Streifenschwirl (Locustella certhiola)

[221] Im mittleren Sibirien, angeblich auch in Südrußland, vertritt ihn der Striemenschwirl (Locustella lanceolata und minuta, Acrocephalus lanceolatus, Sylvia, Cisticola und Calamodyta lanceolata). Er ist ihm sehr ähnlich, unterscheidet sich aber durch erheblich geringere Größe, zart rostgelbliche Unterseite und stärkere, dichtere, auch Kinn und Kehle einnehmende Fleckung. Dem Osten Mittelasiens entstammt der einmal auf Helgoland erbeutete Streifenschwirl (Locustella certhiola und rubescens, Motacilla, Sylvia, Turdus und Acrocephalus certhiola). Seine Länge beträgt einhundertundsechzig, die Fittiglänge fünfundsiebzig, die Schwanzlänge sechzig Millimeter; sein Gefieder ist oberseits olivengraubraun, mit breiten, dunklen Schaftstrichen gezeichnet, welche auf dem Oberkopfe sechs, auf dem Rücken acht unregelmäßige Längsreihen bilden, unterseits rostgelblich, an der Kehle und auf der Bauchmitte weißlich, an den Unterschwanzdecken rostfahlbraun, weißlich gerandet, über dem Auge, einen schmalen Streifen bildend, weißlich; die Schwingen und Schwanzfedern sind dunkelbraun, erstere außen schmal fahlbraun gesäumt, letztere mit sieben dunklen, verloschenen Querbinden und breitem lichten Endrande geziert.

Von Schweden oder Rußland an verbreitet sich der Schwirl über ganz Mitteleuropa; gelegentlich seines Zuges erscheint er im Süden unseres Erdtheiles oder in Nordostafrika. Er bewohnt die Ebenen, findet sich aber keineswegs überall, sondern nur stellenweise, hier und da sehr häufig, an anderen Orten, zumal im Gebirge, gar nicht. In Deutschland erscheint er um die Mitte des April [221] und verweilt hier bis zu Ende des September, ebensowohl in großen Sümpfen wie auf kleineren, mit Weidengebüsch bewachsenen Wiesen, im Walde nicht minder als auf Feldern seinen Aufenthalt nehmend. Hier entfernt er sich nicht vom Wasser, dort lebt er auf trockenem Boden; hier bevorzugt er Seggengräser, dort niederes, dichtes Buschholz und Dornengestrüppe.


Feld-, Schlag- und Rohrschwirl (Locustella naevia, fluviatilis und luscinioides). 2/3 natürl. Größe.
Feld-, Schlag- und Rohrschwirl (Locustella naevia, fluviatilis und luscinioides). 2/3 natürl. Größe.

Eine Oertlichkeit, welche ihm hundert- und tausendfach Gelegenheit bietet, sich jeder Zeit zu verbergen, scheint allen Anforderungen zu entsprechen. Auf dem Zuge verbringt er den Tag allerorten, wo niedere Pflanzen dicht den Boden bedecken.

