Steinwälzer (Strepsilas interpres)

[270] Unter dem kleinen Strandgewimmel, welches die Küste des Meeres belebt, bemerkt man hier und da auch einen schön gezeichneten, äußerst lebendigen Vogel, welcher sich von den übrigen nicht bloß durch seine Gestalt, sondern in mancher Hinsicht auch durch sein Betragen auszeichnet. Man hat diesen Vogel, den Steinwälzer, so ziemlich auf der ganzen Erde gefunden, an den Küsten Islands und Skandinaviens wie an denen Griechenlands, Süditaliens und Spaniens, in Neuholland wie in Mittelamerika und Brasilien, in Egypten wie am Vorgebirge der Guten Hoffnung, in China wie in Indien, überall aber vorzugsweise am Meere und nur während der Zugzeit, jedoch immer sehr einzeln, an Binnengewässern. Er ist also Weltbürger in des Wortes eigentlicher Bedeutung.

Der Steinwälzer, Steindreher, Dolmetscher usw. (Strepsilas interpres, collaris, borealis, littoralis und minor, Arenaria cinerea und interpres, Tringa interpres, morinella, [270] hudsonica und oahuensis, Morinella collaris, Cinclus interpres und morinella, Charadrius cinclus), darf als Vertreter einer besonderen Unterfamilie (Strepsilinae) betrachtet werden und bildet in unseren Augen ein Verbindungsglied zwischen Hühnerstelzen und Schnepfen. Der Leib ist kräftig, der Kopf verhältnismäßig groß und hochstirnig, der Schnabel kürzer als der Kopf, kegelförmig, ein wenig und sanft aufwärts gebogen, auf der Firste abgeplattet und durchgehends hart, das Bein verhältnismäßig niedrig, aber kräftig, der Fuß vierzehig, der Flügel lang und spitzig, in ihm die erste Schwinge die längste, das Oberarmgefieder bedeutend verlängert, der zwölffederige Schwanz kaum mittellang, sanft abgerundet, das Gefieder ziemlich reich, jedoch knapp anliegend, durch lebhafte Färbung ausgezeichnet. Nitzsch fand bei Zergliederung alle wesentlichen Merkmale der Regenpfeifer, hebt aber als bezeichnend hervor: die Schmalheit der Stirnbeine, die Kürze der Fußwurzeln und die ungemeine Stärke des Muskels, welche den Unterkiefer abzieht und den Schnabel öffnet.


Steinwälzer (Strepsilas interpres). 1/2 natürl. Größe.
Steinwälzer (Strepsilas interpres). 1/2 natürl. Größe.

Beim alten Vogel im Sommerkleide sind Stirne, Wangen, ein breites Halsband im Nacken, Unterrücken, Kehle und Unterdeckfedern der Flügel sowie ein Streifen über dem Flügel rein weiß, ein Streifen, welcher auf der Stirne beginnt, neben dem Auge vorüber und am Halse herabläuft, der Vorderhals, die Seiten des Halses und der Brust schwarz, die Federn des Mantels schwarz und roth gefleckt, die des Scheitels weiß und schwarz in die Länge gestreift, die Flügeldeckfedern kastanienbraunroth, schwarz gefleckt; der Bürzel zeigt eine breite braune Binde; die Schwingen sind schwärzlich, die Steuerfedern an der Wurzel und an der Spitze weiß, gegen das Ende hin von einer breiten schwarzen Binde durchzogen. Das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, der Fuß orangegelb. Die Länge beträgt vierundzwanzig, die Breite achtundvierzig, die [271] Fittiglänge funfzehn, die Schwanzlänge sechs Centimeter. Im Herbste und Winter wird das Kleid durch die breiten Federränder unscheinbar. Bei den Jungen ist der Oberkörper schwärzlich graubraun, rost- und ockergelb, der Vorderkörper grauschwarz.

Man darf annehmen, daß der Steinwälzer hauptsächlich den Meeresküsten entlang zieht und deshalb so selten das Innere des Landes besucht. Im Norden wie im Süden unseres heimatlichen Erdtheiles kann man beobachten, daß sein Zug ebenso regelmäßig geschieht wie bei anderen Strandvögeln. In Skandinavien, auf Island und in Grönland erscheinen die ersten Steinwälzer von den letzten Tagen des April an bis zur Mitte des Mai und verlassen diese Gegend schon zu Ende des August wieder. Zur selben Zeit gewahrt man die ersten bereits an der Küste des Mittelmeeres und zwar an der nördlichen ebenso gut wie an der südlichen. In der Sommerherberge lebt der Vogel paarweise und nur um die Zugzeit in kleineren Gesellschaften; in der Winterherberge vereinigt er sich zwar hauptsächlich mit den kleinen Strandläufern, bildet aber doch auch selbständige Flüge, welche bis zu bedeutender Anzahl anwachsen können. Letztere entfernen sich nur dann von der eigentlichen Küste des Meeres, wenn in deren Nähe ein Salzwassersee liegt.

