Baumläufer (Certhia familiaris)

[571] Unser Baumläufer, Baumrutscher, Baumreiter, Baumsteiger, Baumhäckel, Baumgrille, Rindenkleber, Krüper (Certhia familiaris, brachydactyla, longicauda, fasciata, scandula, americana, Costae, Nattereri und Turneri), ist auf der Oberseite dunkelgrau, weißlich betropft, auf der Unterseite weiß, der Zügel braungrau, ein Streifen, welcher über das Auge verläuft, weiß, der Bürzel braungrau, gelblich rostfarben überlaufen; die Schwingen sind schwarzbraungrau, [571] mit Ausnahme der vordersten durch einen weißen Spitzenfleck und eine weißgelbliche Mittelbinde gezeichnet, die Schwanzfedern braungrau, nach außen lichtgelb gesäumt. Das Auge ist dunkelbraun, der Oberschnabel schwarz, der Unterschnabel röthlich hornfarben, der Fuß röthlichgrau. Das Gefieder ist haarartig zerschlissen und seidenweich. Die Länge beträgt einhundertunddreißig, die Breite einhundertundachtzig, die Fittiglänge einundsechzig, die Schwanzlänge fünfundfunfzig Millimeter.

Das Verbreitungsgebiet des Baumläufers erstreckt sich über ganz Europa, Sibirien und Nordamerika, soweit die Waldungen reichen, und umfaßt außerdem Nordwestafrika, Kleinasien, Palästina, vielleicht auch Nordpersien.


Baumläufer (Certhia familiaris). 5/6 natürl. Größe.
Baumläufer (Certhia familiaris). 5/6 natürl. Größe.

Nach Art anderer Strichvögel bewohnt er während der Fortpflanzungszeit ein sehr enges Gebiet; nach derselben streicht er oft in Gesellschaft mit Meisen, Goldhähnchen, Kleibern und Spechten umher; immer aber unternimmt er nur kürzere Wanderungen. Wie alle Klettervögel ist er fortwährend in Thätigkeit und demzufolge auch in beständiger Bewegung. Geschäftig und gewandt klettert er an den Bäumen empor, oft in gerader Linie, oft auch in Schraubenwindungen, untersucht dabei jede Spalte und jede Ritze der Rinde, steckt sein feines Schnäbelchen zwischen das Moos und die Flechten und weiß so überall ein wenig Nahrung zu erbeuten. Sein Klettern geschieht ruckweise, aber mit größter Leichtigkeit, und er ist fähig, auch auf der unteren Seite der Aeste dahinzulaufen. Zum Boden herab kommt er selten, und wenn es geschieht, hüpft er hier sehr ungeschickt herum. Sein Flug ist ungleichförmig, aber ziemlich schnell; doch fliegt auch er ungern über weite Strecken, sondern lieber von dem Wipfel des einen Baumes zum Stammende des nächsten herab, indem er sich mit einem Schwunge von oben nach unten stürzt, kurze Zeit hart über dem Boden dahinschießt, sich wieder etwas hebt und einen Augenblick später wie früher an dem Baume klebt. Die gewöhnliche Stimme ist ein leises »Sit«, dem Laute, welchen die Meisen und Goldhähnchen hören lassen, sehr ähnlich; der Lockton klingt [572] stärker, wie »Sri«; der Ausdruck seines Vergnügens ist eine Zusammensetzung des »Sit, sri« und eines kurzen, scharfen »Zi«. Bei schönem Frühlingswetter setzt das Männchen diese verschiedenen Laute in einförmiger und langweiliger Weise zusammen; man ist jedoch kaum berechtigt, das ganze Tonstück Gesang zu nennen. Vor dem Menschen zeigt er nicht die geringste Scheu. Er kommt furchtlos in die Gärten herein, beklettert die Mauern der Gebäude ebensowohl wie die Baumstämme und nistet gar nicht selten in passenden Höhlungen des Gebälkes der Häuser. Doch merkt auch er bald, ob der Mensch ihm wohl will oder nicht. Da, wo er des Schutzes sicher ist, läßt er den Erzfeind der Thiere bis auf wenige Schritte herankommen; an anderen Orten sucht er der Beobachtung sich zu entziehen, indem er so viel wie möglich auf die dem Menschen abgekehrte Seite des Baumes hüpft. So lange die Witterung einigermaßen günstig ist, beweist er durch sein ganzes Gebaren außerordentliche Fröhlichkeit; bei naßkalter Witterung aber oder im Winter bei Rauchfrost merkt man ihm die Unbehaglichkeit deutlich genug an. Möglicherweise behelligt ihn vor allem die Beschmutzung des Gefieders, welche bei derartigem Wetter unvermeidlich ist; denn auch er hält sich reinlich, so lange er es vermag. Seine Nachtruhe pflegt er in Baumhöhlungen zu halten.

