Rothhalsgans (Bernicla ruficollis)

[467] Ungleich schöner als beide ist die Rothhalsgans, Spiegel-, Mops- und Möppelgans (Bernicla ruficollis, Anas, Anser und Rufibrenta ruficollis). Ihre Länge beträgt fünfundfunfzig, die Breite einhundertfünfunddreißig, die Fittiglänge siebenunddreißig, die Schwanzlänge elf Centimeter. Kopf und Hinterhals, Rücken, Mantel, Flügel, mit Ausnahme der weißgesäumten oberen Deckfedern, Schwanz, Brust und Seiten sind schwarz, ein länglich runder Zügelfleck und ein Brauenstreifen, welcher hinter dem Ohre bogig zur Halsseite herabläuft und hier mit [467] einem zweiten, hinter dem Auge abgezweigten, senkrecht an der Kopfseite herab- und von hier aus in stumpfem Winkel abspringenden, ebenfalls nach der Halsmitte verlaufenden, gleichbreiten sich vereinigt, ein volles Nacken- und Brustband, die Weichen, Mittelbrust, Bauch, Steiß, Ober- und Unterschwanzdecken weiß, die Weichenfedern am Ende breit schwarz gesäumt, ein großer, von den weißen Streifen eingeschlossener Ohrfleck, Kehle, Vorderhals und Kropf endlich lebhaft zimmetroth. Das Auge ist dunkelbraun, der Schnabel bläulich-, der Fuß tiefschwarz.

Der hohe Norden der Alten und Neuen Welt ist die Heimat der Ringelgans. Als Brutgebiet dürfen die Küsten und Inseln gelten, welche zwischen dem sechzigsten und achtzigsten Grade der Breite liegen. Auf Island brüten nur wenige, auf Spitzbergen sehr viele Ringelgänse; mehr nach Osten hin begegnet man ihnen im hohen Sommer an allen Küsten des Eismeeres, ebenso in der Hudsonsbai und in den benachbarten Gewässern in Menge.


Ringelgans (Bernicla monacha). 1/5 natürl. Größe.
Ringelgans (Bernicla monacha). 1/5 natürl. Größe.

Von dieser unfreundlichen Heimat aus treten sie alljährlich Wanderungen an, welche sie an unsere Küsten, zuweilen auch in südlichere Gegenden führen. Zu Ende des Oktober oder spätestens im Anfange des November bevölkern sie alle flachen Gestade der Ost-und Nordsee zu tausenden. Soweit das Auge reicht, sieht man die Watten oder die Sandbänke, welche von der Ebbe bloßgelegt werden, bedeckt von diesen Gänsen; ihr Geschrei übertönt das Rollen der Brandung; ihre Massen gleichen, von fern gesehen, wenn sie auffliegen, einem dichten, weit verbreiteten Rauche und lassen jede Schätzung als unzulässig erscheinen. Die Nonnengans theilt mit der Verwandten dieselbe Heimat, scheint aber nur lückenhaft aufzutreten. Im Herbste findet sie sich an den Küsten Südgrönlands, Islands, Großbritanniens, Jütlands, Norddeutschlands, Hollands, Belgiens und Frankreichs ein, verbringt an allen geeigneten Stellen der genannten Länder auch den Winter, tritt hier und da kaum minder zahlreich auf als die Ringelgans und kehrt im Frühjahre auf ihre noch unbekannten Brutplätze zurück. Die Rothhalsgans endlich ist im hohen Norden Asiens, vielleicht auch im äußersten Nordosten Europas heimisch, brütet an der Boganida nicht selten, wandert schon durch das Obthal und, ebenso wohl allen [468] großen sibirischen Flüssen entgegen, in zahlreichen Scharen nach Süden, dann und wann, immer aber äußerst selten, auch auf der nordöstlich-südwestlichen Heerstraße durch Westeuropa, und überwintert am Kaspischen, einzeln wohl auch am Schwarzen, selbst am Mittelländischen Meere, am häufigsten vielleicht an den Steppenseen Turkestans.

