4. Sippe: Schneehühner (Lagopus)

[61] Eine der merkwürdigsten und anziehendsten Gruppen der Familie ist die der Schneehühner (Lagopus), ebensowohl wegen des auffallenden und noch keineswegs genügend erforschten Federwechsels als auch wegen der Lebensweise ihrer Mitglieder. Diese kennzeichnen sich durch sehr gedrungene Gestalt, kleinen, mittellangen und mittelstarken Schnabel, verhältnismäßig kurze Füße, deren Läufe und Zehen mit haarigen Federn bekleidet sind, mittellange Flügel, in denen die dritte Schwinge die längste ist, kurzen, sanft abgerundeten oder geraden, aus achtzehn Federn gebildeten Schwanz sowie durch ein sehr reiches Federkleid, dessen Färbung in der Regel mit der Jahreszeit wechselt. Die Nägel, welche die Zehen bewehren, sind verhältnismäßig die größten, welche die Rauchfußhühner überhaupt besitzen, und an ihnen zeigt sich der jährliche Wechsel am deutlichsten. Die Geschlechter unterscheiden sich wenig, und die Jungen erhalten bald das Kleid ihrer Eltern.

Der Abend eines der letzten Maitage war schon ziemlich vorgerückt, als wir, mein junger Begleiter und ich, die an der Landstraße von Christiania nach Drontheim gelegene Haltestelle Fogstuen auf dem Dovrefjeld erreichten. Wir hatten eine lange Reise zurückgelegt und waren müde; [61] aber alle Beschwerden des Weges wurden vergessen, als sich uns der bereits erwähnte norwegische Jäger Erik Swenson mit der Frage vorstellte, ob wir wohl geneigt seien, auf »Ryper« zu jagen, welche gerade jetzt in vollster Balze stünden. Wir wußten, welches Wild wir unter dem norwegischen Namen zu verstehen hatten, weil wir uns bereits tagelang bemüht hatten, dasselbe ausfindig zu machen. Das Jagdgeräth wurde rasch in Stand gebracht, ein Imbiß genommen und das Lager aufgesucht, um für die morgende Frühjagd die nöthigen Kräfte zu gewinnen. Zu unserer nicht geringen Ueberraschung kam es aber für diesmal nicht zum Schlafen; denn unser Jäger stellte sich bereits um die zehnte Stunde ein und forderte uns auf, ihm jetzt zu folgen. Kopfschüttelnd gehorchten wir, und wenige Minuten später lag das einsame Gehöft bereits hinter uns.

Die Nacht war wundervoll. Es herrschte jenes zweifelhafte Dämmerlicht, welches unter so hohen Breiten um diese Zeit den einen Tag von dem anderen scheidet. Wir konnten alle Gegenstände auf eine gewisse Entfernung hin unterscheiden. Wohlbekannte Vögel, welche bei uns zu Lande um diese Zeit schon längst zur Ruhe gegangen sind, ließen sich noch vernehmen: der Kukukruf schallte aus dem nahen Birkengestrüppe uns entgegen; das »Schak, schak« der Wacholderdrossel wurde laut, so oft wir eins jener Dickichte betraten; von der Ebene her tönten die hellen, klangvollen Stimmen der Strandläufer und die schwermüthigen Rufe der Goldregenpfeifer; der Steinschmätzer schnarrte dazu, und das Blaukehlchen gab sein köstliches Lied zum besten.

Unser Jagdgebiet war eine breite, von aufsteigenden Bergen begrenzte Hochebene, wie sie die meisten Gebirge Norwegens zeigen, ein Theil der Tundra. Hunderte und tausende von Bächen und Rinnsalen zerrissen den fahlen gilblichen Teppich, welchen die Flechte auf das Geröll gelegt hatte, hier und da zu einer größeren Lache sich ausbreitend, auch wohl zu einem kleinen See sich vereinigend. Das Gestrüpp der Zwergbirke säumte die Ufer und trat an einzelnen Stellen zu einem Dickichte zusammen. Auf der Hochebene selbst war der Frühling bereits eingezogen; an den sie einschließenden Berglehnen hielten hartkrustige Schneefelder den Winter noch fest.

