Rothkopfspecht (Picus erythrocephalus)

[469] Der bekannteste aller Heherspechte ist der Rothkopfspecht (Picus erythrocephalus und obscurus, Melanerpes erythrocephalus). Kopf und Hals sind hochroth, Mantel, Schwingen und Schwanz rabenschwarz, Hinterschwingen, Bürzel und Unterseite reinweiß, die beiden [469] äußersten Schwanzfedernpaare am Ende schmal weiß gesäumt. Das Auge ist nußbraun, der Schnabel und die Füße sind bläulichschwarz. Das Weibchen ist etwas kleiner und minder lebhaft gefärbt als das Männchen. Bei den Jungen sind Kopf, Hals, Mantel und Brust erdbraun, durch schwarzbraune Mondflecke gezeichnet, die Vorderschwingen schwarzbraun, die Hinterschwingen röthlichweiß, gegen die Spitze hin schwarzbraun gebändert, die Steuerfedern dunkel braunschwarz. Die Länge beträgt vierundzwanzig, die Breite vierundvierzig, die Fittiglänge zwölf, die Schwanzlänge sechs Centimeter.

»Es gibt vielleicht keinen Vogel in Nordamerika«, behauptet Wilson, »welcher bekannter wäre als der Rothkopf. Er ist so häufig, sein dreifarbiges Gefieder so bezeichnend und seine räuberischen Sitten sind so sehr zu allgemeiner Kunde gelangt, daß jedes Kind von ihm zu erzählen weiß.« Der Rothkopf verbreitet sich über den ganzen Norden Amerikas. Man sieht ihn, nach Versicherung des Prinzen von Wied, an allen Zäunen sitzen, an den Spitzen oder an den Stämmen eines Baumes hängen oder am Gewurzel umherklettern und nach Kerbthieren suchen. »Man darf ihn«, sagt Audubon, »als einen Standvogel der Vereinigten Staaten betrachten, da er in den südlichen Theilen derselben während des ganzen Winters gefunden wird und dort auch im Sommer brütet. Die große Mehrzahl seiner Art aber wandert im September von uns weg und zwar des Nachts. Sie fliegen dann sehr hoch über den Bäumen dahin, gesellschaftlich und doch jeder für sich, einem zersprengten Heere vergleichbar, und stoßen einen besonderen, scharfen Laut aus, welchen man sonst nicht vernimmt, gleichsam in der Absicht, sich gegenseitig aufzumuntern. Mit Tagesgrauen läßt sich die Gesellschaft auf den Wipfeln der abgestorbenen Bäume um die Pflanzungen nieder und verweilt hier, Futter suchend, bis zu Sonnenuntergang. Dann steigt einer nach dem anderen wieder empor und setzt seine Reise fort.


Rothkopfspecht (Picus erythrocephalus). 1/3 natürl. Größe.
Rothkopfspecht (Picus erythrocephalus). 1/3 natürl. Größe.

Mit Ausnahme der Spottdrossel kenne ich keinen so heiteren und fröhlichen Vogel, wie diesen Specht. Sein ganzes Leben ist Freude. Er findet überall Nahrung in Menge und allerorten [470] passende Nistplätze. Die geringe Arbeit, welche er verrichten muß, wird für ihn zu einer neuen Quelle von Vergnügen; denn er arbeitet nur, um sich entweder die zartesten Leckerein zu erwerben, oder um eine Wohnung zu zimmern für sich, für seine Eier oder seine Familie. Den Menschen fürchtet er, wie es scheint, durchaus nicht, obgleich er keinen schlimmeren Feind hat als gerade ihn. Wenn er auf einem Zaunpfahle am Wege oder im Felde sitzt und jemand ihm sich nähert, dreht er sich langsam auf die andere Seite des Pfahles, verbirgt sich und schaut ab und zu vorsichtig hervor, als wolle er die Absicht des Menschen erspähen. Geht dieser ruhig vorüber, so hüpft er auf die Spitze des Pfahles und trommelt, als wolle er sich beglückwünschen über den Erfolg seiner List. Nähert man sich ihm, so fliegt er zu dem nächsten oder zweitnächsten Pfahle, hängt sich dort an, trommelt wieder und scheint so seinen Gegner förmlich herauszufordern. Gar nicht selten erscheint er bei uns auf den Häusern, klettert an ihnen umher, klopft auf die Schindeln, stößt einen Schrei aus und senkt sich dann nach dem Garten hinab, um dort die besten Beeren zu plündern, welche er entdecken kann.

Ich wollte niemand rathen, dem Rothkopfe irgend einen Obstgarten preiszugeben; denn er nährt sich nicht bloß von allen Arten der Früchte, sondern zerstört nebenbei noch eine große Menge derselben. Die Kirschen sind kaum geröthet, so sind auch schon diese Vögel da: sie kommen von allen Seiten meilenweit herbei und leeren einen Baum auf das gründlichste ab. Wenn einmal einer erschienen ist und die erste Kirsche ausgespürt hat, stößt er einen Lockton aus, wippt mit dem Schwanze, nickt mit dem Kopfe und hat sich ihrer im nächsten Augenblicke bemächtigt. Ist er gesättigt, so beladet er seinen Schnabel noch mit einer oder zweien und fliegt dem Neste zu, um seinen Jungen auch etwas zu bringen.