»Der zusammengedrückte Leib, die bewunderungswürdige Schnelligkeit im Laufen und das gefleckte Gefieder«, sagt Wodzicki, »stempeln den Schwirl zu einem Vertreter der Rallen in der Sängerfamilie. Hat man je Gelegenheit gehabt, diese Vögel beim Neste zu beobachten, wie sie emsig hin- und herlaufen auf nassem Boden, selbst kleine, mit seichtem Wasser bedeckte Strecken überschreiten, wie sie im Wasser, ohne sich aufzuhalten, die auf ihrem Wege sich vorfindenden Kerbthiere erhaschen, dieselben in größter Eile den Jungen zutragen und wieder fortrennen, wie sie auf die Graskaupen springen, ein paarmal schwirren und dann wieder eifrig suchen; hat man sie [222] endlich mit ausgestrecktem Halse und aufgeblasener Kehle beim Singen gesehen, so wird man gewiß an die Wasserralle denken.« Mit dieser Schilderung des Gebarens stimmen alle Beobachter überein. »Es mag«, bemerkt Naumann, »nicht leicht einen unruhigeren und dabei versteckter lebenden Vogel geben als diesen. Sein Betragen ist ein Gemisch des Wesens der Rohrsänger, Schlüpfer und Pieper. Unablässig kriecht er im dichtesten Gestrüppe von Buschholz und von Sumpfpflanzen dicht über dem Boden oder auf diesem herum und treibt hier sein Wesen fast ganz im verborgenen. Nur ein plötzlicher Ueberfall kann ihn einmal aus seinen Verstecken hervorscheuchen; aber er fliegt auch dann gewiß nie weit über das Freie und bloß niedrig und dicht über dem Boden dahin. Er ist ein ungemein hurtiger, lebhafter Vogel und dabei scheu und listig. Auf dem Erdboden läuft er schrittweise mit einer Leichtigkeit und Anmuth wie ein Pieper, wenn er sich verfolgt glaubt aber mit einer Schnelligkeit, wie man eine Maus laufen zu sehen gewohnt ist. Wenn er Gefahr ahnt, schlüpft er so schnell durch das dichte Gezweige, daß man ihn im Nu aus dem Auge verliert. Beim Gehen trägt er den Leib wagerecht und streckt dabei den Hals etwas vor; er läuft ruckweise und bewegt dazu den Schwanz und den ganzen Hinterleib mehrmals nach einander auf und nieder. Wenn er durch die Zweige hüpft, beugt er die Brust tief; wenn er etwas verdächtiges bemerkt, zuckt er mit den Flügeln und dem Schwanze; bei großer Angst schnellt er den letzteren ausgebreitet hoch aufwärts und bewegt dabei die hängenden Flügel oft nach einander. Im ruhigen Forthüpfen, und namentlich dann, wenn er an senkrechten Zweigen und Pflanzenstengeln auf- und absteigt, ist er wieder ganz Rohrsänger.« Seinen Familiengenossen ähnelt er auch im Fluge, erhebt sich selten zu nennenswerther Höhe über den Boden, flattert vielmehr meist in gerader Linie, anscheinend unsicher und unregelmäßig, dahin und wirft sich nach Art seiner Verwandtschaft plötzlich senkrecht in das dichte Pflanzengewirr unter ihm herab. Demungeachtet durchmißt der anscheinend wenig flugfähige Vogel zuweilen doch auch Strecken von mehreren tausend Schritten im Fluge, um mit Hansmann zu reden, »abwechselnd auf die eine oder andere Seite gelegt wie ein Schwimmer, welcher mit einer Hand rudert. Der Flug ist dann demjenigen seiner Nachbarin, der Dorngrasmücke, ähnlich, nur flüchtiger, und die Schwingen werden nach jedem Stoße fast an den Schwanz gelegt.«

Mehr als jede andere Begabung zeichnet den Schwirl und seine Verwandten ein absonderlicher Gesang aus. Derselbe besteht nämlich nur in einem einzigen wechsellosen, langgezogenen, zischenden Triller, dem Schwirren vergleichbar, welches die großen Heuschrecken mit den Flügeln hervorbringen. Versucht man, den Laut durch Buchstaben auszudrücken, so kann man sagen, daß er wie »Sirrrrr« oder »Sirrlrlrlrl« klinge. »Ganz sonderbar ist es mir vorgekommen«, sagt Naumann, »daß man dieses feine Geschwirre, welches in der Nähe gar nicht stark klingt, so weit hören kann. Ein gutes Ohr vernimmt es an stillen Abenden auf tausend Schritt und noch weiter ganz deutlich. Ich habe diese Vögel zu allen Stunden des Tages und der Nacht zu belauschen versucht, deshalb ganze Nächte im Walde zugebracht, und kann versichern, daß der merkwürdige Gesang stets einen höchst eigenthümlichen Eindruck auf mein Gemüth machte, so daß ich stundenlang, nachdem ich den Wald längst im Rücken hatte, immer noch dieses Schwirren zu hören glaubte. Es schien mir aus jedem rauschenden Zweige, an dem ich vorüberging, aus jedem säuselnden Lüftchen entgegen zu kommen. Gewöhnlich schwirrt der merkwürdige Sänger seine Triller gegen eine Minute lang in einem Athem weg, ohne einmal abzusetzen; wenn er aber recht eifrig singt, so hält er ohne Unterbrechung oft zwei und eine halbe Minute aus, wie ichs mit der Uhr in der Hand öfters beobachtet habe. Nach einer Unterbrechung von wenigen Sekunden fängt er dann wieder an zu schwirren, und so hört man ihn seine einförmige Musik nicht selten stundenlang fortsetzen. Am Brutplatze schwirrt der Vogel selten am Tage und noch seltener anhaltend. Er fängt hier erst nach Sonnenuntergang ordentlich an, singt immer eifriger, je mehr die Mitternacht naht, bis nach zwölf Uhr, setzt nun eine gute Stunde aus, beginnt wieder und treibt es ebenso eifrig als vor Mitternacht bis zum Aufgang der Sonne. Hat das Weibchen erst Nest und Eier, so singt das Männchen am Tage gar nicht mehr, sondern bloß bei mitternächtlicher Stille oder früh, wenn der Morgen kaum zu grauen anfängt. So lange [223] der Schwirl noch keinen festen Wohnsitz erwählt hat, singt er, während er durch die Zweige schlüpft, so daß er sich beim Schlusse seines Trillers oft funfzig Schritt von dem Orte, wo er anfing, entfernt hat; am Brutplatze hingegen sitzt er häufig stundenlang an einer Stelle oder klettert höchstens an einem Halme in die Höhe oder auf einem Zweige hinaus und wieder zurück«. Dieser Gesang, welchen ich zufälligerweise bis jetzt noch niemals selbst gehört habe, verräth den Schwirl jedem aufmerksamen Beobachter. In der Zeit, in welcher er am eifrigsten schwirrt, läßt sich noch keine Heuschrecke vernehmen, und man braucht daher nur dem absonderlichen Laute zu folgen, um den Vogel aufzufinden. »Bei seiner versteckten Lebensweise«, meint Hansmann, »ist derselbe für uns nicht eher da, als seine Stimme vernommen wird. Das Weibchen, welches am Boden, vom hohen Grase bedeckt, sein Wesen treibt, bekommt man überhaupt nicht zu sehen, falls nicht ein günstiger Zufall es vor das Auge bringt; das Männchen dagegen zeigt sich beim Singen regelmäßig frei und kommt dabei früher oder später zu Gesichte.« Ungestört sitzt es, nach langjährigen Beobachtungen des letztgenannten, während es singt, stundenlang mit senkrecht herabhängendem Schwanze, etwas nach oben gerichtetem Schnabel, zitterndem Unterschnabel und aufgeblasener Kehle regungslos auf einer und derselben Stelle. »Der wunderliche Sänger hat die größere oder geringere Stärke des Tones ganz in seiner Gewalt. Nähert man sich einem solchen, welcher auf einem vereinzelten Wiesenbusche sitzt, so schweigt er plötzlich. Man steht still, fünf, zehn Minuten lang wartend, da beginnt das Schwirren wieder, scheint aber aus einer ganz anderen Richtung herzukommen oder aber ist so leise und gedämpft, daß man über die Entfernung des singenden Vogels vollständig irre werden möchte. Zuweilen schweigt der Schwirl viele Tage, fast wochenlang, hartnäckig; dann wieder läßt er sich nur des Vormittags oder des Mittags oder des Abends, am regelmäßigen aber immer in den Nachtstunden hören. Er schweigt bei Sonnenscheine und schwirrt bei Regen und heftigen Stürmen: so wenig begabt, und doch so launisch wie der gefeiertste Künstler!«

