Dreizehenspecht (Picoides tridactylus)

[506] Der deutsche Vertreter dieser Gruppe ist der Dreizehenspecht, dreizehiger, dreifingeriger oder scheckiger Buntspecht, Baumhacker, Baumpicker oder Gelbkopf (Picoides tridactylus, variegatus, europaeus, alpinus, montanus und crissoleucus, Picus tridactylus, hirsutus, crissoleucus und leucopygus, Apternus tridactylus, kamtschatkensis, longirostris, montanus und septentrionalis, Tridactylia hirsuta und kamtschatkensis, Dendrocopus tridactylus). Der Vogel, welcher unserem Buntspechte an Größe ungefähr gleichkommt, ist zwar nicht so lebhaft, aber fast ebenso bunt wie dieser gezeichnet. Die Federchen, welche die Nase überdecken, sind weiß, an der Spitze schwarz, die des Vorderkopfes weiß, durch schwarze Schaftstriche gezeichnet, die des Scheitels lebhaft citrongelb. Der Hinterkopf, ein über das Auge, die Ohrgegend und an den Halsseiten herab verlaufender breiter Streifen, welcher oberseits von einem schmalen, unterseits von einem breiten weißen begrenzt wird, und ebenso ein unter dem letzteren stehender, an der Wurzel des Unterschnabels beginnender und von hier zum Hinterhalse verlaufender, theilweise nur aus Schaftstrichen gebildeter Streifen sind schwarz, Kinn, Kehle und Mitte der Unterseite weiß, Kropf- und Brustseitenfedern mit schwarzen Schaftflecken, Bauch, Schenkelseiten, After und untere Schwanzdeckfedern mit schwarzen Querbinden, die Obertheile einschließlich der Flügel bis auf einen breiten weißen Längsstreifen, welcher sich von dem weißen Hinterhalse bis zu den oberen Schwanzdecken herabzieht, schwarz, die Flügel wie die Schulterfedern durch weiße Längsflecke geziert, die Handschwingen außen mit fünf, die Armschwingen mit drei weißen Querflecken und an der Innenfahne mit großen weißen Randflecken ausgestattet, so daß sich bei zusammengelegten Flügeln sechs schmale weiße Querbinden darstellen, die äußersten beiden Schwanzfedern endlich mit zwei weißen Querbinden und weißer Spitze, die dritte mit nur einer Querbinde geschmückt. Das Auge ist weiß, der Schnabel bleiblau, an der Spitze schwarz, der Fuß bleifarben. Beim Weibchen ist der Scheitel nicht gelb, sondern wie der Vorderkopf weiß und schwarz längs gestrichelt.

[506] Das Verbreitungsgebiet des Dreizehenspechtes verdient insofern besondere Beachtung, als es sich in Mittel- und Südeuropa ausschließlich auf das Hochgebirge und die höchsten Mittelgebirge beschränkt, dagegen über den ganzen Norden unseres Erdtheiles und ebenso über Mittelasien bis Kamtschatka und Sachalin, nach Norden hin bis zur Holzgrenze und nach Süden hin bis zum Tianschangebirge ausdehnt. Die Verbreitung unseres Spechtes ist also eine ähnliche wie die des Alpenschneehuhns, welches ebenfalls auf unseren Alpen und dann, weit getrennt von diesen, auf den Gebirgen des hohen Nordens gefunden wird.


Dreizehenspecht (Picoides tridactylus). 1/2 natürl. Größe.
Dreizehenspecht (Picoides tridactylus). 1/2 natürl. Größe.

Als echter Gebirgsvogel steigt der Dreizehenspecht nur da in die Niederung oder Ebene hinab, wo letztere das Gepräge des Hochgebirges angenommen hat, wie dies in den hochnordischen Waldungen, in denen die Tundra bereits zur Geltung gelangt, der Fall ist. Innerhalb der Grenzen Deutschlands ist er als Brutvogel nur in den Bayerischen Alpen nachgewiesen worden; verschiedene Beobachtungen lassen es jedoch als denkbar erscheinen, daß er im Schlesischen Mittelgebirge wie auf dem Böhmerwalde bisweilen oder sehr vereinzelt haust und brütet. Ein Nest hat freilich noch keiner der Beobachter gefunden, welche ihn als Bewohner unserer Mittelgebirge aufführen. Mit Bestimmtheit dagegen lebt der Dreizehenspecht jahraus jahrein in den Alpen, von den Seealpen an bis zu den östlichsten Ausläufern derselben, in den Karpathen, woselbst er laut Wodzicki ebenso wie in Kamtschatka der häufigste aller Spechte ist, in den Transsylvanischen Alpen, auf dem Kaukasus und dem ganzen Gebirgszuge Skandinaviens, vom südlichsten Ende des Landes an bis zum siebzigsten Grade nördlicher Breite, ebenso in Nordrußland, selbstverständlich auch auf dem Ural und allen Gebirgen sowie in den bereits bezeichneten Waldungen Nord- und Mittelasiens innerhalb der angegebenen Grenzen. Wirklich häufig scheint er [507] nirgends zu sein, jedes Pärchen vielmehr ein weit ausgedehntes Gebiet zu bewohnen; jedoch ist hierbei zu bemerken, daß die Waldungen, welche er sich erkiest, genaue Durchforschung im höchsten Grade erschweren. In unseren Alpen hält er sich ausschließlich an den Nadelwald, im Norden scheint er wenigstens den Birkenwald ebenso gern zu bewohnen. Wenn ein Waldbrand weite Flächen des Nadelwaldes vernichtet und den holzzerstörenden Kerbthieren freien Boden geschaffen hat, findet auch er hier sich ein, um eine so günstige Gelegenheit zu benutzen, und es kann geschehen, daß der Beobachter eine unerwartete Menge der Spechte antrifft. Für gewöhnlich aber sagen ihm im Norden die Birkenwaldungen vielleicht am meisten zu, möglicherweise schon aus dem Grunde, weil sein Gefieder die Färbung uralter, vermorschter, nordischer Birkenstämme getreulich wiederspiegelt. Nach beendigter Brutzeit streift auch er im Lande umher, gern in Gesellschaft von Drosseln, mit denen er nicht selten in Dohnenstiegen gefangen wird, und bei dieser Gelegenheit überschreitet er dann und wann wohl auch einmal die Grenzen seines gewöhnlichen Wohngebietes und kommt nun in Deutschland selbst in solchen Gegenden vor, welche ihm in keiner Weise behaglich erscheinen können. So wurde er, laut Naumann, einmal zufällig in Anhalt von einer Eiche herabgeschossen, so auch wiederholt in den Vorgebirgen der Bayerischen Alpen erlegt. Vielleicht streift er, unbeachtet von Kundigen, viel öfter durch unser Vaterland, als wir auf Grund unserer bisherigen Beobachtungen vermuthen dürfen.

