Nußknacker (Nucifraga caryocatactes)

[446] Der Nußknacker oder Tannenheher, Nußrabe, Nußkrähe, Nußbeißer, Nußpicker, Nußprangl, Nußjäägg, Spechtrabe, Stein-, Schwarz-, Berg- und Birkheher, Bergjäck, Zirbelkrähe, Zirbelkrach, Zirmgratschen usw. (Nucifraga caryocatactes, macrorhynchos, brachyrhynchos, platyrhynchos, guttata, hamata, arquata, alpestris und minor, Corvus caryocatactes, Caryocatactes maculatus, guttatus und nucifraga), nimmt innerhalb der Rabenfamilie eine sehr vereinzelte Stellung ein; denn er hat nur in Amerika und im Himalaya Verwandte, welche wirklich mit ihm verglichen werden dürfen. Sein Leib ist gestreckt, der Hals lang, der Kopf groß und platt, der Schnabel lang, schlank und rundlich, auf der Firste gerade oder kaum merklich gekrümmt, an der Spitze niedrig und in einen wagerecht liegenden, breiten Keil auslaufend, der Fuß ziemlich lang und stark mit mäßig langen Zehen, welche mit kräftigen und deutlich gebogenen Nägeln bewehrt sind, der Flügel mittellang, stumpf, mit sehr stark abgestuften Schwingen, unter denen die vierte die längste ist, der Schwanz mittellang und gerundet. Das Gefieder ist dicht und weich, der Hauptfarbe nach dunkelbraun, auf Scheitel und Nacken ungefleckt, an der Spitze jeder einzelnen Feder mit einem reinweißen, länglich runden Flecke besetzt; die Schwingen und Schwanzfedern sind glänzend schwarz, letztere an der Spitze weiß; dieselbe Farbe zeigen auch die Unterschwanzdeckfedern. Die Augen sind braun, der Schnabel und die Füße schwarz. Die Länge beträgt sechsunddreißig, die Breite neunundfunfzig, die Fittiglänge neunzehn, die Schwanzlänge zwölf Centimeter.

Geschlossene Nadelwälder unserer Hochgebirge sowie die ausgedehnten Waldungen des Nordens der Alten Welt bilden die Heimat dieses Vogels, für dessen ständiges Vorkommen die Zirbelkiefer maßgebend ist. Auf unseren Alpen begegnet man ihm ebenso regelmäßig wie im hohen Norden, am häufigsten immer da, wo die gedachten Bäume wachsen. Aber auch er zählt zu den Zigeunervögeln, nimmt seinen Aufenthalt im wesentlichen je nach dem Gedeihen oder Nichtgedeihen der Zirbelnüsse, bewohnt daher im Sommer gewisse Striche in Menge und fehlt in anderen benachbarten gänzlich. So tritt er in den mittleren Theilen Schwedens sehr häufig auf, während er den größten Theil Norwegens nur während seiner Reise besucht. Letztere findet ebenso unregelmäßig statt wie die des Seidenschwanzes. In manchen Jahren ist er während des Winters in Deutschland überall zu finden; dann vergehen wieder viele Jahre, ehe man nur einen einzigen zu sehen bekommt. Im hohen Norden wandert er regelmäßiger, aber nicht immer gleich weit und nicht in jedem Herbste in derselben Anzahl; denn einzig und allein das Mißrathen der Zirbelnüsse treibt ihn vom Norden nach dem Süden hin oder vom Gebirge in die Ebene herab. Dies geschieht wie bei allen Zigeunervögeln in dem einen Jahre früher, in dem anderen später. Vogels sorgfältige Beobachtungen machen es glaublich, daß wir im mittleren und nördlichen Deutschland [446] immer nur hochnordische Gäste, nicht aber solche, welche den Alpen entstammen, zu sehen bekommen, wogegen letztere es sind, welche zeitweilig, manchmal sehr frühzeitig im Sommer, in den tieferen Lagen ihres Wohngebirges erscheinen. So lange sie dort wie hier genügende Nahrung finden, wandern sie nicht, streichen vielmehr nur in sehr beschränktem Grade; wenn ihnen aber die Heimat nicht genügenden Unterhalt bietet, verlassen sie dieselbe, um anderswo ihr tägliches Brod zu suchen. Erzherzog Rudolf von Oesterreich sah sie im Salzkammergute und in Obersteyermark bereits im Juli dieses Jahres (1878) in namhafter Menge in den tieferen Thälern des Gebirges; wir beobachteten in Nordwestsibirien in den ersten Tagen des September 1876, zuerst am achten dieses Monats, unzählbare, sicherlich tausende enthaltende Schwärme in südlicher Richtung dem Ob entgegen ziehend, offenbar in der Absicht, in den im oberen Gebiete des Stromes gelegenen Zirbelbeständen sich festzusetzen.