Diesen Berglehnen und Schneefeldern wandten wir uns zu, schweigsam, erwartungsvoll und auf die verschiedenen Stimmen, welche um uns her laut wurden, mit Aufmerksamkeit und Wohlgefallen hörend. Etwa vierhundert Schritte mochten wir in dieser Weise zurückgelegt haben, da blieb unser Führer stehen und lauschte und äugte wie ein Luchs in die Dämmerung hinaus. Daß seine Aufmerksamkeit nicht den erwähnten Vögeln galt, wußten wir; von dem Vorhandensein anderer Thiere aber konnten wir nicht das geringste wahrnehmen. Erik Swenson jedoch mußte seiner Sache wohl sicher sein; denn er begann, nachdem er uns Schweigen geboten, mit dem erwarteten Wilde zu reden, indem er mit eigenthümlicher Betonung einige Male hinter einander die Silben »Djiake, djiake, dji-ak, dji-ak« ausrief. Unmittelbar nach seinem Lockrufe hörten wir in der Ferne das Geräusch eines aufstehenden Huhnes, und in demselben Augenblicke vernahmen wir auch einen schallenden Ruf, welcher ungefähr wie »Err-reck-eck-eck-eck« klang. Dann ward wieder alles still. Aber der Alte begann von neuem zu locken, schmachtender, schmelzender, hingebender, verführerischer, und ich merkte jetzt, daß er die Liebeslaute des Weibchens jenes Hühnervogels nachahmte. Auf das »Djiak«, welches den liebesglühenden Hahn aufgerührt hatte, folgte jetzt ein zartes, verlangendes und Gewährung verheißendes »Gu, gu, gu, gurr«; der erregte Hahn antwortete in demselben Augenblicke, das Flügelgeräusch wurde stärker, wir fielen hinter den Büschen nieder: und unmittelbar vor uns, auf blendender Schneefläche, stand ein Hahn in voller Balze. Es war ein Anblick zum Entzücken! Aber das Jägerfeuer war mächtiger als der Wunsch des Forschers, solch Schauspiel zu genießen. Ehe ich wußte, wie, war das erprobte Gewehr an der Wange, und bevor der Hahn einen Laut von sich gegeben, wälzte er sich in seinem Blute.

Der Knall des Schusses erweckte den Widerhall, aber auch die Stimmen aller gefiederten Bewohner unseres Gebietes. Von den Bergen hernieder und von der Thalsohle herauf ließen sich Stimmen vernehmen; wenige Schritte vor uns rauschte eine Entenschar vom Wasser auf; ein aufgescheuchter Kukuk flog durch das Dämmerungsdunkel an uns vorüber; Regenpfeifer und Strandläufer [62] trillerten und flöteten. Allmählich wurde es wieder ruhig, und wir setzten unseren Weg fort, den aufgenommenen Hahn mit Waidmannslust betrachtend. Schon wenige hundert Schritte weiter ließ der Alte wieder seine verführerischen Laute hören, und diesmal antwortete anstatt eines Hahnes deren zwei. Ganz wie vorhin wurde der hitzigste von ihnen herbeigezaubert; jetzt aber gönnte ich mir die Freude der Beobachtung.

Am entgegengesetzten Ende des Schneefeldes fiel der stolze Vogel ein, betrat leichten Ganges die Bühne und lief gerade auf uns zu. Es war noch hell genug, daß wir ihn schon in der Ferne deutlich wahrnehmen konnten. Aber der liebesrasende Gesell dachte nicht an Gefahr und kam näher und näher, bis auf einige Schritte an uns heran. Das Spiel halb erhoben, die Fittige gesenkt, den Kopf niedergebeugt: so lief er vorwärts. Da mit einem Male schien er sich zu verwundern, daß die Lockungen geendet hatten, und nun begann er seinerseits sehnsüchtig zu rufen. Mehrmals warf er den Kopf in sonderbarer Weise nach hinten, und tief aus dem Innersten der Brust heraus klangen, dumpfen Kehllauten vergleichbar, abgesetzte Rufe, welche man durch die Silben »Gabâu, gabâu« einigermaßen deutlich ausdrücken kann; dieselben Laute, welche die Norweger durch die Worte »Hvor er hun« – wo ist sie? – übersetzen. Und der Alte war wirklich so kühn, mit seiner Menschenstimme zu antworten, den Hahn glauben zu machen, daß das Weiblein, die ersehnte Braut, sich bloß im Gebüsche versteckt habe. Leiser und schmachtender als je rief er wiederholt in der vorhin angegebenen Weise, und eilfertig rannte der Hahn mit tief gesenktem Kopfe und Flügeln herbei, dicht an uns heran und buchstäblich über unsere Beine weg; denn wir lagen natürlich der Länge nach auf dem Schnee. Doch jetzt mochte er seinen Irrthum wohl eingesehen haben; er stand plötzlich auf, stiebte davon und rief allen Mitbewerbern ein warnendes, leises Knurren zu. Und nunmehr mochte der alte Jäger locken, wie er wollte: das Liebesfeuer der zahlreich versammelten Hähne schien gedämpft zu sein, ihre Brunst wurde durch ein wohlberechtigtes Bedenken überwogen.

Doch wir zogen weiter und verhielten uns auf eine Strecke von mehreren Minuten ganz ruhig, bis unser Führer glaubte, daß wir in das Gebiet noch ungestörter Hähne eingetreten wären. Dort wurde die Jagd fortgesetzt, und ich erlegte nach den ersten Lockungen einen zweiten und wenige Minuten später den dritten Hahn. Jetzt aber schienen die Vögel gewitzigt worden zu sein; es war vorüber mit der Jagd, nicht jedoch auch vorüber mit der Beobachtung. Denn zu meiner Freude bemerkte ich, daß fortan die Weibchen, wel che sich bisher ganz unsichtbar gemacht hatten, das Amt des Warners übernahmen, um ihre Liebhaber von dem Verderben abzuhalten. Wir wandten uns daher dem Gehöfte zu, störten unterwegs noch viele, viele Paare der anziehenden Vögel auf und kamen mit Anbruch des Tages in unserer zeitweiligen Wohnung wieder an.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 61-63.
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