Langschnabelsittich (Henicognathus leptorrhynchus)

[119] Was der Nasenkakadu unter seinesgleichen, ist der Langschnabelsittich oder »Choroy« der Chilenen (Henicognathus leptorrhynchus, Psittacara leptorrhyncha und rectirostris, Sittace, Enicognathus und Conurus leptorrhynchus, Psittacus, Conurus, Arara und Stylorhynchus erythrofrons, Leptorrhynchus ruficaudus), in seiner Familie: eine Erdvogel mit auffallend gestrecktem, langspitzigem Schnabel, welcher deshalb mit Fug und Recht zum Vertreter einer besonderen Sippe (Henicognathus) erhoben worden ist. Im Baue seiner Fittige und des Schwanzes stimmt besagter Vogel fast vollständig mit den ihm am nächsten stehenden Keilschwanzsittichen überein, durch den Schnabel unterscheidet er sich von diesen und allen Papageien überhaupt. Dieser Schnabel ist mittelstark, schlank und viel länger, der Oberschnabel zweimal so lang als hoch, sehr wenig gebogen, seitlich abgeflacht, auf der Firste breit abgerundet und in eine lange, verschmälerte, fast wagerecht vorragende Spitze ausgezogen, an deren Grunde ein deutlicher Zahnausschnitt sich befindet, der Unterschnabel so hoch als der obere, seitlich abgeflacht, an der Dillenkante abgerundet, mit den Schneiderändern sanft in die Höhe gebogen. Die Füße und Zehen sind kräftig, letztere mit besonders stark gekrümmten Nägeln bewehrt. In dem langen, spitzigen Fittige überragt die zweite Schwinge die übrigen, in dem langen, spitzigen und keilförmig abgestuften Schwanze, dessen äußerste Feder noch nicht die halbe Länge der Mittelfeder erreicht, verschmälern sich alle Federn gleichmäßig gegen die Spitze hin. In dem harten Gefieder herrscht Dunkelolivengrasgrün, auf der Unterseite Olivengrün vor; der Stirnrand, die Befiederung der Wachshaut, die Zügel und ein schmaler Augenrand sind düster kupferpurpurroth, die mittleren Bauchfedern mit dieser Farbe überhaucht, wodurch ein undeutlicher rother Bauchfleck entsteht, die Federn des Oberkopfes durch breite schwarze Endsäume gezeichnet, die Handschwingen und ihre Deckfedern außen [119] bläulichgrün, schwarz gerandet, am Ende schwärzlich umsäumt, die größten unteren Flügeldecken wie die Schwingen unterseits grauschwärzlich, am Rande der Ihnnenfahne blaß olivengelblich verwaschen, die Steuerfedern oben und unten düster kupferpurpurroth. Das Auge hat goldgelbe Iris, Schnabel und Füße sind blaugrau. Beim Weibchen ist das Gefieder trüber und der röthliche Bauchfleck kleiner und blasser. Eine gelbe Spielart, von den Chilenen »Rey de Choroy« oder Choroykönig genannt, ist nicht selten.


Langschnabelsittich (Henicognathus leptorrhynchus). 2/5 natürl. Größe.
Langschnabelsittich (Henicognathus leptorrhynchus). 2/5 natürl. Größe.

Die Länge beträgt achtunddreißig, die Fittiglänge zwanzig, die Schwanzlänge siebzehn Centimeter; der Vogel erreicht also ungefähr die Größe unserer Elster. Der Langschnabelsittich, einer der drei Papageien, welche Chile bewohnen, verbreitet sich über das ganze Land und von hier aus nach Süden hin bis zur Magelhaensstraße hinauf, kommt auch auf Chiloe vor. Ueber sein Freileben ist noch wenig bekannt, genug jedoch, um zu erkennen, daß der Vogel seinen absonderlichen Schnabel entsprechend zu benutzen versteht. Hierüber danken wir Boeck, Gay und neuerdings Landbeck einige kurze Mittheilungen. Der Vogel ist sehr gemein und vereinigt sich oft zu Scharen von mehreren hunderten und tausenden, deren Geschrei betäubend wirkt und Gay, wie er versichert, oft am Schlafen verhinderte, wenn er gezwungen war, im Freien zu nächtigen. Seine eigentlichen Wohnsitze sind die Buchenwälder. Von ihnen aus unternimmt er jedoch der Nahrung halber regelmäßige Streifzüge. In Valdivia trifft er anfangs Oktober ein und verweilt bis zum April in der Gegend. Während dieser Zeit erscheint er [120] täglich morgens flugweise, von Norden her kommend, und begibt sich abends wieder dorthin zurück. Die Züge folgen, wie bei den meisten Papageien, einer bestimmten Straße, und jeder einzelne Trupp zieht genau in der Richtung der vorangegangenen dahin. Da der Choroy mehr Erd-als Baumvogel ist, sieht man ihn oft weite Strecken der Pampas, leider aber auch der Felder bedecken. Denn er ist der gefährlichste Feind der Weizen- oder Maissaaten, indem er mit seinem fast geraden Schnabel ebenso gut keimenden Weizen oder Mais wie Wurzeln von Gräsern, welche sein ursprüngliches Futter bilden, aus der Erde zieht. Zum Kummer des Landwirtes läßt er es nicht einmal bei solchen Räubereien bewenden, sondern fällt plündernd auch in den Obstgärten ein und zerstört hier, ausschließlich der Kerne halber, die Aepfel. Kein Wunder daher, daß er von den Bauern Chiles gehaßt und aufs eifrigste verfolgt wird. Durch Landbeck erfahren wir, daß er abweichend von einem anderen chilenischen Papagei, welcher sich bis drei Meter tiefe Nisthöhlen in die Erde gräbt, in hohen Pellinbäumen brütet, durch Boeck, daß die Jungen, welche man ohne besondere Mühe großziehen kann, vom Landvolke oft nach der Stadt gebracht werden. Das Fleisch ist hart und zähe.