Nußknacker (Nucifraga caryocatactes) und Unglücksheher (Perisoreus infaustus). 1/3 natürl. Größe.
Nußknacker (Nucifraga caryocatactes) und Unglücksheher (Perisoreus infaustus). 1/3 natürl. Größe.

Mißräth die Zirbelnuß, so verlassen sie auch deren Bestände und streichen weiter nach Süden, durchwandern bei dieser Gelegenheit ganz Südskandinavien, Dänemark, Norddeutschland, Belgien und Nordfrankreich, Nordrußland, Sibirien und Nordchina und beenden ihre Wanderungen erst im südlichsten Deutschland, Südfrankreich, Südrußland, den Donautiefländern [447] und den südlichsten Waldländern Nordasiens. Ob solche Wandergäste auch die Alpen überfliegen, bleibt fraglich, da diejenigen, welche man in Norditalien, auf Sardinien und in Südostfrankreich beobachtet und erlegt hat, ebensogut den Alpen wie dem Norden entstammt sein können. Aeußerst selten bleibt ein Paar dieser Wandergäste in den mitteldeutschen Gebirgen oder in den norddeutschen Waldungen zurück, um zu brüten, wogegen der den Alpen benachbarte Schwarzwald wohl allsommerlich brütende Paare beherbergt.

Mein Vater hat nicht Unrecht, wenn er sagt, daß der Tannenheher mit dem Eichelheher kaum mehr Aehnlichkeit habe als mit einem Spechte. Der Vogel sieht ungeschickt, sogar tölpisch aus, ist aber ein gewandter und munterer Gesell, welcher auf dem Boden gut geht und mit sehr großer Geschicklichkeit auf den Aesten und Stauden herumhüpft oder sich wie die Meisen an den Stamm klebt, daß man wohl sagen kann, erklettere an den Bäumen herum. Wie ein Specht hängt er sich an Stämme und Zweige, und wie ein Specht meiselt er mit seinem scharfen Schnabel in der Rinde desselben, bis er sie stückweise abgespaltet und die unter ihr sitzende Beute, welche er witterte, erlangt hat. Sein Flug ist leicht, aber ziemlich langsam, mit starker Schwingung und Ausbreitung der Flügel. Die Stellung ist verschieden. Gewöhnlich zieht er die Füße an, trägt den Leib wagerecht, den Kopf eingezogen und läßt die Federn hängen: dann hat er ein plumpes Ansehen, während er schmuck und schlank erscheint, wenn er den Leib erhebt, den Kopf in die Höhe richtet und das Gefieder knapp anlegt. Ungeachtet seines leichten Fluges fliegt er übrigens, falls er nicht auf der Reise ist, ungern weit, läßt sich vielmehr gewöhnlich, wenn er nicht geradezu aufgescheucht ist, bald wieder nieder. Während des Tages ist er viel beschäftigt, jedoch nicht so unruhig und unstet wie der Eichelheher. Seine Stimme ist ein kreischendes, weittönendes »Kräck, kräck, kräck«, welchem er im Frühjahre oft wiederholt »Körr, körr« zufügt. Während der Brutzeit vernimmt man, jedoch nur, wenn man sich ganz in seiner Nähe befindet, auch wohl einen absonderlichen, leisen, halb unterdrückten, bauchrednerischen Gesang. Seine Sinne scheinen wohl entwickelt zu sein. An Verstand steht er einzelnen Mitgliedern seiner Familie wahrscheinlich nach; dumm aber, wie er gescholten worden, ist er nicht. In seinen menschenleeren Wildnissen kommt er so wenig mit dem Erzfeinde der Thiere zusammen, daß er sich diesem gegenüber bei seinen Reisen oft recht einfältig benimmt; erfährt er jedoch Nachstellungen, so beweist auch er, daß er verständig ist. Er flieht dann vor dem Menschen ebenso ängstlich wie vor anderen, ihm von jeher wohl bekannten Feinden, zum Beispiel Raubsäugethieren und Raubvögeln.

