getrieben, große Wanderungen, und diesen haben wir es zuzuschreiben, daß gegenwärtig mehrere Arten in Europa heimisch geworden sind, welche früher ausschließlich in Asien lebten. Unter ihren Sinnen stehen Geruch und Gesicht obenan. Ihre geistigen Fähigkeiten sind gering. Alle vermehren sich stark, manche Arten geradezu in unglaublicher Weise. Dem Menschen bringen fast sämmtliche Arten nur Schaden und werden deshalb mit Recht gehaßt und auf jede Weise verfolgt.

Die verschiedenen Wühlmäuse stimmen im allgemeinen sehr überein und lassen sich schwieriger erkennen als die meisten übrigen Säugethiere. Durch Verschiedenheit in der Lebensweise, in Aufenthalt und Verbreitung unterscheiden sich manche sehr auffallend, während sie in der Gestalt und Färbung einander außerordentlich nahe stehen. Deshalb sind die Untersuchungen über sie noch keineswegs abgeschlossen. Als die sichersten Anhaltspunkte bei Bestimmung der Arten gilt die Bildung der Backenzähne, welcher sich einige Eigenthümlichkeiten des Schädels anschließen; auch die bezügliche Größe der Ohren ist von Bedeutung. Die Färbung dagegen zeigt vielfache Schwankungen; junge Thiere sind durchgängig trüber gefärbt als die Alten, und diese in Gebirgsgegenden wieder dunkler und trüber als in der Ebene. Wir beschränken uns hier auf die wichtigsten Arten der Gruppe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 375-376.
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