Riesenreiher (Ardea Goliath)

[372] Endlich mag noch der aus Mittel- und Südafrika stammende Riesenreiher (Ardea Goliath, gigantodes und nobilis, Andromega Goliath und nobilis) aufgeführt werden. Oberkopf und Schopffedern, Kopf und Flügelbug und Untertheile, mit Ausnahme der weißen Kehle, sind kastanienroth braun, Hinterhals und Halsseiten heller, die übrigen Obertheile bläulich aschgrau, die flatternden Vorderhalsfedern außen weiß, innen schwarz, oft auch rostbraun geschaftet. Das Auge ist gelb, der Zügel grün, der Oberschnabel schwarz, der Unterschnabel an der Spitze grüngelb, an der Wurzel veilchenfarben, der Fuß schwarz. Die Länge beträgt einhundertsechsunddreißig, [372] die Breite einhundertsechsundachtzig, die Fittiglänge fünfundfunfzig, die Schwanzlänge einundzwanzig Centimeter.

Alle genannten Reiher ähneln in ihrem Thun und Treiben dem Fischreiher so, daß ich mich auf dessen Lebensschilderung beschränken darf.

Gewässer aller Art, vom Meere an bis zum Gebirgsbache, bilden dessen Aufenthaltsort, bezüglich dessen Jagdgebiet; denn die einzige Bedingung, welche er an das Gewässer zu stellen hat, ist Seichtigkeit. Er besucht die kleinsten Feldteiche, Wassergräben und Lachen, ebenso, wenigstens in der Winterherberge, seichte Meerbusen und Küstengewässer, bevorzugt jedoch Gewässer, in deren Nähe es Waldungen oder wenigstens hohe Bäume gibt; auf letzteren pflegt er der Ruhe. An Scheu und Furchtsamkeit übertrifft er alle anderen Arten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ihm am eifrigsten nachgestellt wird. Jeder Donnerschlag entsetzt ihn, jeder Mensch, den er von ferne sieht, flößt ihm Bedenken ein.


Riesenreiher (Ardea Goliath), im Hochzeitskleide. 1/5 natürl. Größe.
Riesenreiher (Ardea Goliath), im Hochzeitskleide. 1/5 natürl. Größe.

Ein alter Reiher läßt sich sehr schwer überlisten, weil er jede Gefahr würdigt und bei der Flucht berechnend zu Werke geht. Die Stimme ist ein kreischendes »Kräik«, der Warnungslaut ein kurzes, »Ka«; andere Laute scheint er nicht auszustoßen.

[373] Die Nahrung besteht aus Fischen bis zu zwanzig Centimeter Länge, Fröschen, Schlangen, insbesondere Nattern, jungen Sumpf- und Wasservögeln, Mäusen, Kerbthieren, welche im Wasser leben, Muscheln und Regenwürmern. »Angelangt am Teiche«, schildert Naumann, »die Nähe des Lauschers nicht ahnend, gehen die Reiher gewöhnlich sogleich ins seichte Wasser und beginnen ihre Fischerei. Den Hals niedergebogen, den Schnabel gesenkt, den spähenden Blick auf das Wasser geheftet, schleichen sie in abgemessenen, sehr langsamen Schritten und so behutsam und leisen Trittes, daß man nicht das geringste Plumpen oder Plätschern hört, im Wasser und in einer solchen Entfernung vom Uferrande entlang, daß ihnen das Wasser kaum bis an die Fersen reicht. So umkreisen sie, schleichend und suchend, nach und nach den ganzen Teich, werfen alle Augenblicke den zusammengelegten Hals wie eine Schnellfeder vor, so daß bald nur der Schnabel allein, bald auch noch der ganze Kopf dazu unter die Wasserfläche und wieder zurückfährt, fangen fast immer einen Fisch, verschlucken ihn sogleich oder bringen ihn zuvor im Schnabel in eine verschluckbare Lage, den Kopf nach vorn, und verschlingen ihn dann. Wenn der erzielte Fisch zu tief im Wasser gestanden hat, fährt der Reiher mit dem ganzen Halse hinunter, wobei er, um das Gleichgewicht zu behalten, jedesmal die Flügel etwas öffnet und mit deren Vordertheilen das Wasser so stark berührt, daß es plumpt. Es ist mir auch vorgekommen, daß ein solcher Schleicher plötzlich Halt machte, einige Augenblicke still stand und sogleich einen Fisch erwischte, wahrscheinlich weil er zwischen mehrere dieser flinken Wasserbewohner trat, welche nicht gleich wußten, wohin sie fliehen sollten und ihn in augenblickliche Verlegenheit brachten; denn er ist gewöhnt, sicher zu zielen und stößt selten fehl, wird auch nie einen zweiten Stoß auf den verfehlten Fisch anbringen können. Frösche, Froschlarven und Wasserkerfe sucht er ebenfalls schleichend auf. Die ersteren verursachen ihm, wenn sie etwas groß sind, viele Mühe; er sticht sie mit dem Schnabel, wirft sie weg, fängt sie wieder auf, gibt ihnen Kniffe usw., bis sie halb todt mit dem Kopfe vorn hinabgeschlungen werden.«

