Vierzehnte Ordnung: Die Taucher[605] (Urinatores)

An das Ende der Klasse stellen wir die Taucher, die Fischvögel, wie man sie vielleicht nennen könnte. Ihre Merkmale haben allgemeine Gültigkeit. Alle, ohne Ausnahme, kennzeichnen sich durch gestrecktwalzigen, aber doch kräftigen Leib mit weit hinten angesetzten Beinen, mittellangem Halse, mäßig großem Kopfe, kleinen, d.h. kurzen, schmalen und spitzigen Flügeln, welche bei einzelnen zu wahren Flossen werden, und einem dicht anliegenden, zwar reichen, aber harten, glatten Gefieder. Der Schnabel ist verschieden gestaltet, bald dick pfriemenförmig, bald messerklingenartig, weil seitlich sehr zusammengedrückt, stets jedoch kurz, kaum mehr als kopflang, hart und scharfschneidig, der drei- oder vierzehige Fuß entweder mit Schwimmhäuten oder Schwimmlappen ausgerüstet, welche immer nur die drei Vorderzehen verbinden. Der Schwanz kann gänzlich fehlen und ist, wenn vorhanden, stets kurz, sanft gerundet, gewöhnlich aus mehr als zwölf Steuerfedern zusammengesetzt. Die Befiederung zeichnet sich durch Kleinheit und dichte Stellung der Federn aus. Diese wie die Dunen haben einen Afterschaft. Als Farben herrschen Schwarz und Weiß in grellem Gegensatze vor; Prachtfarben sind jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen.

Der Schädel ist hinten verhältnismäßig kurz und breit, zwischen den Augenhöhlen ziemlich verengt, die Augenscheidewand meist nicht geschlossen. Zehn bis neunzehn Hals-, neun bis zehn Rücken-, zwölf bis funfzehn Kreuzbein-, sieben bis zehn Schwanzwirbel bilden die Wirbelsäule und verbinden sich durch lange, weit nach hinten reichende Rippen mit dem langen, schmalen Brustbeine, dessen Kamm wohl entwickelt und dessen Hinterwand ausgeschnitten zu sein pflegt. Die Oberarmknochen sind stets nicht lang, die Handknochen zuweilen verkümmert. Das Becken ist auffallend lang und schmal; die Darmbeine stehen den Kreuzbeinwirbeln nahe; die sehr verlängerten Schambeine werden mit den Sitzbeinen durch eine Knochenbrücke verbunden und biegen sich mit letzteren nach unten. Der Oberschenkel ist kurz, der Unterschenkel oben durch einen Fortsatz ausgezeichnet, der Fußtheil äußerst kurz. Die Zunge ist lang, weich und fleischig, die Speiseröhre nicht zum Kropfe erweitert, der Muskelmagen dünnhäutig.

Der Fischgestalt entsprechend, herbergen die Taucher vorzugsweise im Meere, gehören jedoch nicht zu den Weltbürgern im eigentlichen Sinne des Wortes. Einzelne Familien werden allerdings in allen Gürteln der Erde vertreten: die große Mehrzahl hingegen haust in der Nähe der Pole, die gestaltenreichere Halbschied im Norden, die andere im Süden. Diejenigen, welche auf Binnengewässern leben, werden zum Wandern genöthigt; die Kinder des Meeres können höchstens als Strichvögel angesehen werden. Auf dem Lande sind sie fremd, besuchen es auch nur dann, wenn der Fortpflanzungstrieb in ihnen sich regt.

