Zweite Ordnung: Leichtschnäbler[172] (Levirostres)

Höchst verschiedenartige Gestalten sind es, welche wir in dieser Ordnung vereinigen, und die Endglieder unterscheiden sich so wesentlich von einander, daß man sie kaum als Verwandte zu erkennen vermag. Gegenüber den streng abgeschlossenen Gruppen der Papageien, Kolibris und Spechte, welche ich mit mehreren Vogelkundigen der Neuzeit als Ordnungen ansehe, erscheinen die Leichtschnäbler als eine willkürlich zusammengewürfelte Gesellschaft. Diese Mannigfaltigkeit der Gesammtheit hat verschiedene Ansichten der Forscher begründet, und noch heutigen Tages ist der Streit der Meinungen keineswegs abgeschlossen. Nicht einmal über den Namen der Ordnung hat man sich geeinigt. Die Leichtschnäbler sind dieselben Vögel, welche Huxley unter dem Namen Kukuksvögel (Coccygomorphae) zusammenfaßt. Ich habe den zuerst von Reichenbach gewählten Namen vorgezogen, weil er mir passender erscheint.

Die Verschiedenartigkeit der in dieser Ordnung zusammengestellten Vögel erschwert eine allgemeine Kennzeichnung. Wenige Merkmale lassen sich auffinden, welche in allen Fällen Gültigkeit haben. Jeder einzelne Theil des Leibes erleidet Abänderungen. Der Rumpf ist bald gedrungen, bald gestreckt gebaut, der Hals kurz oder ziemlich lang, der Schnabel verhältnismäßig größer als bei irgend einem anderen Vogel und wiederum bis zu einem kleinen hornigen Häkchen verkümmert, der Oberschnabel zuweilen beweglich mit dem Scheitel verbunden, wie bei den Papageien der Fall, bald wiederum fest mit demselben vereinigt und durch absonderliche Hornwucherungen ausgezeichnet, um nicht zu sagen geziert, bald dünn, pfriemenförmig und gerade, bald dick und gebogen, bald rundlich, bald seitlich zusammengedrückt, der Fuß in der Regel kurz, der Lauf genetzt oder getäfelt, die äußere Zehe entweder eine Wendezehe oder nach vorn oder nach hinten gerichtet, die zweite mit der inneren nach hinten gewendet oder die innere zu einer Wendezehe geworden, der Flügel meist breit und zugerundet, ausnahmsweise aber auch spitzig, die Anzahl der Schwingen sehr veränderlich, der Schwanz bald kurz, bald lang, aus sehr großen breiten oder kleinen Federn zusammengesetzt, und nur die Anzahl derselben einigermaßen beständig, indem meist zehn oder zwölf, ausnahmsweise aber auch acht Steuerfedern gefunden werden, das Gefieder endlich hinsichtlich seiner Bildung, Lagerung und Färbung ebensowenig übereinstimmend wie der ganze übrige Bau.

So wenig nun auch die Leichtschnäbler im großen und ganzen einander sich gleichen, so bestimmt gehören sie in eine Gruppe, möge man derselben nun den Rang einer Ordnung zusprechen oder nicht. Niemand vermag zu verkennen, daß die verschiedenartigsten Gestalten durch zwischen ihnen stehende verbunden werden, so daß kaum ein Leichtschnäbler eine so vereinzelte Stellung einnimmt, wie z.B. der Kranichgeier innerhalb der Ordnung der Raubvögel. Sie sind innig und [172] vielfach mit einander verkettet. Mehrere Familien stehen sich so nah, daß es scheinen will, als ob die eine nur eine Umprägung oder Wiederholung der anderen sei; gleichwohl bewahrt sich jede einzelne ihre Selbständigkeit und kann an gewissen Merkmalen bestimmt unterschieden werden, wogegen bei den Familiengliedern selbst oft die genaueste Untersuchung erforderlich ist, um die Verschiedenheit zweier Arten zu erkennen.

