Haselmaus (Muscardinus avellanarius)

[312] In Europa lebt nur eine einzige Art dieser Sippe, die Haselmaus (Muscardinus avellanarius, Mus avellanarius und corilinum, Myoxus avellanarius, speciosus und muscardinus), eines der niedlichsten, anmuthigsten und behendesten Geschöpfe unter allen europäischen Nagethieren, ebenso ausgezeichnet durch zierliche Gestalt und Schönheit der Färbung wie durch Reinlichkeit, Nettigkeit und Sanftheit des Wesens. Das Thierchen ist ungefähr so groß wie unsere Hausmaus: seine Gesammtlänge beträgt 14 Centim., wovon fast die Hälfte auf den Schwanz kommt. Der dichte und anliegende, aus mittellangen, glänzenden und weichen Haaren bestehende Pelz ist gleichmäßig gelblichroth, unten etwas heller, an der Brust und der Kehle weiß, Augengegend und Ohren sind hellröthlich, die Füße roth, die Zehen weißlich, die Oberseite des Schwanzes ist bräunlichroth. Im Winter erhält die Oberseite, namentlich die letzte Hälfte des Schwanzes, einen schwachen, schwärzlichen Anflug. Dies kommt daher, weil das frische Grannenhaar schwärzliche Spitzen hat, welche sich später abnutzen und abschleifen. Junge Thiere sind lebhaft gelblichroth.

Mitteleuropa ist die Heimat der kleinen Haselmaus: Schweden und England scheinen ihre nördlichste, Toskana und die nördliche Türkei ihre südlichste Grenze zu bilden; ostwärts geht sie nicht über Galizien, Ungarn und Siebenbürgen hinaus. Besonders häufig ist sie in Tirol, Kärnten, Steiermark, Böhmen, Schlesien, Slavonien und in dem nördlichen Italien, wie sie überhaupt den Süden in größerer Anzahl bewohnt als den Norden. Ihre Aufenthaltsorte sind fast dieselben wie die ihrer Verwandten, und auch ihre Lebensweise erinnert lebhaft an die beschriebenen Schläfer. Sie gehört ebensogut der Ebene wie dem Gebirge an, geht aber in letzterem nicht über den Laubholzgürtel nach oben, steigt also höchstens zwei tausend Meter über das Meer empor. Niederes Gebüsch und Hecken, am allerliebsten Haselnußdickichte, bilden ihre bevorzugten Wohnsitze.

Bei Tage liegt die Haselmaus irgendwo verborgen und schläft, nachts geht sie ihrer Nahrung nach. Nüsse, Eicheln, harte Samen, saftige Früchte, Beeren und Baumknospen bilden diese; am liebsten aber verzehrt sie Haselnüsse, welche sie kunstreich öffnet und entleert, ohne sie abzupflücken oder aus der Hülse zu sprengen. Auch den Beeren der Eberesche geht sie nach und wird deshalb nicht selten in Dohnen gefangen. Sie lebt in kleinen, nicht gerade innig verbundenen Gesellschaften. Jede einzelne oder ihrer zwei zusammen bauen sich in recht dichten Gebüschen ein weiches, [312] warmes, ziemlich künstliches Nest aus Gras, Blättern, Moos, Würzelchen und Haaren, und durchstreifen von hier aus nächtlich ihr Gebiet, fast immer gemeinschaftlich mit anderen, welche in der Nähe wohnen. Als echte Baumthiere klettern sie wundervoll selbst im dünnsten Gezweige herum, nicht bloß nach Art der Eichhörnchen und anderer Schläfer, sondern auch nach Art der Affen; denn oft kommt es vor, daß sie sich mit ihren Hinterbeinen an einem Zweige aufhängen, um eine tiefer hängende Nuß zu erlangen und zu bearbeiten, und ebenso häufig sieht man sie gerade so sicher auf der oberen wie an der unteren Seite der Aeste hinlaufen, ganz in der Weise jener Waldseiltänzer des Südens. Selbst auf ebenem Boden sind sie noch recht hurtig, wenn sie auch sobald als möglich ihr luftiges Gebiet wieder aufsuchen. Ihre Fortpflanzungszeit fällt erst in den Hochsommer; selten paaren sich die Geschlechter vor dem Juli. Nach ungefähr vierwöchentlicher Tragzeit, also im August, wirft das Weibchen drei bis vier nackte, blinde Junge in sein kugelförmiges, sehr zierlich und künstlich aus Moos und Gras erbautes, innen mit Thierhaaren ausgekleidetes Sommernest, welches regelmäßig im dichtesten Gebüsche und etwa meterhoch über dem Boden zu stehen pflegt. Die Kinderchen wachsen außerordentlich schnell, saugen aber doch einen vollen Monat an der Alten, wenn sie auch inzwischen schon so groß geworden sind, daß sie ab und zu das Nest verlassen können. Anfangs treibt sich die Familie auf den nächsten Haselsträuchern umher, spielt vergnüglich und sucht dabei Nüsse.