Im Hügelgürtel ist es, laut Tschusi, welcher eigene und fremde Beobachtungen in ansprechender Weise zusammengestellt hat, vorzüglich der Haselstrauch, dessen Nüsse die Tannenheher lieben. Sobald die Haselnüsse reifen, versammeln sich alle Nußknacker der ganzen Gegend auf solchen Strecken, welche der Strauch überzieht. Zu dieser Zeit fliegen sie viel herum, und ihre Stimme ist fast überall zu hören. Der Morgen wird dem Aufsuchen der Nahrung gewidmet; gegen Mittag verschwinden die bis dahin emsig arbeitenden Nußknacker im Walde; in den späteren Nachmittagsstunden zeigen sie sich wieder, wenn auch minder zahlreich als am Morgen, in den Büschen. In den Morgenstunden nimmt ihr Schreien und Zanken kein Ende. Jeden Augenblick erscheinen einige, durch jenes Geschrei herbeigelockt, und ebenso fliegen andere, welche ihren dehnbaren Kehlsack zur Genüge mit Nüssen angefüllt haben, schwerbeladen und unter sichtlicher Anstrengung dem Walde zu, um ihre Schätze dort in Vorrathskammern für den Winter aufzuspeichern. Um die Mittagszeit pflegen fast alle im dichten Unterholze der Waldungen wohlverdienter Ruhe. In den späten Nachmittagsstunden erscheinen sie wiederum, schreien wie am Morgen, setzen sich aber oft halbe Stunden lang auf die höchste Spitze einer Tanne oder Fichte, um von hier aus Umschau zu halten. Im Berggürtel oder in den hochnordischen Waldungen sind es die Zirbelnüsse, welche sie zu ähnlichen Ausflügen veranlassen. Schon um die Mitte des Juli, vor der Reife dieser Nüsse, finden sie sich, wenn auch zunächst noch in geringer Anzahl, auf den zapfentragenden Arven ein; bei vollständiger Reife der Frucht erscheinen sie in erheblicher Menge und unternehmen nunmehr förmliche [448] Umzüge von Berg zu Thal und umgekehrt, beladen sich auch ebenso wie jene, welche die Haselsträucher plündern. Nach Wiedemanns Beobachtungen fliegen sie in Tirol, Zirbelnüsse sammelnd, während des ganzen Tages auf und nieder, benutzen beim Auf- und Abfliegen gewisse hervorragende Bäume, um auf ihnen ein wenig zu rasten, und beenden ihre Ernte erst, wenn der in der Höhe frühzeitig fallende Schnee sie in die Tiefe hinabdrückt. Beim Sammeln ihrer Vorräthe verfahren sie sehr geschickt. So lange sie noch hinlänglich viele Haselnüsse zu pflücken haben, setzen sie sich einfach auf die fruchtbehangenen Zweige; wenn die Büsche jedoch fast abgeerntet sind, halten sie sich, wie Vogel sah, über den wenigen noch vorhandenen Nüssen rüttelnd in der Luft und pflücken in solcher Stellung. An den Zapfen der Arve oder Zirbel und anderer Nadelbäume krallen sie sich mit den Nägeln fest, brechen mit kräftigen Schnabelhieben die Schuppen auf und gelangen so zu den Samen, deren Schalen sie mittels Zusammendrücken des Schnabels öffnen. Haselnüsse werden auf bestimmten Plätzen mit geschickt geführten Schnabelhieben gespalten. Abgesehen von Hasel- und Zirbelnüssen frißt der Tannenheher Eicheln, Bücheln, Tannen-, Fichten- und Kiefersamen, Getreide, Eberesch- oder Vogel-, Weißdorn-, Faulbaum-, Erd-, Heidel-, Preiselbeeren, sonstige Sämereien und Früchte, allerlei Kerbthiere, Würmer, Schnecken und kleine Wirbelthiere aller Klassen, ist überhaupt kein Kostverächter und leidet daher selbst im Winter keine Noth. Eine Zeitlang hält er sich an seine Speicher; sind diese geleert, so erscheint er in den Gebirgsdörfern oder wandert aus, um anderswo sein tägliches Brod zu suchen.

Ueber das Brutgeschäft des Nußknackers haben wir erst in den beiden letzten Jahrzehnten sichere Aufschlüsse erhalten. Ein Nest zu finden, ist auch dann schwierig, wenn ein Paar in unseren Mittelgebirgen nistet; die eigentlichen Brutplätze des Vogels aber sind die Waldungen seiner wahren Heimat, Dickichte, welche kaum im Sommer, noch viel weniger, wenn der Nußknacker zur Fortpflanzung schreitet, begangen werden können. Nach Schütts und Vogels Erfahrungen werden die Nester schon im Anfange des März gebaut und in der letzten Hälfte des Monats die Eier gelegt; um diese Zeit aber liegen die Waldungen des Gebirges ebenso wie die nordischen Wälder noch in tiefem Schnee begraben und sind schwer oder nicht zugänglich. Der Forscher muß also einen schneearmen Frühling abwarten, bevor er überhaupt an das Suchen eines Nestes denken kann.

Mein Vater erfuhr, daß im Voigtlande ein Nußknackernest in einem hohlen Baume gefunden worden sei, und diese Angabe erscheint keineswegs unglaublich, da auch Dybowski und Parrox in Ostsibirien dasselbe zu hören bekamen, ihnen sogar eine Kiefer, in deren Höhlung ein Paar gebrütet haben sollte, gezeigt wurde; indessen stimmen alle Beobachter, welche in Deutschland, Oesterreich, Dänemark, Skandinavien und der Schweiz Nester untersuchten, darin überein, daß letztere im dichten Geäste verschiedener Nadelbäume, insbesondere Fichten, außerdem Tannen, Arven, Lärchen, in einer Höhe von vier bis zehn Meter über dem Boden angelegt werden. Laut Vogel wählt das Paar zum Standorte seines Nestes am liebsten einen freien und sonnigen, also nach Süden oder Südosten gelegenen Bergeshang und hier auf dem erkorenen Baume Aeste nahe am Stamme. Die Baustoffe trägt es oft von weither zusammen. Unter hörbarem Knacken bricht es dünne und dürre, mit Bartflechten behangene Reiser von allen Nadelbaumarten seines Brutgebietes, auch wohl von Eschen und Buchen ab, legt diese lockerer oder dichter zum Unterbaue zusammen, schichtet darauf eine Lage Holzmoder, baut nunmehr die Mulde vollends auf, durchflicht auch wohl die Außenwände, vielleicht der Ausschmückung halber, mit grünen Zweigen und kleidet endlich das Innere mit Bartflechten, Moos, dürren Halmen und Baumbast aus. Unter regelrechten Verhältnissen findet man das volle Gelege um die Mitte des März, im Norden vielleicht erst im Anfange des April. Es besteht aus drei bis vier länglich eirunden, durchschnittlich vierunddreißig Millimeter langen, fünfundzwanzig Millimeter dicken Eiern, welche auf blaß blaugrünem Grunde mit veilchenfarbenen, grün- und lederbraunen, über die ganze Fläche gleichmäßig vertheilten, am stumpfen Ende zuweilen zu einem Kranze zusammenfließenden Flecken gezeichnet sind. Das Weibchen brütet, der frühen Jahreszeit entsprechend, sehr fest und hingebend; das Männchen sorgt für Sicherung und [449] Ernährung der Gattin, welche die ihr gebrachte Atzung, mit den Flügeln freudig zitternd, begierig empfängt. Nach siebzehn bis neunzehn Tagen sind die Jungen gezeitigt, werden von beiden Eltern mit thierischen und pflanzlichen Stoffen ernährt und muthig beschützt, verlassen etwa fünfundzwanzig Tage nach ihrem Ausschlüpfen das Nest und treiben sich, zunächst noch von den Eltern geführt und geleitet, im dichtesten Walde umher, bis sie selb ständig geworden sind und nunmehr die Lebensweise ihrer Eltern führen können. Sie sind, nach Girtanners Beobachtungen, »schon im Neste ganz die Alten in verjüngtem Maßstabe, aber gedrungene, unschöne Gestalten von steifer Haltung. In ihren linkischen, eckigen Bewegungen, besonders aber in ihrem eigenthümlichen Zucken mit dem Oberkörper nach hinten erinnern sie am ehesten an junge Spechte. Mit dem Schwanze wippen sie wie Würger. Als Nahrungsruf lassen sie eintöniges Gegilfe hören, zwischen welches sich jedoch bald das verfeinerte Gerätsche der Alten mischt«. So lange das Weibchen brütet, verhält es sich möglichst lautlos, um das Nest nicht zu verrathen, fliegt, gestört und vertrieben, lautlos ab und kehrt ebenso zum Neste zurück, sieht sogar von einem nahestehenden Baume stumm dem Raube seiner Brut zu, vereinigt sich auch nicht mit seinem Männchen, dessen Wandel, Thun und Treiben ebenso heimlich, verborgen, laut- und geräuschlos ist; wenn jedoch die Jungen heranwachsen, geht es lebhafter am Neste her, weil deren Begehrlichkeit durch auf weithin vernehmliches Geschrei sich äußert und auch die Alten, wenigstens bei herannahender Gefahr, ihrer Sorge durch ängstliches Schnarren Ausdruck verleihen oder durch heftige Verfolgung aller vorüberfliegenden Raubvögel sich bemerklich machen. Nachdem die Jungen ausgeflogen sind, vereinigen sich mehrere Familien und streifen gesellig umher. Dies geschieht fast immer hastig, unruhig, aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Der ganze Flug zerstreut sich rasch im Walde, durchfliegt denselben in einer und derselben Richtung, sammelt sich von Zeit zu Zeit auf hohen Bäumen, in Sibirien namentlich auf abgestorbenen Lärchen, und fliegt dann weiter, durch wechselndes Erscheinen und Verschwinden dem Auge eine größere Menge vortäuschend als wirklich vorhanden.