Neuerdings gelangt auch dieser Sittich nicht allzuselten lebend auf den europäischen Thiermarkt. Ich selbst habe mehrere von ihnen gepflegt, absonderliche Gewohnheiten oder Eigenarten an ihnen nicht wahrgenommen, jedoch wohl nur deshalb, weil ich meine Gefangenen in einem großen Gesellschaftskäfige hielt, wo sie sich dem Verkehre mit mir entziehen konnten. Dagegen theilt mir Mützel das nachstehende mit: »Dem Choroy unseres zoologischen Gartens hatte ich bisher geringe Beachtung geschenkt. Sein Käfig ist unbequem aufgestellt, und ich sah in ihm nur einen Keilschwanzsittich wie die anderen. Dies aber änderte sich, als ich durch die Aufgabe, ihn für das ›Thierleben‹ zu zeichnen, angeregt wurde, genauer zu beobachten. Bei meiner Annäherung an seinen Käfig verließ er sogleich den Futternapf und schaute mich scharf und gleichsam fragend an. Ich näherte meine Hand dem Gebauer: er senkte den Hals herab, streckte den Kopf wagerecht vor, sträubte die Federn der Stirne, des Nackens und der Schultern, richtete die Augen nach vorn, öffnete den Schnabel, so daß der sehr gestreckte Obertheil desselben in gleiche Lage mit der Stirne kam, und stieß plötzlich wie ein Reiher nach meinem Finger, den ich selbstredend schleunigst zurückzog. In demselben Augenblicke hatte auch er den Kopf wieder in die vorige Lage gebracht und lauerte auf eine neue Gelegenheit zum Angriffe. Um das überraschende Gebaren weiter zu beobachten, brachte ich die Hand an die entgegengesetzte Seite des Käfigs. Sofort stürzte der Vogel mit gesträubtem Gefieder und großen Schritten dahin, und wiederum schnellte er mit wilder Bewegung den Kopf vor. Mit dem Bleistifte in der anderen Hand lenkte ich ihn auf die erste Seite, und blitzschnell drehte er sich jetzt nach dieser zurück. In jeder dieser Stellungen war er ein sprechendes Bild mächtiger Erregung. Geradezu grimmig sah er aus, wie er sich so bei den abwechselnden Reizungen zurücklegte und bald rechts, bald links, so zu sagen mit eingelegter Lanze, um sich stach. Sein Zorn steigerte sich zuletzt so, daß er mit den Füßen bis an das Gitter emporsprang, ohne die sonst den Papageien eigene Vorsicht in der Sicherung derselben zu üben; ja, in der Hitze des Gefechts fiel er sogar von der Stange herab. Bei diesen heftigen Bewegungen, welche ich nur mit dem Gebaren eines äußerst gereizten, wüthenden Hundes vergleichen kann, blieben die Flügel ruhig in ihrer Lage; nur ein lebhaftes, ruckweises Auf- und Abwippen, Drehen und Wenden des Schwanzes, wobei jede Bewegung mit Ausbreiten und Schlagen begleitet wurde, diente zur Erhaltung des Gleichgewichts.

Da sich der Choroy über ein halbes Jahr im Besitze des zoologischen Gartens befindet, kann man seine Erregsamkeit wohl kaum auf allgemeine Wildheit oder Mangel an Erziehung zurückführen. Sie war auch nur ein schnell aufloderndes und schnell verlöschendes Strohfeuer. Durch keinerlei unmittelbare Beleidigung hatte ich ihn gereizt, ihn weder berührt, noch sonst behelligt, und doch zeigte er eine so außerordentliche Aufregung bei meinem Anblicke. Bald jedoch war letztere auch vergessen. Denn als ich ihm ruhig den Stift vorhielt, ergrifft er diesen, anscheinend in der [121] Absicht, sich auf das genaueste von dem Gegenstande zu überzeugen. Das zu diesem Zwecke ausgeführte Drehen und Wenden des Kopfes übersteigt alles mir bekannte und erinnert an die Beweglichkeit der Falken und Eulen. Die Drehungen folgten einander rechtsherum und linksherum mit bewunderungswürdigster Eile und ließen ihm kaum Zeit, die ihm doch höchst nothwendig erscheinenden Nageversuche auszuführen. Endlich hatte er die richtige Stelle gefunden, faßte, hielt und zog: da, ein Ruck meinerseits und der eben noch so ruhige Forscher wurde plötzlich wieder zum wilden Angreifer, welcher in herausfordernder Ruhe zu warten schien, um dem verwegenen Störenfriede offenen Schnabels die Spitze zu bieten.

Der Choroy machte auf mich den Eindruck eines äußerst streitbaren, wirklichen Feinden gegenüber gefährlichen Thieres. Die Leichtigkeit und Gewandtheit seiner Bewegungen, die Schnelligkeit seiner Entschlüsse wie die Sicherheit in der Führung seiner Waffe rissen mich ebenso zur Bewunderung hin, als mich die völlige Grundlosigkeit seines Grimmes belustigte. An keinem anderen Papagei hatte ich bisher eine derartige Aeußerung ungerechtfertigtster Bosheit bemerkt, noch weniger aber eine derartige Angriffsweise beobachtet; denn keiner von allen, welche ich kennen lernte, sprang und stach auf seinen Gegner los.«


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 119-122.
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