Siebente Ordnung: Die Zahnarmen[484] (Edentata)

Die Blütezeit der Säugethiere, welche die zu schildernde Ordnung bilden, ist vorüber. In der Vorzeit lebten in Brasilien Zahnarme von der Größe eines Nashorns und darüber; heutzutage kommen die größten lebenden Mitglieder der Ordnung höchstens einem starken Wolfe an Größe gleich. Unter den ausgestorbenen Arten befanden sich Bindeglieder zwischen den noch vertretenen Familien; gegenwärtig scheinen diese durch eine weite Kluft getrennt zu sein. Und wie jenen naht auch einzelnen von den noch lebenden Arten das Verhängnis, vernichtet zu werden: ihre Tage sind gezählt.

Von der Uebereinstimmung anderer Ordnungen ist bei den Zahnarmen wenig zu bemerken. Die auffallende Zahnarmuth, welche in größerer oder geringerer Ausdehnung bei allen hierher zu rechnenden Thieren sich geltend macht, bleibt noch das wichtigste Kennzeichen, welches sie vor den übrigen Säugern auszeichnet. Man findet unter den Zahnarmen Säuger, auf welche der Name in seiner vollen Bedeutung paßt, da sie auch nicht eine Spur von Zähnen zeigen, und alle übrigen, welche wirklich Zähne haben, entbehren doch der Schneide- und Eckzähne: ihr ganzes Gebiß besteht demnach bloß aus einfachen Backenzähnen. Es kommen zwar Zähne vor, welche wir Schneidezähne nennen möchten, weil sie im Zwischenkiefer stehen; allein sie stimmen in Gestalt und Bildung so vollkommen mit den Backenzähnen überein, daß wir den Ausdruck doch nicht in voller Gültigkeit brauchen können. Die Eckzähne, welche äußerst selten vorhanden sind, unterscheiden sich ebenfalls durch nichts weiter als durch ihre bedeutende Länge von den Backenzähnen, und diese selbst haben einfache cylindrische oder prismatische Gestalt und sind durch Lücken von einander getrennt. Sie bestehen bloß aus Zahnstoff und Cement ohne allen Schmelz, werden nur einmal erzeugt und wechseln nicht; es vereinigen sich sogar mehrere Stücke zu einem Zahne. Das untere Ende ist nicht wurzelartig geschlossen, sondern wird von einer Höhle eingenommen, in welcher sich eine das Nachwachsen vermittelnde Masse befindet. Die Anzahl der Zähne, falls solche überhaupt vorhanden sind, ändert nicht allein bei den Familien, sondern auch bei den verschiedenen Arten einer Hauptgruppe erheblich ab; einige haben nur zwanzig, andere gegen hundert Zähne.

Im Gegensatze zu dem Gebisse sind bei unseren Thieren die Nägel in eigenthümlicher Weise entwickelt. Selten haben die Zehen vollkommene Bewegung, aber immer tragen sie Nägel, welche das Ende ganz umfassen und schon aus diesem Grunde wesentlich von den Krallen der eigentlichen Nagelthiere sich unterscheiden. Sie sind entweder von bedeutender Länge, stark gekrümmt und seitlich zusammengedrückt oder kürzer, breit, fast schaufelförmig, in jenem Falle geeignet zum Klettern, in diesem zum Graben und Scharren.

[484] Mit diesen beiden Angaben haben wir die allgemeine Kennzeichnung erschöpft; denn der übrige Leibesbau zeigt bei den Zahnarmen die größte Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit. Kopf und Schwanz, die Gliedmaßen und der Leib spielen zwischen den beiden äußersten. Bei den einen ist der Kopf verkürzt, bei den anderen verlängert, bei diesen so hoch wie lang, bei jenen walzenförmig, bei manchen der Schwanz stummelartig, bei anderen so entwickelt, daß er die meisten Wirbel in der ganzen Klasse (nämlich sechsundvierzig) zählt. Nicht minder verschieden ist das Geripp. Den Kinnladen fehlt der Zwischenkiefer vollständig, oder sie bilden sich zu einem wahren Vogelschnabel um. Die Halswirbel vermindern sich bis auf sechs und steigen bis auf neun oder zehn; die Kreuzwirbel verwachsen mit dem Becken. Am vorderen Eingange des Brustkastens finden sich falsche Rippen, wie überhaupt die Anzahl der rippentragenden Wirbel auffallend groß erscheint. Das Schlüsselbein ist doppelt. Einzelne Leisten und Fortsetzungen an den Gliedmaßenknochen entwickeln sich in außergewöhnlicher Weise, die Zehenglieder verringern sich usw. Das ganze Geripp deutet durch seine kräftigen, plumpen Theile auf langsame, unbeholfene Bewegungen. Die Bekleidung des Leibes spielt in den äußersten Grenzen der Verschiedenheit, welche die Säugethierbekleidung überhaupt aufweisen kann. Die einen tragen einen dichten, weichen Pelz, die anderen ein struppiges, trockenes Haarkleid, diese sind mit Stacheln, jene mit Schuppen bedeckt, und einige endlich hüllen sich in große und feste Panzerschilder, wie sie sonst in der ersten Klasse nicht wieder vorkommen. Auch die Verdauungswerkzeuge, das Gefäßsystem und die Fortpflanzungswerkzeuge fallen auf. Die Speicheldrüsen sind sehr entwickelt; es findet sich ein vogelartiger Kropf in der Speiseröhre; der Magen ist ähnlich getheilt wie der der Wiederkäuer usw. In dem Gefäßsystem machen sich sogenannte Wundernetze, d.h. Zerspaltungen einiger Hauptschlagaderstämme besonders bemerklich; die Fortpflanzungswerkzeuge liegen, bei einigen wenigstens, vollkommen versteckt, d.h. wie bei den Vögeln in dem Mastdarme.

Alle Zahnarmen waren und sind Bewohner der Wendekreisländer der Alten und Neuen Welt, besonders aber in dieser verbreitet. Afrika und Asien beherbergen wenige Arten; Südamerika zeigt ungleich größere Mannigfaltigkeit. Dort finden sich nur zwei Sippen vertreten, hier alle Familien, einschließlich der bereits ausgestorbenen Arten, welche man zum Theil in einer besonderen Familie vereinigt hat. Die jetzt lebenden wie die ausgestorbenen unterscheiden sich, entsprechend ihrem verschiedenen Leibesbau, auch in der Lebensweise sehr wesentlich. Einige leben nur auf Bäumen, die Mehrzahl dagegen auf dem Boden, in unterirdischen Bauen sich bergend und nachts ihrer Nahrung nachgehend; jene sind Kletterer, diese Gräber, jene größtentheils Blatt- und Fruchtfresser, diese hauptsächlich Kerbthierjäger im eigentlichen Sinne des Wortes. Stumpfgeistig scheinen alle zu sein und auch in dieser Beziehung die niedere Stellung zu verdienen, welche man ihnen unter den Krallenthieren zuerkannt hat. Alles übrige mag aus dem nachfolgenden hervorgehen; eine allgemeine Lebensschilderung erscheint unthunlich.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 484-485.
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