Mehr als im äußeren stimmen die Leichtschnäbler im innerlichen Baue ihres Leibes, insbesondere des Schädels, überein. Sie gehören nach Huxley, dem ich mich hinsichtlich der Zusammenfassung und Begrenzung der Ordnung im großen und ganzen anschließe, zu denjenigen Vögeln, bei denen die Gaumenfortsätze der Oberkiefer sich in der Mittellinie entweder unmittelbar oder durch Vermittelung einer Verknöcherung der Nasenscheidewand verbinden, und stellen sich hierdurch als nahe Verwandte der Papageien dar. Bei allen sonstigen Verschiedenheiten des Schädels gleichen sie sich darin, daß das Pflugscharbein verkümmert oder sehr klein ist, und daß die Gaumenfortsätze der Oberkiefer mehr oder weniger zellig sind. Die Körper der Oberkiefer bilden oft mehr als die Hälfte des Mundtheiles, die Gaumenbeine haben keine senkrechte Hinterplatte, sondern sind gewöhnlich wagerecht ausgebreitet; ihr hinterer äußerer Winkel ist häufig in einen mehr oder weniger deutlichen Fortsatz ausgezogen. Zehn bis dreizehn Wirbel bilden den Hals-, sieben bis acht den Rücken-, neun bis dreizehn den Kreuzbein- und fünf bis acht den Schwanztheil. Das Brustbein hat meist auf jeder Seite zwei Einschnitte; das Becken ist kurz und breit, das Vorderende der Schambeine bei einzelnen in einen stumpfen oder spitzigen, nach vorn gerichteten Fortsatz ausgezogen. Die Zunge kann schmal und verlängert sein und den Raum zwischen den Unterkieferästen mehr oder weniger ausfüllen oder ebenso wie ein faseriges dürres Blatt im Schnabel liegen und durch ihre außerordentliche Kürze sich auszeichnen. Die Speiseröhre weitet sich nur ausnahmsweise zu einem Kropfe aus; der Magen ist zuweilen dünnhäutig und muskelig, zuweilen derb fleischig. Gallenblase und Blinddärme fehlen den einen und sind bei den nächsten Verwandten vorhanden. Der untere Kehlkopf hat nur ein einziges, höchstens zwei Paare seitlicher Muskeln.

Die Leichtschnäbler sind Weltbürger, eigentlich jedoch Bewohner des warmen Gürtels der Erde; denn nur wenige von ihnen finden sich innerhalb gemäßigter Landstriche und bloß einzelne im kalten Gürtel unseres Wandelsternes. Auch das eigentliche Hochgebirge lieben sie nicht, wohl aber die Vorberge desselben. Der Wald, in seiner verschiedenartigsten Entwickelung, bildet ihre Heimstätte; in baumleeren Gegenden sieht man sie selten. Viele sind Stand-, manche Strich-, einige Wander- und Zugvögel; letztere durcheilen alljährlich bedeutende Strecken. Die Verbreitung der Arten ist sehr verschieden, im allgemeinen jedoch eine beschränkte.

Eigenschaften, Lebensweise und Betragen der Mitglieder dieser Ordnung stimmen keineswegs überein; es läßt sich daher auch in dieser Beziehung kaum ein allgemeines Bild der Gesammtheit entwerfen. Was man sagen kann, ist ungefähr folgendes: Die Leichtschnäbler gehören nicht zu den besonders begabten Vögeln. Sie sind bewegungsfähig, viele aber doch in sehr einseitiger Weise. Auf dem Boden zeigen sich die meisten gänzlich fremd; im Gezweige der Baumkronen wissen sich nur wenige ohne Zuhülfenahme ihrer Flügel fortzubewegen; ihre Füße sind geeignet zum Umklammern eines Zweiges, welchen sie fliegend erreichten, und zum Stillsitzen, nicht immer aber zum Gehen oder Hüpfen. Im Fliegen hingegen erweisen sich alle wohlgeübt, viele so gewandt, daß sie mit Falken oder Schwalben wetteifern, letztere sogar noch überbieten können. Eine Familie beherrscht in gewissem Grade auch das Wasser: ihre Mitglieder tauchen, aus der Höhe herabstürzend, in die Tiefe und arbeiten sich mit Hülfe der Flügel wieder empor. Sänger werden unter ihnen nicht gefunden. Wenige sind schweigsame, viele im Gegentheile sehr schreilustige Geschöpfe, alle ohne Ausnahme aber nur zum Hervorbringen weniger und eintöniger Laute befähigt. Unter den Sinnen scheinen Gesicht und Gehör wohl entwickelt, Geruch und Geschmack dagegen schwach, vielleicht sogar verkümmert zu sein. Ueber das geistige Wesen ist wenig rühmenswerthes zu sagen. Einzelne Leichtschnäbler zeichnen sich allerdings durch Verstand aus; die große Mehrzahl aber [173] scheint schwachgeistig zu sein, und einige sind wegen ihrer Dummheit geradezu berüchtigt. Verständiges Abwägen der Verhältnisse wird selten beobachtet: die einen sind unter allen Umständen scheu, die anderen so dummdreist, daß auch ersichtliche Gefahr keinen Eindruck auf sie übt.

