Grislibär (Ursus cinereus)

[170] Der nächste Verwandte des Landbären ist der über ganz Nordwestamerika verbreitete Grau- oder Grislibär (Ursus cinereus, U. ferox, griseus, horribilis und canadensis). Im Leibesbau und Aussehen ähnelt er unserem Bären, ist aber größer, schwerer, plumper und stärker als dieser. Dunkelbraune, an der Spitze blasse Haare, welche an den Schultern, der Kehle und dem Bauche, überhaupt am ganzen Rumpfe länger, zottiger und verworrener als bei den Landbären [170] sind, hüllen den Leib ein, kurze und sehr blasse bekleiden den Kopf. Die Iris ist röthlichbraun. Lichtgraue und schwärzlichbraune Spielarten kommen ebenfalls vor. Von den europäischen Bären unterscheidet sich das Thier sicher durch die Kürze seines Schädels und durch die Wölbung der Nasenbeine, die breite, flache Stirn, die Kürze der Ohren und des Schwanzes, und vor allem durch die riesigen, bis 13 Centimeter langen, sehr stark gekrümmten, nach der Spitze zu wenig verschmälerten, weißlichen Nägel. Auch die bedeutende Größe ist ein Merkmal, welches Verwechselungen zwischen den beiden Arten nicht leicht zuläßt; denn während unser Bär nur in seltenen Fällen 2,2 Meter an Länge erreicht, wird der graue Bär oder, wie ihn die Jäger scherzhafterweise nennen, der »Ephraim«, regelmäßig 2,3, nicht selten sogar 2,5 Meter lang und erreicht ein Gewicht von 7 bis 9 Centnern.


Grau oder Grislibär (Ursus cinereus). 1/18 natürl. Größe.
Grau oder Grislibär (Ursus cinereus). 1/18 natürl. Größe.

In seiner Lebensweise ähnelt der Graubär so ziemlich dem unseren; sein Gang ist jedoch schwankender oder wiegender, und alle seine Bewegungen sind plumper. Nur in der Jugend soll er im Stande sein, Bäume zu ersteigen und von dieser Fähigkeit Gebrauch machen, um Eicheln, sein Lieblingsfutter, abzustreifen, im Alter dagegen solche Künste nicht mehr auszuführen vermögen: wenigstens wollen sich mehr als einmal die von ihm gefährdeten Jäger durch rasches Ersteigen [171] von Bäumen gerettet und dabei bemerkt haben, daß er trotz der höchsten Wuth niemals gewagt hat, sie dahin zu verfolgen. Dagegen schwimmt er mit Leichtigkeit selbst über breite Ströme und verfolgt im Zorne auch im Wasser seinen Feind. Er soll ein furchtbarer Räuber und mehr als stark genug sein, jedes Geschöpf seiner Heimat zu bewältigen. Sogar der starke Bison, dessen Vetter Wisent unser Bär behuthsam aus dem Wege geht, soll ihm zur Beute fallen, und von ihm abwärts jedes Säugethier. Vor dem Menschen soll er keine Furcht zeigen. Seine Sippschaftsverwandten, sagen die Amerikaner, weichen, von angeborenem Gefühle getrieben, dem Herrn der Erde aus und greifen ihn bloß dann an, wenn sie der rasende Zorn oder der Drang nach Rache übermannt; nicht so der graue Bär. Er geht ohne weiteres auf den Menschen los, sei er zu Pferde oder zu Fuß, bewaffnet oder nicht, habe er ihn beleidigt oder gar nicht daran gedacht, ihn zu kränken. Und wehe dem, welcher sich nicht noch rechtzeitig vor ihm flüchtet oder, wenn er ein ganzer Mann ist, im rechten Augenblicke eine tödtende Kugel ihm zusenden kann! Der rasende Bär umarmt ihn, sobald er ihn eingeholt hat, und zerpreßt ihm die Rippen im Leibe oder zerreißt ihm mit einem einzigen Tatzenschlage den ganzen Leib. Palliser, welcher glücklich genug war, fünf von diesen furchtbaren Geschöpfen zu tödten, ohne mit ihren Zähnen und Klauen Bekanntschaft zu machen, bestätigt die Erzählung der Indianer von der Wuth dieser Thiere und gibt eine Beschreibung der gefährlichen Jagden, von denen schließlich eine regelmäßig den Tod des Jägers herbeiführt; denn die Lebenszähigkeit des Ungeheuers ist ebenso groß wie seine Kraft, und jede nicht augenblicklich tödtende Wunde, welche es erhält, für den Jäger weit gefährlicher als für das Raubthier.

