Vierzehnte Familie: Hasen (Leporina)

[460] An das Ende der Ordnung stellen wir die Hasen (Leporina), eine so ausgezeichnete Familie, daß man dieser den Werth einer Unterordnung (Leporida) zuspricht. Sie sind die einzigen Nager, welche mehr als zwei Vorderzähne haben; denn hinter den scharfen und breiten Nagezähnen stehen zwei wirkliche Schneidezähne, kleine, stumpfe, fast vierseitige Stifte. Hierdurch erhält das Gebiß ein so eigenthümliches Gepräge, daß die Hasen geradezu einzig dastehen. Fünf bis sechs, aus je zwei Platten zusammengesetzte Backenzähne finden sich außerdem in jedem Kiefer. Die Wirbelsäule besteht außer den Halswirbeln aus 12 rippentragenden, 9 Lenden-, 2 bis 4 Kreuz- und 12 bis 20 Schwanzwirbeln. Die allgemeinen Kennzeichen der Hasen sind: gestreckter Körper mit hohen Hinterbeinen, langer, gestreckter Schädel mit großen Ohren und Augen, fünfzehige Vorder- und vierzehige Hinterfüße, dicke, höchst bewegliche, tief gespaltene Lippen mit starken Schnurren zu beiden Seiten und eine dichte, fast wollige Behaarung.

So wenig Arten die Familie auch enthält, über einen um so größeren Raum der Erde ist sie verbreitet. Mit alleiniger Ausnahme Neuhollands und seiner Inseln beherbergen alle Erdtheile Hasen. Sie finden sich in allen Klimaten, in Ebenen und Gebirgen, in offenen Feldern und Felsenritzen, auf und unter der Erde, kurz überall, und wo die eine Art aufhört, beginnt eine andere, die Gegend, welche von dieser nicht ausgebeutet wird, besitzt in einer anderen einen zufriedenen Bewohner. Alle nähren sich von weichen, saftigen Pflanzentheilen; doch kann man sagen, daß sie eigentlich nichts verschonen, was sie erlangen können. Sie verzehren die Pflanzen von der Wurzel bis zur Frucht, wenn sie auch die Blätter niederer Kräuter am liebsten genießen. Die meisten leben in beschränktem Grade gesellig und halten sehr treu an dem einmal gewählten oder ihnen zuertheilten Standorte fest. Hier liegen sie den Tag über in einer Vertiefung oder Höhle verborgen, des Nachts dagegen streifen sie umher, um ihrer Nahrung nachzugehen. Sie ruhen, streng genommen, bloß in den Mittagsstunden und laufen, wenn sie sich sicher fühlen, auch morgens und abends bei hellem Sonnenscheine umher. Ihre Bewegungen sind ganz eigenthümlicher Art. Die bekannte Schnelligkeit der Hasen zeigt sich bloß während des vollen Laufes; beim langsamen Gehen bewegen sie sich im höchsten Grade ungeschickt und tölpelhaft, jedenfalls der langen Hinterbeine wegen, welche einen gleichmäßigen Gang erschweren. Doch muß man zugestehen, daß sie mit vielem Geschicke Wendungen aller Art auch im tollsten Laufe machen können und eine Gewandtheit offenbaren, welche man ihnen nicht zutrauen möchte. Das Wasser meiden sie, obwohl sie im Nothfalle über Flüsse setzen. Unter ihren Sinnen steht unzweifelhaft das Gehör oben an: es erreicht hier eine Ausbildung, wie bei wenig anderen Thieren, unter den Nagern unzweifelhaft die größte; der Geruch ist schwächer, doch auch nicht übel, das Gesicht ziemlich gut entwickelt. Die Stimme besteht aus einem dumpfen Knurren, und bei Angst in einem lauten, kläglichen Schreien. Die zur Familie gehörenden Pfeifhasen bethätigen ihren Namen. Unterstützt wird die Stimme, welche man übrigens nur selten hört, durch ein eigenthümliches Aufklappen mit den Hinterbeinen, welches ebensowohl Furcht als Zorn ausdrücken und zur Warnung dienen soll. Ihre geistigen Eigenschaften sind ziemlich widersprechender Art. Im allgemeinen entsprechen die Hasen nicht dem Bilde, welches man sich von ihnen macht. Man nennt sie gutmüthig, friedlich, harmlos und feig; sie beweisen aber, daß sie von alledem auch das Gegentheil sein können. Genaue Beobachter wollen von Gutmüthigkeit [460] nichts wissen, sondern nennen die Hasen geradezu boshaft und unfriedlich im höchsten Grade. Allbekannt ist ihre Furcht, ihre Aufmerksamkeit und Scheuheit, weniger bekannt die List, welche sie sich aneignen und mit zunehmendem Alter auf eine wirklich bewunderungswürdige Höhe steigern. Auch ihre Feigheit ist nicht so arg, als man glaubt. Man thut ihnen jedenfalls Unrecht, wenn man diese Eigenschaft so hervorhebt wie Linné, welcher den Schneehasen für ewige Zeiten mit dem Namen eines Feiglings gebrandmarkt hat. Ein englischer Schriftsteller sagt sehr treffend, daß es kein Wunder ist, wenn die Hasen sich feig zeigen, da jeder Leopard, jeder Tiger und Löwe sein Heil in der Flucht suchen würde, wenn zwanzig, dreißig Hunde und wohlbewaffnete Jäger ihn während seiner Ruhe aufsuchen und mit ähnlichem Blutdurst verfolgen wollten, wie wir die armen Schelme.

Wenn auch die Vermehrung der Hasen nicht so groß wie bei anderen Nagern ist, bleibt sie doch immerhin eine sehr starke, und der alte Ausspruch der Jäger, daß der Hase im Frühjahre selbander zu Felde ziehe und im Herbste zu sechzehn zurückkehre, hat an Orten, wo das Leben unserem Lampe freundlich lacht und die Verfolgung nicht allzu schlimm ist, seinen vollen Werth.


Geripp des Hasen. (Aus dem Berliner anatomischen Museum).
Geripp des Hasen. (Aus dem Berliner anatomischen Museum).

Die meisten Hasen werfen mehrmals im Jahre, manche drei bis sechs, ja, bis elf Junge; fast alle aber behandeln ihre Sprößlinge in einer überaus leichtsinnigen Weise, und daher kommt es, daß so viele von diesen zu Grunde gehen. Außerdem stellt ein ganzes Heer von Feinden dem schmackhaften Wildpret nach, in jedem Erdtheile andere, aber in jedem gleich viele. Für unser Deutschland hat Wildungen die Feinde in einem lustigen Reim zusammengestellt, den ich hiermit als besten Beweis der Menge anführen will:


»Menschen, Hunde, Wölfe, Lüchse,

Katzen, Marder, Wiesel, Füchse,

Adler, Uhu, Raben, Krähen,

Jeder Habicht, den wir sehen,

Elstern auch nicht zu vergessen,

Alles, alles will ihn – fressen.«


Kein Wunder, daß bei einer solchen Masse von Feinden die Hasen sich nicht so vermehren, als es sonst geschehen würde – ein Glück für uns, daß dem so ist; denn sonst würden sie unsere Feldfrüchte rein auffressen. In allen Gegenden, wo sie stark überhand nehmen, werden sie ohnehin zur Landplage.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 460-461.
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