Das Nest steht in einer Höhle, Spalte oder Ritze, wie sich solche gerade findet. Nicht immer brütet der Baumläufer in Baumhöhlen, sondern häufig auch in geeigneten Spalten, unter Hausdächern oder zwischen den Brettern, welche im Gebirge die Wände der Gebäude schützen, oder auch in Holzstößen, zwischen dem Stamme und losgetrennter Borke usw. Je tiefer die Höhlung ist, um so angenehmer scheint sie ihm zu sein. Das Nest selbst richtet sich nach dem Standorte und ist demgemäß bald groß, bald klein. Es besteht aus dürren Reiserchen, Halmen, Grasblättern, Baumbast, Stroh und dergleichen, welche Stoffe mit Raupengespinst und Spinnenweben durchflochten sind, und wird innen mit feinen Fasern von Bast, Werch und einer Menge von Federn verschiedener Größe ausgefüttert. Die eigentliche Mulde ist nicht sehr tief, der Napf aber stets rund und sauber ausgearbeitet, so daß das Nest immerhin zu den künstlicheren gezählt werden muß. Das Gelege enthält acht bis neun, etwa sechzehn Millimeter lange, zwölf Millimeter dicke, auf weißem Grunde fein roth gepunktete Eier, welche denen der kleinen Meisen täuschend ähnlich sind. Beide Geschlechter brüten, und beide füttern ihre zahlreiche Brut mit unsäglicher Anstrengung heran. Die Jungen bleiben lange im Neste sitzen, verlassen dasselbe aber, wenn sie gestört werden, noch ehe sie fliegen können und suchen sich dann kletternd zu helfen, verbergen sich auch mit überraschender Schnelligkeit, so zu sagen, vor den Augen des Beobachters, und zwar so meisterhaft, daß sie schwer wieder aufzufinden sind. Die Alten führen sie nach dem Ausfliegen noch lange Zeit, und die Familie gewährt dann dem Beobachter ein höchst angenehmes Schauspiel. Sie ist, wie Naumann sagt, »ein lustiges Völkchen, die geschäftigen und äußerst besorgten Alten mit den vielen Jungen um sich, alle oft an einem großen oder an einigen nahe beisammen stehenden Bäumen versammelt, bald diesem, bald jenem Jungen ein aufgefundenes Kerbthier reichend oder von diesen beim emsigen Aufsuchen eines neuen verfolgt. Die verschiedenen Stimmen der Alten, zumal wenn sich ein vermeintlicher Feind zeigt, und ihr ängstliches Betragen dabei, die Abwechselungen und ihre possirliche Eilfertigkeit bei allen ihren Verrichtungen gewähren dem, welcher darauf achtet, die angenehmste Unterhaltung«. Das Baumläuferpaar brütet zweimal im Laufe des Sommers, das erste Mal im März oder zu Anfange des April, das zweite Mal im Juni; das Gelege der zweiten Brut zählt aber immer weniger Eier als das erste, oft nur ihrer drei bis fünf.

Für die Gefangenschaft eignet sich der Baumläufer nicht. Der Fang verursacht dem Geübten wenig Mühe. Es genügt, einige Schweinsborsten mit Vogelleim zu bestreichen und gewisse Lieblingsbäume zu bekleben, um das Vögelchen zu berücken. Von einer Jagd desselben kann selbstverständlich keine Rede sein; denn höchstens der Naturforscher darf sich für berechtigt halten, den nur Nutzen bringenden harmlosen und liebenswürdigen Vogel zu tödten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 571-573.
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