Die Lebensweise unserer Vögel ist in mancher Hinsicht anziehend, weil eigenthümlich. Nur die begabten Leichtschnäbler lieben Geselligkeit, d.h. eine engere Vereinigung mit ihresgleichen oder mit fremdartigen Vögeln. In der Regel treibt jeder einzelne seine Geschäfte für sich, und wenn nicht gerade die Liebe zu Weib und Kind bestimmend wirkt, bekümmert er sich wenig um andere seiner Art, ist vielmehr eher geneigt, jede Annäherung derselben von sich abzuweisen. Nicht einmal die heilige Elternliebe wird von allen anerkannt. Als Regel darf gelten, daß der einzelne Leichtschnäbler oder das Paar ein gewisses Gebiet eifersüchtig oder neidisch abgrenzt und gegen Eindringlinge hartnäckig vertheidigt. Still und ruhig auf einem Baumzweige sitzen, von hier aus nach Beute spähen, die ins Auge gefaßte verfolgen und nach glücklichem Fange zu demselben oder einem ähnlichen Sitze zurückkehren und so im Laufe des Tages das Gebiet ein oder mehrere Male durchstreifen: das ist Sitte und Gebrauch bei den meisten, und nur einzelne weichen hiervon ab, sei es, indem sie sich gesellig längere Zeit in der Luft umhertreiben, oder sei es, indem sie im Vereine mit gleichartigen Baumkronen durchschlüpfen und bezüglich den flachen Boden absuchen. Diese sind es auch, welche sich, weit mehr als alle übrigen um die Außenwelt kümmern, an Ereignissen theilnehmen, z.B. entdeckte Raubthiere verfolgen und der gefiederten Waldbewohnerschaft anzeigen oder sonstwie Theilnahme an dem, was um sie vorgeht, bekunden, während die meisten eben nur für die unabweislichen Bedürfnisse Sinn zu haben scheinen, und sich höchstens durch geschlechtliche Erregung zu außergewöhnlichem Thun bestimmen lassen.

Kleine Wirbelthiere, deren Junge und Eier, Kerfe, Weichthiere, Maden und Würmer bilden die Nahrung der meisten, Früchte das hauptsächlichste Futter einiger Leichtschnäbler. Diejenigen, welche thierische Nahrung zu sich nehmen, sind höchst gefräßig; denn sie verdauen rasch und lassen eine sich darbietende Beute ungefährdet kaum vorüberziehen, während diejenigen, welche vorzugsweise oder ausschließlich Fruchtfresser sind, eher befriedigt zu sein scheinen. Die Jagd oder der Nahrungserwerb wird in derselben Weise betrieben wie von den Schwalben, Fliegenfängern, Raben und Seeschwalben, d.h. entweder durch Auf- und Niederstreichen in der Luft oder durch Nachfliegen von dem Sitzplatze aus oder je nach den Umständen, zuweilen durch Ablesen vom Boden und endlich durch Stoßtauchen, indem sich der betreffende Fischer von seinem Sitzplatze und bezüglich von einer gewissen Höhe aus, in welcher er sich rüttelnd erhält, auf das Wasser herabwirft und das in ihm erspähte Thier mit dem Schnabel zu fassen sucht. Einzelne Leichtschnäbler verfolgen und verzehren ohne Schaden Thierlarven, welche von allen anderen Wirbelthieren verschmäht werden, weil deren Genuß ihnen geradezu verderblich sein würde.

Die große Mehrheit unserer Vögel nistet in Erd-und Baumhöhlungen; einige wenige aber bauen sich freistehende, kunstlose Nester, und eine zu ihnen zählende Familie vertraut ihre Nachkommenschaft fremder Pflege an, ohne sie jedoch, wie aus neueren Beobachtungen hervorzugehen scheint, gänzlich aus dem Auge zu verlieren. Bei den Höhlenbrütern oder Selbstnistern überhaupt besteht das Gelege in der Regel aus weißen Eiern; bei denen, welche Nichtbrüter sind, ähneln die Eier hinsichtlich ihrer Größe und Färbung, wenn auch nicht in allen Fällen, denen der betreffenden Pflegeeltern. Alle Leichtschnäbler ohne Ausnahme brüten oder legen nur einmal im Jahre.

Für den menschlichen Haushalt erscheinen die Mitglieder dieser Ordnung ziemlich bedeutungslos. Mehrere von ihnen erweisen sich allerdings als nützlich und können unter Umständen höchst ersprießliche Dienste leisten; andere schaden aber auch wieder, obgleich mehr mittel- als unmittelbar. Streng genommen dürfte sich, von unserem Gesichtspunkte betrachtet, der von den Leichtschnäblern geleistete Nutzen und verursachte Schaden aufheben. Für die Gefangenschaft eignen sie sich in geringem Grade. Manche lassen sich ohne sonderliche Mühe an ein leicht zu beschaffendes Futter gewöhnen, andere nur mit Schwierigkeit dahin bringen, im engen Gebauer Nahrung zu sich [174] zu nehmen. Jene sind als Gefangene mehr oder weniger unterhaltend, diese ebenso langweilig als während ihres Freilebens anziehend.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 172-175.
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