Der Fischreiher brütet auch in Deutschland gern in Gesellschaft und bildet hier und da Ansiedelungen oder Reiherstände, welche funfzehn bis hundert und mehr Nester zählen und ungeachtet aller Verfolgungen jährlich wieder bezogen werden, selbst wenn die Brutvögel vom nächsten Wasser aus zehn Kilometer und weiter fliegen müssen, um sie zu erreichen. In der Nähe der Seeküsten gesellt sich die Scharbe regelmäßig zu den Reihern, wahrscheinlich weil es ihr bequem ist, deren Horst zu benutzen. Bäume und Boden werden vom Kothe der Vögel weiß übertüncht, alles Laub verdorben; faulende Fische verpesten die Luft; kurz, es gibt hier, wie Naumann sagt, »der Unfläterei und des Gestankes viel«. Im April erscheinen die alten Reiher an den Nestern, bessern sie, soweit wie nöthig, aus und beginnen hierauf zu legen. Der Horst ist etwa einen Meter breit, flach und kunstlos aus dürren Stöcken, Reisern, Rohrstengeln, Schilfblättern, Stroh zusammengebaut, die seichte Mulde mit Borsten, Haaren, Wolle, Federn nachlässig ausgelegt. Die drei bis vier, durchschnittlich sechzig Millimeter langen, dreiundvierzig Millimeter dicken stark- und glattschaligen Eier sehen grün aus. Nach dreiwöchentlicher Bebrütung entschlüpfen die Jungen, unbehülfliche und häßliche Geschöpfe, welche von einem beständigen Heißhunger geplagt zu sein scheinen, unglaublich viel fressen, einen großen Theil ihrer Nahrung vor lauter Gier über den Rand des Nestes herabwerfen, länger als vier Wochen im Horste verweilen, auf das warnende »Ka« ihrer Eltern sich drücken, sonst oft aufrecht stehen und endlich, nachdem sie völlig flügge geworden sind, sich entfernen. Die Eltern unterrichten sie noch einige Tage und überlassen sie dann ihrem Schicksale; alt und jung zerstreut sich, und der Reiherstand verödet.

Edelfalken und große Eulen, auch wohl einzelne Adler, greifen die Alten an, schwächere Falken, Raben und Krähen plündern die Nester. »Auffallend«, sagt Baldamus, »ist die wirklich lächerliche Furcht dieser mit so gefährlicher Waffe ausgerüsteten Reiher vor allen Raubvögeln, und selbst vor Krähen und Elstern. Die Räuber scheinen das auch zu wissen; denn sie plündern jene Ansiedelungen mit einer großartigen Unverschämtheit, holen die Eier und Jungen mitten aus dem dichtesten Schwarme heraus, ohne daß sie mehr als gräßliches Schreien, furchtsames Zurückweichen, einen [374] weit aufgesperrten Rachen und höchstens einen matten Flügelschlag zu erwarten haben. Wohl aber habe ich gesehen, daß ein ziemlich erwachsener junger Reiher mit gesträubtem Gefieder und aufgeblasener Kehle nach einer Elster stieß, welche ein auf den Rand seines Nestes gestütztes Nachtreihernest plünderte. Auch gegen den Menschen setzen sich solche junge Reiher faucheud und stechend zur Wehre, aber nur dann, wenn sie, auf den äußersten Rand ihres Nestes gedrängt, zur Verzweiflung getrieben sind.«

Die Reiherbaize, welche früher in ganz Europa üblich war, ist gegenwärtig nur noch bei den Asiaten, beispielsweise in Indien, und ebenso bei einigen Stämmen der Araber in Nordafrika im Schwange. Sowie der Reiher den Falken auf sich zukommen sah, spie er zunächst die eben gefangene Nahrung aus, um sich zu erleichtern, und stieg nun so eilig wie möglich hoch zum Himmel empor, wurde aber freilich vom Falken sehr bald überholt und nunmehr von oben angegriffen. Dabei hatte sich dieser sehr in Acht zu neh men, weil der Reiher stets den spitzigen Schnabel zur Abwehr bereit hielt. Konnte der Falke sein Opfer packen, so stürzten beide wirbelnd zum Boden herab. Hatte er es mit einem erfahrenen Reiher zu thun, so währte die Jagd länger; schließlich aber kam der Reiher doch auch hernieder, weil er vor Ermüdung nicht länger fliegen konnte. Die wunderbaren Schwenkungen, das Steigen und Herabstürzen, die Angriffe und die Abwehr beider Vögel gewährte ein prachtvolles Schauspiel. Hielt der Jäger den Reiher in der Hand, so begnügte er sich in der Regel, ihm die Schmuckfedern auszuziehen, oder nahm ihn mit nach Hause, um junge Falken an ihm zu üben. Nicht selten legte man dem Reiher einen Metallring mit Namen des Fängers und der Tagesangabe des Fanges um die Ständer und ließ ihn hierauf wieder fliegen. So soll derselbe Reiher wiederholt gebaizt worden sein, und man erfahren haben, daß der Vogel ein Alter von funfzig und mehr Jahren erreicht.

Gefangene lassen sich mit Fischen, Fröschen und Mäusen leicht aufziehen, dürfen aber nicht mit anderem Hausgeflügel zusammengehalten werden, da sie Küchlein und junge Enten ohne weiteres wegnehmen und verzehren. Die schon von Naumann angeführte Beobachtung, daß der Fischreiher die Sperlinge fängt, kann ich infolge eigener Erfahrung durchaus bestätigen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 372-375.
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