Sechste Familie: Störche (Ciconidae)

[345] Die Störche (Ciconidae) sind verhältnismäßig plump gebaute, dickschnäbelige, hochbeinige, aber kurzzehige Sumpfvögel. Ihr Schnabel ist lang, gerade, gestreckt kegel- und keilförmig, zuweilen etwas nach oben gebogen, bei anderen in der Mitte klaffend, gegen die Spitze hin seitlich zusammengedrückt, das Bein sehr lang, stark, weit über die Fersengelenke hinauf unbefiedert, der kurzzehige Fuß zwischen den Vorderzehen mit kleinen Spannhäuten ausgerüstet und mit dicken, kuppigen Krallen bewehrt, der Flügel groß, lang und breit, im Fittige die dritte und vierte Schwinge die längste, der zwölffederige, kurze Schwanz abgerundet, das Kleingefieder am Kopfe und Halse entweder schmal und länglich, oder kurz und abgerundet, bei einzelnen spärlich und wollig, selbst haarig, bei anderen endlich im Alter durch hornige, lanzenförmige Spitzen ausgezeichnet. Beide Geschlechter unterscheiden sich durch die Größe, die Jungen durch mattere Farben von den Alten.

Das durch viele luftführende Knochen ausgezeichnete Gerippe ist kräftig und stämmig, die Hirnschale stark gewölbt, die knöcherne Scheidewand der Augenhöhlen vollständig. Die Wirbelsäule besteht aus funfzehn Hals-, sieben Rücken- und sieben Schwanzwirbeln; die Rückenwirbel verwachsen nicht mit einander, und nur der letztere verschmilzt mit den Lendenwirbeln zu einem Stücke. Das Brustbein ist viereckig, am Hinterrande einmal ausgebuchtet, der Kiel gegen den Hals hin sehr erhöht. Die Zunge steht mit der Länge des Schnabels in keinem Verhältnisse, sondern ist eine echte Kümmerzunge von länglich dreieckiger Gestalt, überall ganzrandig, glatt und nicht hornig; der Schlund erweitert sich und geht unmittelbar in den Vormagen über, welcher sich auch von dem Magen äußerlich kaum unterscheiden läßt. Die Luftröhre fällt zumal in Ansehung des mangelnden unteren Kehlkopfes und der bedeutenden Länge und Steifheit der Aeste auf.

Störche leben in allen Erdtheilen, auch fast in jedem Gürtel. Die Aufenthaltsorte der zwanzig bekannten Arten sind verschieden; doch darf man im allgemeinen sagen, daß sie waldige, ebene, wasserreiche Gegenden den höheren und trockeneren vorziehen und demgemäß Gebirgen oder Steppen und Wüsten fehlen. Die nordischen Arten gehören zu den Zugvögeln, und durchwandern meist ungeheuere Strecken; die im Süden lebenden streichen. Sie sind nur bei Tage thätig, tragen sich aufrecht, den Hals fast ganz oder nur sanft S-förmig gebogen, gehen schreitend mit gewissem Anstande, waden gerne im Wasser umher, entschließen sich aber nur ausnahmsweise zum Schwimmen, fliegen sehr schön, leicht und meist hoch, nicht selten schwebend, oft in prachtvollen Schraubenlinien kreisend, strecken dabei Hals und Beine gerade von sich und nehmen so im Fluge eine sie von weitem kennzeichnende Gestalt an. Abgesehen von einem heiseren Zischen, lassen sie keinen Laut vernehmen, wissen diesem Mangel aber durch lautes und ausdrucksvolles Schnabelgeklapper abzuhelfen. Sie benehmen sich ernst und würdig, beweisen auch, daß sie sehr klug sind und die Verhältnisse wohl zu beurtheilen verstehen. Mehrere Arten haben sich freiwillig unter den Schutz des Menschen gestellt und sind zu halben Hausthieren geworden, geben sich aber nicht zu Sklaven her, sondern bewahren unter allen Umständen ihre Selbständigkeit. Unter sich leben sie gesellig und mit größeren Sumpf- und Wasservögeln in gutem Einvernehmen, nicht aber in Freundschaft; kleineren Thieren werden sie gefährlich: denn sie sind Räuber von Gewerbe und beschränken sich keineswegs auf Lurche, Fische, Kerbthiere und Würmer, sondern stellen überhaupt [345] allen schwächeren Thieren nach und tödten diejenigen, welche sie erlangen können, gehen selbst Aas an und zeigen sich dabei ebenso gierig wie Hiänen oder Geier. Trotz ihrer Raubgier werden sie selten lästig oder schädlich, in der Regel eher nützlich. Ihre großen Nester erbauen sie aus dürren Reisern und Stöcken, deren Mulde mit weicheren Dingen ausgekleidet wird, auf hohen Bäumen oder Gebäuden. Das Gelege zählt wenige, aber große, fleckenlose Eier, welche vom Weibchen allein ausgebrütet, aber auch vom Männchen sehr geliebt werden. Letzteres trägt der Gattin, so lange sie sitzt, die nöthige Nahrung zu und betheiligt sich auch später an der Aufzucht der Jungen. Alle Arten lassen sich zähmen, leicht ernähren und so an den Menschen oder wenigstens an dessen Gehöft gewöhnen, daß sie nicht bloß aus- und einfliegen, sondern sogar den Winter hier verbringen oder, wenn sie durch die Wanderlust zum Zuge sich verleiten ließen, im nächsten Frühlinge zurückkehren. Sie erfreuen durch ihre Klugheit, durch den Ernst und die Würde ihres Wesens sowie durch ihre Anhänglichkeit an den Pfleger, nützen auch im Gehöfte durch Jagd auf allerlei Ungeziefer, gehören aber nicht zu den billigsten Kostgängern, weil sie viel Futter bedürfen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 345-346.
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