Geierrabe (Corvultur albicollis)

[430] Ueber die Lebensweise dieses riesigen Raben berichtet Heuglin in eingehender Weise.


Erzrabe (Corvultur crassirostris). 1/5 natürl. Größe.
Erzrabe (Corvultur crassirostris). 1/5 natürl. Größe.

Der Vogel ist Bewohner der Gebirge Ost- und Mittelafrikas, insbesondere Abessiniens, nordwärts bis Hamasièn, ostwärts bis Galabât und Taka, südlich bis Schoa und die Somalihochländer, westlich wahrscheinlich bis tief ins Innere Afrikas verbreitet, aber nur in Höhen von zwölfhundert Meter aufwärts bis zur Schneegrenze ansässig. Hier, auf Hochebenen und mit Vorliebe in der Nähe von Viehgehegen oder Schlachtplätzen, lebt er paarweise oder in kleinen Gesellschaften, den Menschen weder scheuend noch fürchtend. Man sieht ihn nach Art seiner Verwandtschaft viel auf [430] dem Boden umherlaufen oder über Triften, Feldern und Niederlassungen dahinschweben, selten bäumen, öfter auf einzeln stehenden Felsen oder Hausdächern ruhen und scharfen Auges sein Gebiet durchspähen, vernimmt auch nicht selten seinen rauhen, kolkrabenartigen Ruf oder seinen verhältnismäßig schwachen, rätschenden Lockton. Gesellig und verträglich wie die meisten anderen Raben, lebt er mit den Aasvögeln in gutem Einvernehmen, läßt sich durch sie jedoch nicht vom Aase vertreiben. Im Nothfalle frißt er Käfer und andere Kerbthiere, wahrscheinlich auch Fruchtstoffe mancherlei Art; seine Hauptnahrung besteht jedoch in Fleischabfällen und Knochen. Ihnen zu Gefallen besucht er die Ortschaften, folgt er den Herden oder ebenso den Heeren. Während der Kriegszüge gegen die Galla, an denen Heuglin halb gezwungen theilnehmen mußte, war er in Gemeinschaft des Geieradlers, Aasgeiers, Schmarotzermilans und eines anderen Raben steter Begleiter der Krieger, und nicht selten sah ihn Heuglin auch auf menschlichen Leichen sitzen, diesen zuerst die Augen aushacken und dann den Leib zerreißen. Unser Gewährsmann hat zwar nie beobachten können, daß er lebende Thiere angreift, zweifelt jedoch nicht im geringsten, daß er dies thut. Wahrscheinlich ähnelt er in jeder Beziehung und so auch hinsichtlich seiner räuberischen Thätigkeit seinem Verwandten, dem südafrikanischen Geierraben (Corvultur albicollis), dessen Betragen Levaillant gezeichnet hat. Dieser Rabe frißt zwar ebenfalls vorzugsweise Aas, greift aber auch lebende Thiere, namentlich Schafe und junge Gazellen an, hackt ihnen die Augen und die Zunge aus und tödtet und zerreißt sie. Nicht minder folgt er den Herden der Büffel, Rinder und Pferde, selbst dem Nashorne und dem Elefanten, welche ihm ebenfalls Nahrung zollen müssen. Hätte er die nöthige Kraft, er würde diesen Thieren gefährlich werden; so aber muß er sich begnügen, mit seinem Schnabel die wunden Stellen zu bearbeiten, welche durch Zecken und Maden verursacht werden. Diese Quälgeister der Säugethiere finden sich bei vielen von ihnen so zahlreich, daß sie es den Raben gern erlauben, auf ihrem Rücken herumzuhacken, selbst wenn das Blut danach läuft; denn der Rabe begnügt sich nicht mit den Kerbthieren, sondern frißt auch die eiternden Wunden aus.

Das Nest fand Heuglin im März auf einer unzugänglichen Stelle über einem Wasserfalle, welche mit Schlingpflanzen gänzlich überwachsen war, so daß der Horst in demselben angebracht zu sein schien.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 430-431.
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