Die Nahrung entspricht der anderer Familienverwandten und ändert höchstens infolge der verschiedenen Oertlichkeit, welche der Schwirl bewohnt, einigermaßen ab.

Das Nest ähnelt mehr dem einer Grasmücke als irgend einem aller bisher genannten Rohrsänger, steht aber ausnahmslos auf dem Boden, gleichviel ob derselbe trocken oder so naß ist, daß man selbst unmittelbar unter den Eiern die Feuchtigkeit spüren kann, entweder unter einem kleinen Strauche oder, und häufiger, im Grase in der Nähe eines Strauches oder Baumstammes zwischen herabhängenden trockenen Grasblättern außerordentlich verborgen. Der einfache, flache Bau wird ausschließlich aus trockenen Grasblättern errichtet, und der hauptsächlichste Unterschied zwischen ihm und einem Gartengrasmückenneste besteht darin, daß der Schwirl breitere Blätter zur Herstellung der Außenwände wie der inneren Auskleidung verwendet. Ausnahmsweise findet man wohl auch etwas Moos als Unterlage. Das Gelege besteht aus fünf bis sieben, siebzehn Millimeter langen, dreizehn Millimeter dicken, ungleichhälftigen, zartschaligen, mäßig glänzenden Eiern, welche auf gelb-, oder matt-, oder bräunlichröthlichem Grunde mehr oder minder gleichmäßig am dicken wie am spitzigen Ende kranzartig mit matt veilchenblauen Schalenflecken und kleinen bläulichröthlichen Punkten gezeichnet sind. Nach etwa vierzehntägiger Brutzeit entschlüpfen die Jungen, wachsen, rasch heran, verlassen, wenigstens bei Störung, das Nest ehe sie vollständig flügge sind, und verschwinden dann, mäuseartig rennend, in dem benachbarten Pflanzendickichte. Hansmann behauptet, daß der Schwirl ungestört nur einmal im Jahre nistet; Baldamus und Päßler dagegen geben an, daß man das erste Gelege gegen die Mitte des Mai, das zweite gegen Mitte oder Ende des Juli findet. Für die Richtigkeit letzterer Angabe spricht der um diese Zeit noch hörbare Gesang des Männchens. In der ersten Hälfte des August verläßt alt und jung die Niststätte, wendet sich zunächst dichter bestandenen Brüchen zu und tritt nun allmählich die Winterreise an.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 221-224.
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