Goldhähnchenlaubsänger (Phyllopneuste superciliosa)

[207] Unbemerkt oder unerkannt durchwandert alljährlich ein dem fernen Ostasien angehöriger Laubsänger unser Vaterland, um viele tausend Kilometer von seiner Heimat, in Westafrika, Herberge für den Winter zu nehmen: der Goldhähnchenlaubsänger, wie ich ihn nennen will, (Phyllopneuste superciliosa und modesta, Motacilla superciliosa, Regulus modestus, proregulus und inornatus, Reguloides superciliosus, modestus und proregulus, Phylloscopus superciliosus und modestus, Sylvia proregulus und bifasciata, Phyllobasileus superciliosus). Er wird, weil er durch verhältnismäßig kürzeren Schnabel und Fuß, aber etwas längeren und mehr zugespitzten Flügel von den übrigen Arten der Sippe sich unterscheidet, auch wohl als Vertreter einer eigenen Untersippe, der Laubkönige (Phyllobasileus), angesehen. Die Oberseite ist matt olivengrün, ein vom Nasenloche über den Augen hinweg zum Hinterkopfe verlaufender, ziemlich breiter, ober- und unterseits matt schwarz gesäumter Streifen blaßgelblich, ein über die Scheitelmitte ziehender zweiter, undeutlicher, heller als das ihn umgebende Gefieder, die ganze Körperseite vom Kropf an bis zu den Schenkeln zart grünlichgelb, die übrige Unterseite weißgelblich überflogen; die Schwingen und Schwanzfedern sind schwarzbraun, außen schmal olivengrün, erstere auch innen weiß gesäumt, die Armschwingen-und größten Oberflügeldeckfedern am Ende blaßgelb gerandet, zwei helle Flügelquerbinden zeichnend. Das Auge ist gelbbraun, der Schnabel dunkel hornfarben, unterseits von der Wurzel orangegelblich, der Fuß hell rothbraun. Die Länge beträgt neunzig bis hundert, die Breite einhundertundsechzig, die Fittiglänge zweiundfunfzig, die Schwanzlänge neununddreißig Millimeter.

Die Ausdehnung des Brutgebietes unseres Goldhähnchenlaubsängers ist zur Zeit noch unbekannt; wir wissen nur, daß er Turkestan vom Tianschan an, Ostsibirien vom Baikalsee an, China und den Himalaya bewohnt, in einem Höhengürtel zwischen ein- und dritthalbtausend Meter haust und brütet und allwinterlich nach Südindien hinabwandert. Kaum minder regelmäßig, stets aber in ungleich geringerer Anzahl, zieht er auch die westliche Straße, welche ihn durch Nord- und Westeuropa führt. Nach mündlicher Mittheilung Gätke's sieht man ihn fast alljährlich auf der kleinen Insel Helgoland, und die Annahme dieses scharfen Beobachters, daß der Vogel unzweifelhaft in jedem Jahre durch Deutschland wandern muß, erscheint vollkommen gerechtfertigt. In der That hat man unseren Laubsänger in den verschiedensten Theilen Europas erbeutet, so mehrmals in der Nähe Berlins und in Anhalt, außerdem in England, Holland, bei Wien, Mailand, auch in Palästina beobachtet. Ueber seine Lebensweise fehlen noch immer inhaltsvolle Mittheilungen, obgleich seitenlange Berichte englischer Eierkundigen vorliegen. Gätke, dessen eigenartige Forschungen bisher leider nur bruchstückweise erschienen, hebt zuerst hervor, daß Wesen und Betragen mit dem Auftreten und Gebaren anderer Laubsänger übereinstimmen; Radde bemerkt, daß der Vogel in Südostsibirien um die Mitte des Mai erscheint und bis gegen Ende des September verweilt, gelegentlich seines Herbstzuges lange an einem und demselben Orte sich aufhält oder wenigstens sehr langsam reist und deshalb im Gebüsche der Uferweiden monatelang beobachtet wird; Swinhoe berichtet, daß man ihn in China selten in Gesellschaft anderer Vögel sehe, daß er lebendig und stets in Bewegung sei und durch seinen lauten eintönigen Lockruf »Swith« seine Anwesenheit bekunde. Das beste gibt Dybowski, wenn auch nur mit wenigen Worten. Nach seinen Beobachtungen ist der Goldhähnchenlaubsänger in Ostsibirien seltener als andere seiner Verwandtschaft, erscheint in der ersten Hälfte des Juni und nistet in der Höhe des [207] Gebirges nahe der Waldgrenze oder über derselben an solchen Stellen, welche reichlich mit verkrüppelten gelben Alpenrosen bewachsen sind. Hier verweilt er bis zur Mitte des September. Das Nest befindet sich in der Regel in einem dicht mit im Moose wachsendem Grase durchwucherten Alpenrosenstrauche, ist meisterhaft gebaut, mit einer schwachen, aus trockenem Grase bestehenden Decke überwölbt und hat ganz das Ansehen einer Hütte mit einer Oeffnung von der Seite. Als Niststoffe dienen trockene Gräser, als Auskleidung Reh- und Renthierhaare.


Goldhähnchenlaubsänger (Phyllopneuste superciliosa), Sommer- und Wintergoldhähnchen (Regulus cristatus und ignicapillus). 1/2 natürl. Größe.
Goldhähnchenlaubsänger (Phyllopneuste superciliosa), Sommer- und Wintergoldhähnchen (Regulus cristatus und ignicapillus). 1/2 natürl. Größe.

Nur wenn die Eltern ihre Jungen füttern, ist man im Stande, es zu entdecken. Dybowski hat im August ein Nest mit sechs Jungen gefunden, welche, als er sie in die Hand nehmen wollte, obwohl noch nicht flügge, behend in das Moos schlüpften, hat ferner Ende August schon gänzlich ausgewachsene Junge gesehen, die Eier aber nicht kennen gelernt. In Kaschmir, und zwar in einem Höhengürtel von anderthalb bis zweitausend Meter, lebt der Vogel so häufig, daß sich jedes Pärchen auf ein Wohngebiet von wenigen Metern Durchmesser beschränken muß. Die Männchen sind sehr lebendig und geben ununterbrochen ihren lauten, doppelten, kaum Gesang zu nennenden Ruf zum besten. In den letzten Tagen des Mai und in den ersten des Juni fand Brook mehrere Nester mit vier bis fünf frischen oder kaum bebrüteten Eiern. Der Längsdurchmesser der letzteren beträgt vierzehn, der Querdurchmesser elf Millimeter; die Grundfärbung ist ein reines Weiß; die Zeichnung besteht aus braunrothen oder tiefpurpurbraunen, meist über das ganze Ei vertheilten, am dicken Ende zu einem ringförmigen Gürtel verschmelzenden Punkten und Flecken.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 207-208.
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