Es ist geradezu unmöglich, die Anzahl der Rothkopfspechte, welche man in einem Sommer sieht, zu schätzen: so viel kann ich aber bestimmt versichern, daß ihrer hundert an einem Tage von einem einzigen Kirschbaume herunter geschossen wurden. Nach den Kirschen werden Birnen, Pfirsiche, Aepfel, Feigen, Maulbeeren und selbst Erbsen angegangen, und von den Verwüstungen, welche die Vögel in dem Korne anrichten, will ich gar nicht reden, aus Furcht, Thiere, welche zwar in dieser Hinsicht schuldig sind, anderseits aber auch überaus gute Eigenschaften besitzen, noch mehr anzuklagen. Die Aepfel, welche sie verzehren, pflegen sie in einer sonderbaren Weise wegzutragen. Sie stoßen nämlich ihren geöffneten Schnabel mit aller Gewalt in die Frucht, reißen sie ab, fliegen dann mit ihr auf einen Zaunpfahl oder Baum und zerstückeln sie dort mit Muße. Auch noch eine andere schlechte Sitte haben sie: sie saugen die Eier kleiner Vögel aus. Zu diesem Zwecke besuchen sie sehr fleißig die Nistkästen, welche zu Gunsten der Purpurschwalben und Blauvögel aufgehängt werden, auch wohl die Taubenhäuser, und selten thun sie es ohne Erfolg.

Aber was sie auch thun mögen, heiter sind sie stets. Kaum haben sie ihren Hunger gestillt, so vereinigen sie sich zu kleinen Gesellschaften auf der Spitze und den Zweigen eines abgestorbenen Baumes und beginnen von hier aus eine sonderbare Jagd auf vorüberfliegende Kerbthiere, indem sie sich acht oder zwölf Meter weit auf sie herabstürzen, zuweilen die kühnsten Schwenkungen ausführen und, nachdem sie ihre Beute gefaßt, wieder zum Baume zurückkehren und einen freudigen Schrei ausstoßen. Zuweilen jagt einer spielend den anderen in höchst anziehender Weise; denn während sie die weiten, schön geschwungenen Bogen beschreiben, entfalten sie die volle Pracht ihres Gefieders und gewähren dadurch ein überaus angenehmes Schauspiel. Wenn sie von einem Baume zum anderen fliegen, ist ihre Bewegung gleichsam nur ein einziger Schwung. Sie öffnen die Flügel, senken sich herab und heben sich, in der Nähe des Stammes angelangt, langsam wieder empor. Kletternd bewegen sie sich aufwärts, seitwärts und rückwärts, anscheinend ohne jegliche Schwierigkeit, aber selten (?) mit dem Kopfe nach unten gerichtet, wie Kleiber und manche andere Spechte (?) zu thun pflegen. Ihre Schwingungen von einem Baume zum anderen geschehen, wie man meinen möchte, häufig in der Absicht, einen anderen ihrer Art anzugreifen. Dieser aber weiß seinen Gegner, Dank seiner unendlichen Gewandtheit, immer zu foppen, indem er mit erstaunlicher Schnelligkeit rund um den Baum klettert.

[471] Selten findet man ein neuangelegtes Nest; gewöhnlich begnügt sich das Paar, wenn es brüten will, mit einem alten, welches ein wenig ausgebessert und etwas tiefer ausgehauen wird. Ihre Nesthöhlen findet man in jedem abgestorbenen Baume, oft zehn oder zwölf in einem einzigen Stamme, einige eben angefangen, einige tiefer ausgemeiselt und andere vollendet. Grüne oder lebende Bäume werden so selten benutzt, daß ich mich keines erinnern kann, welcher ein Nistloch dieser Spechtart gehabt hätte. In Louisiana und Kentucky brütet der Rothkopfspecht zweimal im Laufe des Jahres, in den mittleren Staaten gewöhnlich nur einmal. Das Weibchen legt zwei bis sechs reinweiße und durchscheinende Eier, zuweilen in Höhlen, welche nur zwei Meter über dem Boden eingemeiselt wurden, zuweilen in solchen, welche so hoch angebracht wurden, als möglich.« Nach Wilsons Versicherung hat die Brut des Rothkopfes in der Schwarznatter (Coryphodon constrictor) eine furchtbare Feindin. Diese Schlange windet sich häufig an den höchsten Baumstämmen empor, bringt in das friedliche Kinderzimmer des Spechtes, verschlingt hier die Eier oder die hülflosen Jungen, angesichts der ängstlich schreienden und umherflatternden Eltern, und legt sich dann, wenn der Raum groß genug ist, zusammengeringelt in das Nest, um die Verdauung abzuwarten. Der Schulbube, welcher seinen Hals wagte, um ein Nest dieses Spechtes auszuheben, findet sich oft nicht wenig enttäuscht, wenn er seine Hand in die Höhle steckt und anstatt der Jungen die entsetzliche Schlange packt. Er hat dann gewöhnlich nichts eiligeres zu thun, als ohne alle Rücksicht auf Glieder und Beinkleider am Stamme herunterzurutschen, und verläßt schreckerfüllt so schnell als möglich den Baum.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 469-472.
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