Graufuchs (Canis cinereo-argentatus)

[673] Als treues Spiegelbild Reineke's darf der Grau- oder Silberfuchs (Canis cinereo-argentatus, C. griseus, C., Vulpes, Urocyon virginianus) angesehen werden, obgleich nicht er, sondern eine zweite Art Nordamerika's sein westlicher Vertreter zu sein scheint. Der Graufuchs unterscheidet sich von unserem Fuchse durch etwas höhere Läufe und verhältnismäßig kürzeren Schwanz, erreicht auch kaum die Größe des Verwandten. Seine Länge beträgt 1,05 bis 1,1 Meter, wovon ungefähr 40 Centim. auf den Schwanz gerechnet werden müssen, die Höhe am Widerrist etwa 30 Centim. Ein eigenthümlich gesprenkeltes Grau, welches Stirn, Scheitel, Hinterbacken, Nacken und die ganze Oberseite deckt und aus Schwarz und Silbergrau zusammengesetzt wird, bildet die vorherrschende Färbung. Die einzelnen Haare sind an der Wurzel weiß, übrigens schwarz, vor der Spitze breit weiß geringelt. Wangen und Kehle haben gelblichweiße, Ohren und Halsseiten graugelbliche, Unter- und Innenseite hellrostgelbe oder gelblichweiße Färbung; ein Brustband ist dunkler; ein schwarzer Streif zeichnet die Vorderläufe; der Schwanz endlich ist oberseits schwarz, unterseits rostroth, an der Spitze grau.

Nach Audubon sind es mehr die südlichen als die nördlichen Staaten Nordamerika's, welche den Graufuchs beherbergen; nördlich von Maine scheint er nicht mehr vorzukommen. In Neuengland und Canada ist er selten, in Pennsylvanien und Neujersey ungefähr ebenso häufig wie der Rothfuchs, in den südlichen Staaten dagegen, die Gebirge von Virginien aus genommen, die einzige [673] dort vorkommende Art und zumal in Florida, Mississippi und Louisiana ungemein häufig. Nach Westen hin verbreitet er sich bis Kalifornien.

Es läßt sich schwer sagen, in welcher Hinsicht der Graufuchs von Reineke und seiner Sippschaft im engsten Sinne des Wortes sich unterscheidet. Die mir bekannten Schilderungen, unter denen die ausführliche Darstellung Audubons obenan steht, gleichen einer Lebensbeschreibung unseres Fuchses wie ein Ei dem anderen. Ungeachtet seiner höheren Beine soll der Graufuchs nicht so schnell und ausdauernd laufen können wie der letztgenannte oder der amerikanische Roth- und zumal der Schnellfuchs; im übrigen aber dürfte er sich in seinem Auftreten von dem Verwandten kaum wesentlich unterscheiden. Schwer zu begehende oder großen Raubthieren undurchdringliche Dickichte und Felsgeklüft mit Höhlungen und Spalten bilden seine Wohnsitze, die Umgebung seiner Aufenthaltsorte vom Meeresstrande an bis zu dem Gehöfte des Bauern sein Jagdgebiet. Ob er mit größerer Vorliebe als Reineke und der Rothfuchs dem Sumpfgeflügel nachstellt und seltener als diese in Hühnerställe einbricht, lasse ich dahingestellt sein. Audubon versichert, daß er zwar weit furchtsamer und scheuer wäre als der Rothfuchs und nicht allein durch das Anschlagen eines Hundes, sondern schon durch das Knacken eines Zweiges in eilige Flucht geschreckt würde, daß man auch von räuberischen Ueberfällen geschützter Geflügelgehege oder gar der Schafherden wenig oder nichts vernehme, bemerkt aber ausdrücklich, daß unser Thier im Süden ebenso gehaßt und verfolgt werde wie der Rothfuchs im Norden.


Grau- oder Silberfuchs (Canis cinereo-argentatus). 1/8 natürl. Größe.
Grau- oder Silberfuchs (Canis cinereo-argentatus). 1/8 natürl. Größe.