Die Ringelgans, auf deren Lebensschilderung ich mich beschränken muß, ist, ebenso wie ihre Verwandten, ein Küstenvogel, welcher das Meer selten aus den Augen verliert und nur ausnahmsweise, größeren Strömen folgend, das Binnenland besucht. Vor den meisten ihrer mehr im letzteren heimischen Verwandten zeichnet sie sich aus durch Zierlichkeit und Anmuth, Geselligkeit und Friedfertigkeit, ohne jenen an Sinnesschärfe nachzustehen. Sie geht auf festem wie auf schlammigem Boden gleich gut, schwimmt leicht und schön, taucht vortrefflich, jedenfalls besser, fliegt auch leichter und gewandter als alle übrigen Gänse, nimmt aber nicht so regelmäßig wie diese im Fluge die Keilordnung an, sondern zieht meist in wirren Haufen durch die Luft. Beim Aufstehen größerer Scharen vernimmt man ein Gepolter, welches fernem Donner gleicht, bei geradem Fluge in höheren Luftschichten ein deutlich hörbares Sausen, welches schärfer als das der größeren Gänse, aber dumpfer als das der Enten klingt. Die Stimme ist sehr einfach: der Lockton besteht aus einem schwer wiederzugebenden Rufe, welcher etwa wie »Knäng« klingt; der Unterhaltungslaut ist ein rauhes und heiseres »Kroch«, der Ausdruck des Zornes, wie gewöhnlich, ein leises Zischen. Nach Art ihrer Verwandten lebt sie nur mit ihresgleichen gesellig und hält sich, wenn sie gezwungen mit anderen vereinigt wird, stets in geschlossenen Haufen. Eine von diesen zufällig abgekommene Ringelgans fliegt ängstlich umher, bis sie wieder andere ihrer Art findet, und fühlt sich nicht einmal unter anderen Meergänsen behaglich. Bringt man sie mit Verwandten zusammen, so zeigt sie sich gegen diese äußerst friedfertig, hauptsächlich wohl deshalb, weil sie sich ihrer Schwäche bewußt ist und ein Gefühl von Furcht nicht verbannen kann. Dem Menschen gegenüber bekundet sie sich als ein Kind des hohen Nordens, welches selten von dem Erzfeinde der Thiere heimgesucht wird. Sie ist weit weniger scheu als die übrigen Gänse und wird erst nach längerer Verfolgung vorsichtig. In der Gefangenschaft beträgt sie sich anfänglich sehr schüchtern, fügt sich aber bald in die veränderten Verhältnisse und gewinnt nach und nach zu ihrem Pfleger warme Zuneigung, kommt auf dessen Ruf herbei, bettelt um Futter und kann, wenn man sich mit ihr abgibt, dahin gebracht werden, daß sie wie ein Hund auf dem Fuße folgt.

Hinsichtlich der Nahrung unterscheiden sich die Meergänse insofern von den unserigen, daß sie neben Gras und Seepflanzen auch Weichthiere fressen. Im hohen Norden werden sie wahrscheinlich alle dort wachsenden Pflanzen weiden; bei uns bevorzugen sie frisches Wiesengras ähnlichen Stoffen. Gefangene gewöhnen sich an Körnerfutter, müssen aber, wenn sie sich länger erhalten sollen, auch andere Pflanzenstoffe, namentlich Grünzeug verschiedener Art, mit erhalten.

Schon die älteren Seefahrer erwähnen, daß die Ringelgänse häufig auf Spitzbergen nisten; Walfisch- und Nordpolfahrer fanden ihre Brutstätten auf allen Eilanden des höchsten Nordens, welche sie betraten. »Diese häufigsten Gänse Spitzbergens«, sagt Malmgren, »brüten sehr zahlreich auf der West-und Nordküste der Insel, ebensowohl auf dem Festlande als auf den Schären, vorzugsweise auf solchen, wo Eidergänse in größeren Mengen nisten. Das aus Wasserpflanzen und deren Blättern sehr unkünstlich zusammengebaute Nest wird oft dicht neben dem der Eiderente angelegt und von dieser häufig beraubt. Das Gelege, welches erst im Juli vollzählig zu sein pflegt, enthält vier bis acht dünnschalige, glanzlose Eier von etwa zweiundsiebzig Millimeter Längs-, siebenundvierzig Millimeter Querdurchmesser und trüb grünlich- oder gelblichweißer Färbung. Beide Gatten eines Paares gefallen sich vor der Brutzeit in gaukelnden Flugkünsten, welche sie in sehr bedeutender Höhe auszuführen pflegen, und das Männchen macht dem Weibchen in ausdrucksvoller Weise den Hof. Am Neste sind beide nicht im geringsten scheu; der Gansert vertheidigt Gattin und Brut gegen jeden nahenden Feind, geht sogar zischend auf den Menschen los, welcher diese oder jene gefährdet. Führt das Paar Junge, so erhöht sich der Muth beider [469] Eltern noch wesentlich. Gegen Ende des Juli tritt die Mauser ein und macht die Alten ebenso flugunfähig wie die Jungen.«

Im hohen Norden stellen Eskimo und Walfischfahrer auch der Ringelgans nach; an den südlichen Küsten wird sie im Herbste und Frühlinge zu tausenden erlegt, in Holland mit Hülfe ausgestellter Lockgänse in noch größerer Anzahl gefangen. Ihr Wildpret gilt als wohlschmeckend, hat jedoch oft einen ranzigen Beigeschmack, welcher nicht jedermann behagen will. Da derselbe von der Muschelnahrung herrührt, pflegt man in Holland die eingefangenen Meergänse einige Zeit lang mit Getreide zu füttern, zu mästen und dann erst zu schlachten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 467-470.
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