Haselmaus (Muscardinus avellanarius). Natürliche Größe.
Haselmaus (Muscardinus avellanarius). Natürliche Größe.

Bei dem geringsten Geräusche eilt alles nach dem Neste zurück, dort Schutz zu suchen. Noch ehe die Zeit kommt, wo sie Abschied nehmen von den Freuden des Lichtes, um sich in ihre Winterlöcher zurückzuziehen, sind die Kleinen bereits fast so fett geworden wie ihre Eltern. Um die Mitte des Oktober ziehen sie sich wie letztere in den Schlupfwinkel zurück, wo sie den Wintervorrath eingesammelt, und bereiten sich aus Reisern, Laub, Nadeln, Moos und Gras eine kugelige Hülle, in welche sie sich gänzlich einwickeln, rollen sich zum Knäuel zusammen und fallen in Schlaf, tiefer noch als ihre Verwandten; denn man kann sie in die Hand nehmen und in derselben herumkugeln, ohne daß sie irgend ein Zeichen des Lebens von sich geben. Je nach der Milde oder Strenge des Winters durchschlafen sie nun ihre sechs bis sieben Monate, mehr oder weniger unterbrochen, bis die schöne, warme Frühlingssonne sie zu neuem Leben wach ruft.

[313] Es hält schwer, eine Haselmaus zu bekommen, so lange sie vollkommen munter ist, und wohl nur zufällig erlangt man sie in dieser oder jener Falle, welche man an ihren Lieblingsorten aufstellte und mit Nüssen oder anderer Nahrung köderte. Häufiger erhält man sie im Spätherbste oder Winter beim Laubrechen und Stöckeroden. Entweder frei unter dürren Blättern oder in ihrem Neste liegend und winterschlafend, werden sie mit dem Werkzeuge an das Tageslicht geschleudert und verrathen sich durch einen feinen, piependen Laut dem einigermaßen achtsamen Arbeiter, welcher sie, wenn er sie kennt, dicht in Moos einhüllt, mit sich nach Hause nimmt und bis auf weiteres einbauert oder einem Thierfreunde überliefert. Hält dieser sie einmal in der Hand, so hat er sie auch schon so gut als gezähmt. Niemals wagt sie, sich gegen ihren Bewältiger zur Wehre zu setzen, niemals versucht sie, zu beißen; in der höchsten Angst gibt sie bloß einen quietschenden oder hellzischenden Laut von sich. Bald aber fügt sie sich in das Unvermeidliche, läßt sich ruhig in das Haus tragen und ordnet sich ganz und gar dem Willen des Menschen unter, verliert auch ihre Scheu, doch nicht ihre angeborene Schüchternheit und Furchtsamkeit. Man ernährt sie mit Nüssen, Obstkernen, Obst und Brod, auch wohl Weizenkörnern. Sie frißt sparsam und bescheiden, anfangs bloß des Nachts, und trinkt weder Wasser noch Milch. Ihre überaus große Reinlichkeit und die Liebenswürdigkeit und Verträglichkeit, welche sie gegen ihres Gleichen zeigt, die hübschen Bewegungen und lustigen Geberden machen sie zum wahren Lieblinge des Menschen. In England wird sie als Stubenthier in gewöhnlichen Vogelbauern gehalten und ebenso wie Stubenvögel zum Markte gebracht. Man kann sie in dem feinsten Zimmer halten; denn sie verbreitet durchaus keinen Gestank und gibt nur im Sommer einen bisamähnlichen Geruch von sich, welcher aber so schwach ist, daß er nicht lästig fällt.