Der letztere, meint unser Gewährsmann, läßt sich mit einem listigen und kühnen Räuber, der erstere mit einem stehlenden Diebe vergleichen; doch sind die Weibchen beider Arten, wenn sie Junge haben, von derselben Dreistigkeit beseelt. Wie Reineke, stellt auch der Graufuchs mit Vorliebe Mäusen und Ratten, insbesondere der Wiesenmaus und der Baumwollratte nach, ohne irgend etwas anderes genießbares zu verschmähen. Audubon schildert in sehr anschaulicher Weise, wie das Thier, einem trefflichen Spürhunde vergleichbar, mit sorgfältigster Benutzung des Windes an eine Kette von Baumwachteln sich anschleicht und glücklich einen der Vögel davonträgt. »An einem kalten regnerischen Reisetage«, so erzählt er, »bemerkten wir einen Graufuchs, welcher in der Art und Weise eines Vorstehhundes ausging. Gegen den Wind, durch das hohe Gras schleichend, [674] stand er plötzlich still und ließ sich auf seine Keulen nieder. Einen Augenblick später erhob er sich wieder und schlich mit langsamen und vorsichtigen Schritten vorwärts, seine Nase dann und wann hoch in die Luft erhebend und von einer Seite zur anderen bewegend. Zuletzt schien er sich seiner Beute versichert zu haben und bewegte sich in gerader Richtung, jedoch noch immer sehr behutsam, zeitweilig auf der Erde kriechend, vorwärts, kam uns dabei auch dann und wann aus den Augen, bis wir ihn endlich wieder bemerkten, als er den letzten Halt machte. Von einem Bewegen der Lunte, wie man es bei der Hauskatze beobachtet, bemerkten wir nichts; die Ohren waren niedergebeugt, der Kopf wurde nur wenige Zoll über dem Boden erhoben: so verblieb er ungefähr eine halbe Minute, und nun erst sprang er mit gewaltigem Satze auf seine Beute. Das Schwirren einer aufstehenden Kette von Baumwachteln und zwei oder drei scharfe, kreischende Laute wurden vernommen, und der vom Erfolge begünstigte Räuber zeigte sich kurz darauf mit einer Baumwachtel im Maule. Wir hatten ein Gewehr bei uns und wären wohl im Stande gewesen, ihn zu erlegen, aber wozu? Er hatte uns gezeigt, daß er nicht allein zu dem Hunde gehört, sondern es auch einem trefflichen Vorstehhunde gleichthun kann, hatte sich außerdem in einer rechtlichen Weise ernährt: warum ihn also tödten?« Etwas weniger mild gestimmt wird man, wenn man die von ihm geplünderten Nester des Truthahns und anderer nützlicher Vögel auffindet oder an eine Stelle kommt, auf welcher sich die Spuren eines zwischen ihm und einer Truthenne stattgefundenen Kampfes erkennen lassen, und man begreift dann, daß er ebenso verfolgt wird wie seine Verwandten, obgleich man wohl annehmen darf, daß er, wie diese, durch Verminderung der verderblichen Nagerbrut mehr Nutzen als durch Aufzehren uns nützlicher Thiere Schaden bringt. Neben größerem Wilde, insbesondere Wirbelthieren aller Klassen, stellt der Graufuchs übrigens auch Kerbthieren nach, zerkratzt, beispielsweise, um zu solchen zu gelangen, halbverfaulte Baumstrunke in den Waldungen, und ebenso verzehrt er Pflanzenstoffe verschiedenster Art. Audubon wurde von einem Landwirte im Staate New York auf ein Maisfeld aufmerksam gemacht, in welchem einige unbekannte Thiere dadurch, daß sie sich von einem reifenden Kolben genährt, nicht unbeträchtlichen Schaden verursacht hatten. Die Fährte des Thieres lehrte uns den Silberfuchs als Thäter kennen, und die vorläufige Feststellung der Diebe wurde durch den Fang von drei derselben vollkommen bestätigt.

In Carolina wölft der Graufuchs in den letzten Tagen des März oder in den ersten des April, in den nördlichen Staaten etwas später. Die Jungen bleiben ungefähr drei Monate lang unter der Obhut ihrer Mutter und zerstreuen sich dann, sowie sie selbständig geworden und das einsame Leben der Alten zu führen im Stande sind. Auch wenn sie bereits volle Größe erhalten haben, erkennt man sie noch leicht an ihrer verhältnismäßig geringen Vorsicht und namentlich bei der Jagd mit Hunden daran, daß sie nur im Nothfalle in längerer Flucht ihr Heil, vielmehr im Besteigen passender Bäume ihre Rettung zu suchen pflegen, während die gewitzigten Alten durch allerlei Künste und Kniffe sich ihren Todfeinden öfter mit Erfolg zu entziehen wissen. Audubon scheint es sehr auffällig zu finden, daß ein Fuchs Bäume besteigt, während wir, nach den von Reineke uns gegebenen Probestückchen urtheilend, diese Meinung nicht theilen. Für ein so gewandtes Thier, wie der Fuchs es ist, hat es keineswegs besondere Schwierigkeiten, einen Baum mit weit nach unten ragenden Aesten, seitlichen Auswüchsen, Knollen und anderen Unebenheiten zu erklimmen, während der plumpere Hund sich außer Stande sieht, dies nachzuthun.

Hinsichtlich der Jagd und anderer Vertilgungsarten des Graufuchses gilt mit wenig Abänderungen dasselbe, was man von unserem Fuchse sagen kann. Man wendet aber auch in Amerika die verschiedensten Fallen an, um den lästigen Strolch in seine Gewalt zu bringen, und betreibt ebenso eifrig wie in England die Fuchshatze, in welcher man eine vorzügliche, Nerven und Glieder stärkende Uebung und ein hochfeines Vergnügen findet.

Gefangene Graufüchse betragen sich im wesentlichen wie ihr europäischer Verwandter, sollen aber niemals ganz zahm werden und immer den unbesieglichen Hang nach Befreiung bewahren. Besonders schwer soll es sein, ihnen das bissige Wesen abzugewöhnen; Audubon wenigstens [675] versichert, daß er niemals einen Gefangenen dieser Art gesehen habe, welcher mehr als halbzahm geworden wäre. In einer Hinsicht unterscheidet sich der Graufuchs jedoch zu seinem Vortheile von den Verwandten: er besitzt nicht den unangenehmen Geruch derselben.

Das Fell hat seines groben Haares wegen geringen Werth und wird meist nur zur Fütterung von Reisepelzen verwendet. Nach Lomer, welcher das Thier nicht »Silberfuchs«, wie die meisten Kürschner, sondern »Griesfuchs« nennt, gelangen jährlich fünfundzwanzigtausend dieser Felle in den Handel, welche einen Werth von ebensoviel Thalern haben.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. DCLXXIII673-DCLXXVI676.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon