Rothflügel (Agelaius phoeniceus)

[378] Fast ebenso häufig wie der Paperling ist der Rothflügel, Vertreter der Sippe der Sumpftrupiale (Agelaius). Der Schnabel ist lang, gestreckt kegelförmig, sehr spitzig und etwas zusammengedrückt, der Leib kräftig, der Flügel mittellang, die zweite und dritte Schwinge über die anderen verlängert, der Schwanz ziemlich lang und abgerundet, das Gefieder weich und glänzend. Im Hochzeitskleide ist der männliche Rothflügel (Agelaius phoeniceus, Sturnus praedatorius, Oriolus, Icterus, Psarocolius und Xanthornis phoeniceus) tief schwarz, auf der Schulter prächtig scharlachroth, die größte Reihe der oberen Flügeldeckfedern zimmetgelbbraun, der Augenring dunkelbraun, der Schnabel wie der Fuß endlich bläulichschwarz.


Rothflügel (Agelaius phoeniceus). 5/8 natürl. Größe.
Rothflügel (Agelaius phoeniceus). 5/8 natürl. Größe.

Die Länge beträgt zweiundzwanzig, die Breite fünfunddreißig, die Fittiglänge zwölf, die Schwanzlänge acht Centimeter. Das Weibchen ist auf der Oberste schwärzlichbraun, auf der Unterseite graulichbraun, jede Feder hier mehr oder weniger gilblichgrau gesäumt; die Kehle und die Wangen sind auf licht graufahlem Grunde dunkel in die Länge gestrichelt.

Auch der Rothflügel ist über ganz Nordamerika verbreitet, wo er vorkommt, häufig, im Norden der Vereinigten Staaten regelmäßiger Brutvogel, im Süden nur zeitweilig massenhaft auftretender Wintergast. Audubons Schilderung gibt ein so vortreffliches Bild seiner Lebensweise, daß es genügt, wenn ich das wesentlichste derselben hier folgen lasse.

Wenn der Frühling erscheint, verläßt der Rothflügel die südlichen Staaten, in denen er während der kalten Jahreszeit Herberge genommen, und wandert in kleineren oder größeren Flügen dem Norden zu. Die Männchen ziehen singend voran, gleichsam als wollten sie durch ihre Lieder die Weibchen einladen, ihnen zu folgen. Die Wandergäste verweilen unterweges nicht selten auf mittelhohen Bäumen, spreizen ihren Schwanz, lüften das Gefieder und lassen ihre klaren und wohlklingenden Laute vernehmen, namentlich am frühen Morgen, bevor sie die Plätze verlassen, [379] auf denen sie die Nacht verbrachten; denn sie wandern nur bei Tage. Sobald die Weibchen angekommen sind, beginnt das Brutgeschäft. Mehrere Männchen verfolgen ein Weibchen, bis dieses den Rechten sich erwählt und mit ihm zum Baue des Nestes schreitet. Das glückliche Paar zieht sich vom Haufen zurück und sucht am Rande eines einsamen Teiches oder einer sumpfigen Wiese nach einem geeigneten Nestplatze. Ein niedriger Strauch, ein dichter Rohr- oder Grasbusch wird erkoren und hier eine Menge trockenes Rohr zusammengetragen, die Nestmulde in ihm geformt und das Innere dann mit feineren Gräsern oder Pferdehaaren ausgekleidet. Hier findet man die vier bis sechs höchst eigenartigen, durchschnittlich fünfundzwanzig Millimeter langen, achtzehn Millimeter dicken, auf wasserblauem Grunde mit einzelnen großen, schwarzen und schwarzbraunen Flecken gezeichneten Eier. »Jetzt«, sagt Audubon, »kann man alle Treue und allen Muth beobachten, welche in dem Herzen des Männchens wohnt. Es bewacht ängstlich seine brütende Gattin. Jeder Eindringling, welcher dem Neste sich nähert, wird unter lautem Rufen, welches Furcht und Verwünschungen auszudrücken scheint, angegriffen, und gar nicht selten stößt der Vogel dicht selbst neben dem Menschen vorbei, welcher willentlich oder unwissentlich den Frieden stören wollte, oder er setzt sich auf einen Zweig über dem Neste und stößt so klägliche Töne aus, daß nur ein Gefühlloser daran denken kann, das Paar weiter zu stören.«

Nachdem die Jungen ausgeflogen sind, schlagen sie sich mit tausenden anderer ihrer Art zusammen und treiben sich selbständig umher, während die Eltern zu einer zweiten Brut Anstalt machen. Die ersten Jungen entfliegen im Anfange des Juni dem Neste; die zweiten folgen ihnen in den ersten Tagen des August. Zu dieser Zeit ist das Getreide der mittleren Staaten der Reife nahe gekommen, und nun fallen die gescharten Rothflügel in unschätzbarer Masse in den Feldern ein und machen ernste Abwehr des sorglichen Landmannes nöthig. Doch ist auch der größte Eifer des Menschen gewöhnlich erfolglos; die Masse der Vögel vereitelt jegliche Anstrengung. Sobald das Getreide wirklich reif geworden ist, verlassen die Plünderer die Felder und sammeln sich jetzt auf Wiesen und an Stromrändern, auch wohl im Rohre, vereinigen sich dabei mit Drosseln, Paperlings und ähnlichen Verwandten und bilden mit ihnen Flüge, welche die Luft verdunkeln. Ihre Verfolgung währt noch immer fort, und es ist kaum glaublich, in welchen Massen diese Vögel getödtet werden. Audubon versichert, vernommen zu haben, daß ein einziger Schuß mehr als funfzig von ihnen zu Boden gestreckt, und erzählt, daß er selbst hunderte in einem Nachmittage erlegt habe. Dennoch nehmen die Massen an Zahl nicht ab. Nach Art unserer Staare, fallen sie mit Einbruch der Nacht in geschlossenen Flügen in den Rohrwäldern ein, um hier, wenigstens einigermaßen gegen die sie ewig bedrohenden Gegner geschützt, die Nacht zu verbringen.

Der Rothflügel wird seiner Schönheit halber oft in Gefangenschaft gehalten, verlangt wenig, singt fleißig, ist ewig munter und in Thätigkeit, stets heiter und, unter Gleichstarken mindestens, verträglich. Einen Gesellschaftsbauer belebt er in der anmuthigsten Weise; denn er versteht es, Auge und Ohr zugleich zu fesseln. Zur Fortpflanzung im Käfige schreitet er nicht, woraus zu erkennen, daß wir ihm bisher doch nicht alle Bedingungen zum Wohlbefinden gewährt haben.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 378-380.
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