Auch in der Gefangenschaft hält die Haselmaus ihren Winterschlaf, wenn die Oertlichkeit eine solche ist, welche nicht immer gleichmäßig warm gehalten werden kann. Sie versucht dann, sich ein Nestchen zu bauen, und hüllt sich in dieses oder schläft in irgend einer Ecke ihres Käfigs. Bringt man sie wieder in die Wärme, z.B. zwischen die warme Hand, so erwacht sie, bald aber schläft sie wieder ein. Dr. F. Schlegel hat längere Zeit Haselmäuse beobachtet, um den Winterschlaf zu studiren. Er pflegte das schlafende Thierchen oft auf einen kleinen, eigens gebauten Lehnstuhl zu setzen, in welchem es sich dann überaus komisch ausnahm. »Da sitzt sie«, schreibt er mir, »gemächlich in den Armstuhl gelehnt, eine Pelzkugel, den Kopf auf die Hinterfüße gestützt, den Schwanz seitwärts über das Gesicht gekrümmt, mit dem Ausdrucke des tiefsten Schlafes im Gesichte, die Mundwinkel krampfhaft auf- und eingezogen, so daß die langen Bartborsten, sonst fächerförmig ausstrahlend, wie ein langhaariger Pinsel über die Wangen hinauf-und hinausragen. Zwischen den festgeschlossenen Augen und dem Mundwinkel wölbt sich die eingeklemmte Wange hervor; die zur Faust geballten Zehen der Hinterfüße drücken im tiefsten Schlafe so fest auf die Wange, daß die Stelle mit der Zeit zum kahlen Flecke wird. Ebenso drollig wie dieses Bild des Schlafes erscheint das erwachende Thier. Nimmt man es in die hohle Hand, so macht sich die von da überströmende Wärme gar bald bemerklich. Die Pelzkugel regt sich, beginnt erkennbar zu athmen, reckt und streckt sich, die Hinterfüße rutschen von der Wange herunter, die Zehen der eingezogenen Vorderfüße kommen unter dem Kinne tief aus dem Pelze heraus zum Vorscheine, und der Schwanz gleitet langsam über den Leib herab. Und dabei läßt sie Töne hören wie Pfeifen oder Piepen, feiner noch und durchdringender als die der Spitzmäuse. Sie zwinkert und blinzelt mit den Augen, das eine thut sich auf, aber wie geblendet kneift es der Langschläfer schnell wieder zu. Das Leben kämpft mit dem Schlafe, doch Licht und Wärme siegen. Noch einmal lugt das eine der schwarzen Perlenaugen scheu und vorsichtig aus der schmalen Spalte der kaum geöffneten und nach den Winkeln hin geradezu verklebten Lider hervor. Der Tag lächelt ihm freundlich zu. Das Athmen wird immer schneller und immer tiefer. Noch ist das Gesichtchen in verdrießliche Falten gelegt; doch mehr und mehr macht sich das behagliche Gefühl der Wärme und des rückkehrenden Lebens geltend. Die Furchen glätten, die Wange verstreicht, die Schnurren senken sich und strahlen [314] auseinander. Da auf einmal, nach langem Zwinkern und Blinzeln, entwindet sich auch das andere Auge dem Todtenschlafe, der es umnachtete, und trunken noch staunt das Thierchen behaglich in den Tag hinaus. Endlich ermannt es sich und sucht ein Nüßchen zur Entschädigung für die lange Fastenzeit. Bald ist das Versäumte nachgeholt, und die Haselmaus ist – munter? nein, immer noch wie träumend mit den Freuden des nahenden Frühlings beschäftigt, und bald genug gewahrt sie ihren Irrthum, sucht ihr Lager wieder auf und schläft ein von neuem, fester und fester zur Kugel sich zusammenrollend.«

Schlegel scheint die Fettbildung, welche sich bei den Winterschläfern in so auffallender Weise zeigt, einzig und allein auf Rechnung der verringerten Athmung und bezüglich Zufuhr des die Verbrennung befördernden Sauerstoffes zu schieben, und nimmt deshalb an, daß die Haselmäuse und alle übrigen Schläfer erst dann die größte Masse von Fett erlangen, wenn sie schon eine geraume Zeit geschlafen haben. »Das Fett,« sagt er, »weit entfernt, Ursache des Schlafes zu sein, scheint vielmehr erst in Folge des Winterschlafes zu entstehen, und zwar ganz nach Art der eigentlichen Fettsucht beim Menschen. Letztere wird bedingt durch mangelhafte Verwendung des im Blute enthaltenen Fettes zum Neubau (Stoffwechsel) des Körpers und mangelhafte Entfernung (Verbrennung) desselben mittels der Lungen, von denen es, mit dem eingeathmeten Sauerstoffe der Luft chemisch verbunden, als Kohlensäure und Wasser ausgeschieden werden soll. Dieser Fall tritt ein bei phlegmatischem Temperament, Mangel der Bewegung, übertriebener Schlaf- und verminderter Athmungsthätigkeit, und denselben Fall haben wir bei winterschlafenden Thieren. Der Stoffwechsel ist vermindert, vor allem aber die Sauerstoffaufnahme durch Athmen ganz unmerklich. Dies scheint die einfachste wissenschaftliche Erklärung des Fettwerdens der Winterschläfer. Die Wägung winterschlafender Thiere zeigt allerdings eine allmähliche Gewichtsabnahme; merkwürdigerweise aber fanden Professor Saci und Valentin an schlafenden Murmelthieren gerade zur Zeit des tiefsten Schlafes eine nicht unbedeutende Gewichtszunahme, während, wenn das Thier, wie man von allen Winterschläfern glaubt, von seinem Fette zehrte, gerade im tiefsten Schlafe, beim vollständigsten Mangel von Nahrungszufuhr also, die merkwürdigste Gewichtsabnahme zu erwarten sein sollte.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 312-315.
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