Aus allen diesen Gründen erringt der Jäger, welcher sich erwiesenermaßen Ephraim gemessen hat, die Bewunderung und Hochschätzung aller Männer, welche von ihm hören, der Weißen ebensowohl wie der Indianer, von denen die Erlegung des Bären geradezu als das erste Manneswerk gepriesen wird. Unter allen Stämmen der Rothhäute im Norden Amerikas verleiht der Besitz eines Halsbandes aus Bärenklauen und Zähnen seinem Träger eine Hochachtung, wie sie bei uns kaum ein Fürst oder siegreicher Feldherr genießen kann. Nur derjenige Wilde darf die Bärenkette tragen, welcher sie sich selbst und durch eigene Kraft erworben. Selbst mit dem sonst so tief gehaßten Weißen befreundet sich der Indianer, wenn er gewißlich weiß, daß das Bleichgesicht ruhmvoll einen Kampf mit dem gewaltigen Urfeinde bestanden hat. Auch die Leiche des von Rothhäuten getödteten Bären wird mit der größten Ehrfurcht behandelt; denn sie sehen in dem gewaltigen Geschöpfe kein gemeines, gewöhnliches Thier, sondern vielmehr ein gleichsam übernatürliches Wesen, dessen entseeltem Leibe sie noch die nöthige Ehre geben zu müssen glauben.

Berichtet wird, daß das Ungeheuer, welches auf den Menschen, den es sieht, dreist losgeht, um ihn zu vernichten, vor der Witterung desselben augenblicklich die Flucht ergreift. Dies wird als Thatsache von den meisten Jägern behauptet, und man kennt Beispiele, wo ein unbewaffneter Mann diese unerklärliche Furchtsamkeit des Bären benutzte und ihm dadurch entrann, daß er nach einem Orte hinlief, von welchem aus der Luftzug dem Bären seine Witterung zuführen mußte. Sobald der Bär den fremdartigen Geruch verspürte, hielt er an, setzte sich auf die Hinterbeine, stutzte und machte sich endlich furchtsam auf und davon. In ebendemselben Grade, wie er die Witterung des Menschen scheut, fürchten alle Thiere die seinige. Die Hausthiere geberden sich genau so, wie wenn ihnen die Ausdünstung von einem Löwen oder Tiger wahrnehmbar wird, und selbst das todte Thier, ja bloß sein Fell stößt ihnen noch gewaltigen Schreck ein. Einzelne Jäger behaupten, daß auch die sonst so gefräßigen Hundearten Amerikas, welche so leicht keine andere Leiche verschonen, ihre Achtung vor dem Bären bezeigen und seinen Leichnam unangetastet lassen.

Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich annehme, daß alle diese Angaben zum guten Theile übertrieben sind. Der Grislibär wird sich, so darf ich glauben, wohl in jeder Beziehung entsprechenden Falls ebenso benehmen wie sein europäischer Verwandter, also in der Regel ebenso feig und, wenn unbedingt nöthig, ebenso muthig benehmen wie dieser, ihn aber schwerlich erheblich überbieten.

[172] In jüngeren Jahren ist auch der Grislibär ein gemüthliches Thier. Sein Fell ist, trotz seiner Länge und Dicke, so fein und so schmuck von Farbe, daß es den kleinen Gesellen sehr ziert. Wenn man einen jungen Graubären einfängt, kann er leidlich gezähmt werden. Palliser, welcher einen Grislibär mit nach Europa gebracht hatte, rühmt seinen Gefangenen sehr. Er aß, trank und spielte mit den Matrosen und erheiterte alle Reisende, so daß der Kapitän des Schiffes später unserem Jäger versicherte, er würde sehr erfreut sein, wenn er für jede Reise einen jungen Bären bekommen könnte. »Eines Tages«, erzählt dieser Gewährsmann, »trieb ein Regenschauer alle Reisenden einschließlich des Bären unter Deck. Da wurde meine Aufmerksamkeit durch ein lautes Gelächter auf dem Deck rege. Als ich nach oben eilte, sah ich, daß der Bär die Ursache desselben war. Er hatte sich aus dem geschlossenen Raume durch Zerbrechen seiner Kette befreit und war weggegangen. Immer noch konnte ich mir die Ursache des Gelächters nicht erklären. Die Leute standen um die Kajüte des Steuermannes herum und beschäftigen sich mit einem Gegenstande, welcher auf des Steuermannes Bett lag und sich sorgfältig in die Laken gehüllt hatte. Ihre Scherze wurden plötzlich mit einem unwilligen Geheule beantwortet, und siehe da, mein Freund Ephraim war es, welcher, ärgerlich über den Regen, sich losgemacht, zufällig den Weg nach des Steuermannes Bett gefunden, dasselbe bestiegen und sich dort höchst sorgsam in die Decken gehüllt hatte. Der gut gelaunte Steuermann war nicht im geringsten erzürnt darüber, sondern im Gegentheile auf das äußerste erfreut.«