[605] Ihre Ausrüstung gestattet ihnen, alle Tagesgeschäfte schwimmend abzuthun: schwimmend und tauchend erwerben sie sich ihre Nahrung, schwimmend und tauchend wandern sie, wenigstens die meisten von ihnen, schwimmend ruhen sie sich aus, putzen sie sich ihr Gefieder, vergnügen und überlassen sie sich dem Schlafe. Viele von ihnen fliegen noch recht gut, obschon es scheinen will, als wären die Fittige viel zu schwach, die Last des Leibes zu tragen, als müsse das schwirrende Flügelschlagen sie rasch ermüden; einzelne können gehen, einzelne in gewissem Sinne sogar klettern: bei allen aber dienen die Füße hauptsächlich zum Schwimmen, und bei vielen werden auch die Flügel mehr zum Tauchen im Wasser als zum Durchschneiden der Luft verwendet. Entsprechend einem so einstigen Leben sind ihre übrigen Begabungen entwickelt. Ihre Sinne sind ziemlich scharf; ihre Geisteskräfte dagegen scheinen gering zu sein, weil sie niemals in die Lage kommen, von ihnen vielseitigen Gebrauch zu machen. Während ihres Aufenthaltes am Lande betragen sie sich so, daß wir uns für berechtigt halten, sie dumm zu nennen: für die Anforderungen, welche das Leben im Meere an sie stellt, haben sie Verstand genug. Und Erfahrung lehrt auch sie, sich den Umständen gemäß anders, als sie es gewohnt, zu benehmen. Schon die außerordentliche Geselligkeit, Friedfertigkeit und Dienstwilligkeit, welche die meisten Arten bekunden, spricht für höhere Anlagen des Geistes als wir anzunehmen geneigt sind.

Fische und Krustenthiere, ausnahmsweise Kerfe, bilden ihre Nahrung. In den Mägen einzelner hat man auch Pflanzenstoffe gefunden, und einige verschlingen, sonderbar genug, ihre eigenen Federn: beides aber muß als Ausnahme gelten. Alle erwerben sich die Beute durch eigene Jagd.

Einige Taucher nisten einzeln, die meisten gesellig; jene legen mindestens, diese höchstens zwei Eier. Wenn die Brutzeit herankommt, streben sie vom hohen Meere her gewissen, seit Menschengedenken alljährlich benutzten Brutstellen zu: Felsenwänden, an deren Fuße die Brandung sich bricht, einzeln aus der See sich erhebenden Bergen und Inseln. Es schwimmt, es rudert, es fliegt herbei in dichten Zügen, in unbeschreiblichem Gewimmel. Hunderte gesellen sich zu tausenden, tausende zu hunderttausenden, alle getrieben von demselben Drange. Um die Berge schwirrt und summt es ohne Unterbrechung, scheinbar ohne Rast, ohne Ruhe, auf den Vorsprüngen und Gesimsen drängt sich das unzählbare Heer, welches den ganzen Berg in ein Festgewand kleidet. Jeder Raum wird benutzt, jede Spalte bewohnt, jeder Ritz in Besitz genommen, die Torfrinde, das mürbe Gestein durchwühlt, untergraben. Unbeschreibliches Leben regt sich, und dennoch herrscht ewiger Frieden unter der Gemeinde, welche an Anzahl die unserer größten Städte übertrifft. In diesen geschieht es, daß der Mensch an seinem verhungerten Mitbruder kalt vorübergeht: in den Gemeinden der tiefstehenden Vögel finden sich hunderte, welche nur auf die Gelegenheit warten, Barmherzigkeit zu üben. Das Junge, welches seine Eltern verlor, ist nicht verloren: die Gesammtheit steht ein für das Wohl des einzelnen. Unendliche Liebe kommt auf diesen öden Felsen im Meere zur Geltung. Die Eltern vergessen über ihren Kindern sich selbst.

Doch der innere Frieden wird gestört von außen her. Unten im Meere lauern die Raubfische, um die Berge schweben die gefiederten Räuber. Zu ihnen gesellt sich der Mensch, für welchen diese Vögel die Wachteln der Wüste sind. Hunderttausende von Eiern, hunderttausende von Jungen werden alljährlich eingesammelt auf diesen Bergen, oft angesichts des lauernden Todes. Einer der Bergvögel ist der Rücksichtslosigkeit des Menschen bereits erlegen und hat aufgehört zu sein; die übrigen schützt zur Zeit noch ihre unendliche Menge vor demselben Schicksale.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 605-606.
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