In seinem Wesen und Gebaren hat der Dreizehenspecht die größte Aehnlichkeit mit dem Buntspechte; ich wenigstens habe an denjenigen, welche ich in Lappland und Sibirien beobachtete, keinen Unterschied wahrnehmen können. Er ist ebenso munter, ebenso gewandt, keck, rastlos, hat einen ähnlichen Flug und eine ähnliche, nach Angabe Girtanners nur merklich tiefere Stimme, trommelt in gleicher Weise, ist ebenso futterneidisch und kommt daher auch auf nachgeahmtes Klopfen regelmäßig herbei, kurz ähnelt dem Buntspechte in allen Stücken. Die Nahrung besteht wie bei letzterem aus Kerbthieren und Pflanzenstoffen. In den Alpenwäldern scheint er, laut Girtanner, hauptsächlich die Eier und Larven des Fichtenspinners und außerdem noch andere uns noch gänzlich unbekannte Kerbthiere zu erjagen, vielleicht zum Theil wohl auch pflanzliche Nahrung, möglicherweise Zirbelnüsse zu genießen; in den Waldungen der Mittelgebirge wird er mit dem Buntspechte dieselbe Nahrung theilen; in denen des Nordens sieht man ihn Kerfe aller Art von den Bäumen ablesen, ihnen zu Gefallen Rindenstücke weg und tiefe Löcher in das morsche Holz meiseln. Collet untersuchte den Mageninhalt dreier dieser Spechte und fand, daß derselbe aus Larven und Fliegen von Gallmücken und des großen Holzbockkäfers, eines der ärgsten Waldzerstörer, sowie weniger anderer Kerbthiere, namentlich Schmetterlinge, bestand. Im Herbste wird er unzweifelhaft auch Pflanzenstoffe, insbesondere Beeren, fressen, weil es sich sonst nicht erklären ließe, daß man ihn in Dohnenstiegen fängt. Ueber das Brutgeschäft liegen noch wenige und dürftige Nachrichten vor. Nach Wodzicki ist er in der Zeit des Nistens sehr vorsichtig, zimmert sich an zwanzig bis dreißig Löcher, sitzt bei Nacht bald in diesem, bald in jenem und baut sein Nest doch noch in einem anderen. Deshalb entdeckt man seine Bruthöhle gewöhnlich erst, wenn er die Jungen atzt. Eine Nisthöhlung, welche Girtanner untersuchte, befand sich in einer hohen kränkelnden Tanne eines etwa sechzehnhundert Meter über dem Meere gelegenen Hochwaldes von Graubünden, jedoch in so bedeutender Höhe, daß der Baum gefällt werden mußte, um die Jungen zu erreichen. Solche Höhlen werden von dem Vogel selbst ausgemeiselt und unterscheiden sich nicht von der unseres Buntspechtes. Die vier bis fünf Eier, deren größter Durchmesser vierundzwanzig bis sechsundzwanzig und deren kleinerer achtzehn bis neunzehn Millimeter beträgt, sind glänzend weiß, werden Anfang Juni gelegt und wahrscheinlich von beiden Eltern abwechselnd bebrütet, wie auch Vater und Mutter gemeinschaftlich die Pflege der Jungen übernehmen.

Jung aus dem Neste genommene Dreizehenspechte, welche Girtanner pflegte, nahmen unter beständigem, gegenseitigem Balgen und unaufhörlichem, dem des Kleinspechtes ähnelndem, jedoch etwas tieferem, ungefähr wie »Gigi« klingendem Geschreie die ihnen gereichten Ameisenpuppen ab, [508] entwickelten sich auch sehr schön und fast bis zum Flüggwerden, wurden aber eines Morgens ohne irgend eine erklärliche Ursache todt gefunden, scheinen sich somit nicht leicht in Gefangenschaft erhalten zu lassen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 506-509.
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