Dasselbe Thier hatte eine merkwürdige Freundschaft mit einer kleinen Antilope eingegangen, welche ein Reisengenosse von ihm war, und vertheidigte sie bei einer Gelegenheit in der ritterlichsten Weise. Als die Antilope vom Schiffe aus durch die Straße geführt wurde, kam ein gewaltiger Bulldogg auf sie zugestürzt und ergriff sie, ohne sich im geringsten um die Zurufe und Stockschläge der Führer zu kümmern, in der Absicht, sie zu zerreißen. Zum Glück ging Palliser mit seinem Bären denselben Weg, und kaum hatte letzterer gesehen, was vorging, als er sich mit einem Rucke befreite und im nächsten Augenblicke den Feind seiner Freundin am Kragen hatte. Ein wüthender Streit entspann sich; der Bär machte anfangs keinen Gebrauch von seinen Zähnen oder Krallen und begnügte sich mit einer Umarmung des Bullenbeißer, nach welcher er ihn mit Macht zu Boden schleuderte. Der Hund, darüber wüthend und durch den Zuruf seines Herrn noch mehr angeregt, glaubte, es nur mit einem ziemlich harmlosen Gegner zu thun zu haben, und versetzte dem Bären einen ziemlich starken Biß. Doch hatte er sich in seinem Gegner getäuscht. Durch den Schmerz wüthend gemacht, verlor Ephraim seinen Gleichmuth und faßte den Hund nochmals mit solcher Zärtlichkeit zwischen seine Arme, daß er ihn beinahe erdrosselte. Zum Glücke konnte sich der Bullenbeißer noch freimachen, ehe der Bär seine Zähne an ihm versuchte, hatte aber alle Lust zu fernerem Kampfe verloren und entfloh mit kläglichem Heulen, dem Bären das Feld überlassend, welcher seinerseits nun, höchlich befriedigt über den seiner Freundin gegebenen Schutz, weiter tappte.

In der Neuzeit sind Grislibären öfters zu uns gebracht worden. Die gefangenen unterscheiden sich in ihrem Wesen und Betragen nicht merkbar von ihrem europäischen Verwandten. In dem Londoner Thiergarten befinden sich zwei von ihnen, welche auch einmal in der Thierheilkunde eine große Rolle spielten. Sie wurden in ihrer Jugend von einer heftigen Augenentzündung befallen, welche ihnen vollkommene Blindheit zurückließ. Aus Mitleid ebensowohl als auch, um die Wirkungen des Chloroforms bei ihnen zu erproben, beschloß man, ihnen den Staar zu stechen. Nachdem man beide Kranken von einander getrennt hatte, legten die Wärter jedem derselben ein starkes Halsband an und zogen an Stricken den Kopf des Riesenbären dicht an das Gitter heran, um ihm ohne Furcht den mit Chloroform getränkten Schwamm unter die Nase halten zu können. Die Wirkung war eine unverhältnismäßig rasche und sichere. Nach wenigen Minuten schon lag das gewaltige Thier ohne Besinnung wie todt in seinem Käfige, und der Augenarzt konnte jetzt getrost in denselben eintreten, das furchtbare Haupt nach Belieben zurecht legen und sein Werk verrichten. Als man eben die Verdunkelung des Käfigs bewirkt hatte, erwachte das Thier, taumelte noch wie betrunken hin und her und schien um so unsicherer zu werden, [173] je mehr es zu Besinnung kam. Mit der Zeit aber schien es zu bemerken, was mit ihm während seines Todtenschlafes geschehen war, und als man es nach wenigen Tagen wieder untersuchte, war es sich seiner wiedererlangten Sehfähigkeit bewußt geworden und schien sich jetzt sichtlich an dem Lichte des Tages zu erfreuen oder wenigstens den Gegensatz zwischen der früheren dauernden Nacht und dem jetzigen hellen Tage zu erkennen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 170-174.
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