Schönheit des Gefieders, Lebhaftigkeit, Munterkeit und leichte Bewegung zeichnen den Steinwälzer aus. Eigentlich ruhig sieht man ihn selten; höchstens in den Mittagsstunden verträumt er ein paar Minuten, still auf einer und derselben Stelle sitzend. Während der Zeit des übrigen Tages ist er in steter Bewegung, vom Morgen bis nach Sonnenuntergang, oft auch noch des Nachts. Er geht trippelnd, wenn er Nahrung sucht, ziemlich langsam, vermag aber rennend ungemein rasch weite Strecken zu durchmessen, obgleich er die Gewohnheit hat, ein Stück schußweise fortzulaufen, dann auf irgend einer kleinen Erhöhung eine Zeitlang still zu halten und von neuem wegzuschießen. Im Fluge bekundet er die Meisterschaft seiner Verwandten, versteht pfeilschnell dahinzufliegen, gewandt zu schwenken und zu wenden und bewegt sich dicht über der Erde fort ebenso sicher wie in höheren Luftschichten. Seine Stimme mag als ein gellendes, schneidendes Pfeifen bezeichnet werden; denn sie besteht nur aus einem Laute, welchen man durch die Silbe »Kie« etwa wiedergeben kann. Dieser eine Laut wird bald länger gedehnt, bald schnell nacheinander hervorgestoßen, so daß er sehr verschieden in das Ohr des Beobachters fällt. Am Meeresstrande gehört der Steinwälzer überall zu den vorsichtigsten Vögeln. Er läßt gern andere, größere Strandvögel für seine Sicherheit wachen, übernimmt aber, wenn er sich unter den kleineren Strandläufern umhertreibt, auch seinerseits das Amt des Warners oder Wächters und weiß sich sehr bald Beachtung, ja einen gewissen Gehorsam zu verschaffen. Verfolgung macht ihn überaus scheu.

So lange er in Tätigkeit ist, geht er seiner Nahrung nach. Diese besteht aus allerlei kleinem Meergethiere, vorzugsweise also aus Würmern und zarten Muschelthieren, welche er aus dem Sande bohrt, oder durch Umdrehen der Steine erbeutet: daher sein Name. Kerbthiere, welche sich über der Flutgrenze aufhalten, werden von ihm selbstverständlich auch mitgenommen; sein eigentliches Weidegebiet aber ist der Küstenstreifen, welcher von der Ebbe trocken gelegt wird und also nur ausnahmsweise Kerfe beherbergt.

Zur Niststelle wählt er sich am liebsten kleine, flache Sandinseln oder kiesige Stellen am Gestade. Aus den Beobachtungen Schillings scheint hervorzugehen, daß er solche Inseln, welche mit kurzem Heidekraute und einzelnen verkrüppelten Wacholderbüschen bestanden sind, anderen vorzieht; Holland beobachtete, daß er Plätze erwählt, auf denen höhere Gras- oder Binsenbüschel stehen, unter denen dann das Nest angelegt wird. Während der Brutzeit scheint er sich hier und da tiefer in das Innere des Landes zu begeben, so zum Beispiel auf Island. Das Nest ist eine mit wenigen Hälmchen dürftig ausgelegte Vertiefung. Die vier Eier ähneln entfernt denen des Kiebitzes, sind aber kleiner, etwa vierzig Millimeter lang, dreißig Millimeter dick, glattschalig und auf graubraunem, gelblicholiven- oder seegrünem Grunde mit dunkelbraunen, ölgrauen und schwärzlich olivenfarbigen Flecken und Punkten, auch wohl mit Schnörkeln gezeichnet, am dicken Ende dichter als an der Spitze. Beide Eltern legen ihre warme Liebe für die Brut durch [272] Schreien, ängstliches Umherfliegen und lebhafte Geberden an den Tag. Die Jungen betragen sich nach Art der Regenpfeifer.

Gefangene Steinwälzer gelangen nicht oft in unsere Käfige, dauern jedoch, mindestens bei magerem Futter, einige Jahre aus und werden sehr zahm.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 270-273.
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