Während seiner winterlichen Streifereien wird der Tannenheher ohne sonderliche Mühe auf dem Vogelherde oder unter geköderten Netzen gefangen. Er gewöhnt sich bald an Käfig und Gefangenkost, zieht zwar Fleisch allem übrigen Futter vor, nimmt aber mit allen genießbaren Stoffen vorlieb. Ein angenehmer Stubenvogel ist er nicht. Täppisch und etwas unbändig geberdet er sich, arbeitet und meiselt an den Holzwänden des Käfigs herum und hüpft rastlos von einem Zweige auf den anderen. Mit schwächeren Vögeln darf man ihn nicht zusammensperren; denn seine Mordlust ist so groß, daß er sich schwer abhalten läßt, jene zu überfallen. Er packt dann, wie Naumann beobachtete, sein Schlachtopfer mit dem Schnabel, kneipt ihm das Genick ein, öffnet durch einige Hiebe den Kopf, frißt zuerst das Gehirn und dann alles übrige. Einer fraß sogar Eichhörnchen, ohne daß man diesen vorher das Fell abzustreifen brauchte. Boje und ich haben an einem und demselben gefangenen eine Mordlust wahrgenommen, wie solche wohl Falken, kaum aber Raben zeigen. Am anmuthigsten erscheint der Vogel, wenn er mit Aufknacken der Nüsse beschäftigt ist. Diese nimmt er geschickt zwischen die Fänge, dreht sie, bis das stumpfe Ende nach oben kommt, und zermeiselt sie rasch, um zu dem Kerne zu gelangen. Er bedarf viel zu seinem Unterhalte und ist fast den ganzen Tag über mit seiner Mahlzeit beschäftigt.

Bei uns zu Lande würde der Nußknacker schädlich werden können; in seiner Sommerheimat macht er sich verdient. Ihm hauptsächlich soll man die Vermehrung der Arven danken, er es sein, welcher diese Bäume selbst da anpflanzt, wo weder der Wind noch der Mensch die Samenkörner hinbringen kann.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 446-450.
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