Fünfte Ordnung. Die Raubvögel[519] (Accipitres)

Wollten wir bei den Vögeln in demselben Sinne von Raubthieren sprechen, wie wir es bei den Säugethieren gethan haben, so würden wir kaum eine einzige Ordnung als Nichträuber kennen lernen. Es ist bezeichnend für die Säugethiere, daß es unter ihnen Familien und Ordnungen gibt, welche durchaus verschmähen, von thierischen Stoffen sich zu ernähren; denn bei allen übrigen Klassen der Wirbelthiere ist solches nicht der Fall. Die Vögel ihrer großen Menge nach sind Raubthiere, und gerade diejenigen, welche wir als die harmlosesten anzusehen uns gewöhnt haben, unsere Singvögel, leben fast ausschließlich von anderen Thieren und verzehren Früchte oder Körner nur nebenbei. Demungeachtet ist es gebräuchlich geworden, bei den Vögeln den Begriff »Raubthier« auf eine einzige Ordnung zu beschränken; wir nehmen sogar die Strand- und Seevögel aus, wenn wir von Raubvögeln sprechen, obwohl sie sich ausschließlich fast von Wirbelthieren ernähren. Ich lasse es dahingestellt sein, ob eine so milde Beurtheilung der räuberischen Thätigkeit der Vögel auf die Liebe zu den gefiederten Geschöpfen überhaupt sich begründet oder auf der Anerkennung des Nutzens beruht, welchen wenigstens die kleinen gefiederten Räuber uns leisten.

Die räuberische Thätigkeit der Vögel tritt jedoch bei einer Ordnung besonders hervor, und hat daher auch in dem Namen derselben Ausdruck gefunden. Fast alle hierher gehörigen Arten ernähren sich so gut wie ausschließlich von anderen Thieren, stellen ihnen eifrig nach und verfolgen sie in länger oder kürzer währender Jagd in der Luft oder auf dem Boden, im Gezweige der Bäume oder selbst im Wasser, tödten sie, nachdem sie dieselben ergriffen haben, oder nehmen die von ihnen aufgefundenen Leichen in Besitz, handeln mit einem Worte ganz nach Art der Raubsäugethiere. Sie sind es, welche wir Raubvögel nennen.

Die Raubvögel sind große, mittelgroße oder kleine Mitglieder ihrer Klasse. Mehrere von ihnen erreichen eine Größe, welche nur von wenigen Lauf- und Schwimmvögeln überboten wird, einzelne stehen einer Lerche an Leibesumfang gleich. Zwischen diesen beiden äußersten sind alle Größen unter ihnen vertreten. Wie bedeutend die Verschiedenheit hierin aber auch sein möge: das allgemeine Gepräge ist fast ausnahmslos zu bemerken und der Raubvogel nicht zu verkennen. Eine derartige Uebereinstimmung verschiedener Thierarten deutet, wie wir zu bemerken wiederholt Gelegenheit hatten, stets auf eine hohe Stellung oder doch auf große Vollkommenheit der betreffenden Thiere selbst.

Es ist nicht schwer, die Raubvögel im allgemeinen zu kennzeichnen. Ihr Leib hat mit dem der Papageien viel Aehnlichkeit. Er ist kräftig, gedrungen, breitbrüstig; seine Glieder sind, ungeachtet ihrer zuweilen fast unverhältnismäßig erscheinenden Länge, stark und verrathen Fülle von [519] Kraft. Der Kopf ist, wie bei den vollkommensten aller Vögel, groß, wohlgerundet, nur ausnahmsweise verlängert, der Hals gewöhnlich kurz und kräftig, letzteres selbst dann, wenn er ungewöhnliche Länge erreicht, der Rumpf kurz und, namentlich auf der Brustseite, stark; die Arm- und Fußglieder zeigen dasselbe Gepräge: und so würde ein Raubvogel auch dann noch leicht zu erkennen sein, wenn man ihn betrachten wollte, nachdem er seiner Waffen und seines Gefieders beraubt worden. Und doch machen ihn diese Waffen hauptsächlich zu dem, was er ist: sie sind das eigentlich bezeichnende an ihm. Der Schnabel ähnelt in mancher Hinsicht dem der Papageien. Auch er ist kurz, auf der Firste des Oberkiefers stark gebogen und hakig übergekrümmt, auch seine Wurzel auf der Oberhälfte mit einer Wachshaut bedeckt: aber er ist nicht »kugelig« wie jene der Papageien, sondern stets seitlich zusammengedrückt, daher höher als breit, der Oberschnabel breiter als der untere, welchen er umschließt, und unbeweglich, der Haken spitziger, der Rand der Schneiden schärfer als es bei den letztgenannten Vögeln der Fall. Häufig wird die Schärfe der Schneiden noch durch einen Zahn erhöht, welcher sich über der Spitze des Unterkiefers befindet; wo dieser Zahn nicht vorhanden, ist die Oberkieferschneide wenigstens vorgebogen; nur ganz ausnahmsweise sind die Schneiden nicht ausgebuchtet. Der Fuß erinnert ebenfalls an den der Papageien. Er ist kurz, stark und langzehig, die Paarzehigkeit durch die nicht allzu selten vorkommende Wendefähigkeit einer Zehe angedeutet, sogar in der Beschuppung eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Papageifuße nicht zu verkennen: der Raubvogelfang unterscheidet sich von letzterem aber stets durch die Entwickelung der Krallen, welche den Fuß eben zum Fange umgestalten. Die Krallen sind mehr oder weniger stark gebogen, und dann sehr spitzig, selten flach gekrümmt und stumpf, auf ihrer Oberseite gerundet, auf der Unterseite aber meist etwas ausgehöhlt, so daß zwei fast schneidige Ränder entstehen, stellen daher ein ebenso vorzügliches Greifwerkzeug wie eine furchtbare Waffe dar. Die Befiederung zeigt je nach den Familien und Sippen erhebliche Unterschiede. Im allgemeinen sind die Federn groß und spärlich gestellt; bei den Falken aber findet gerade das Gegentheil statt. Ein Afterschaft fehlt bei dem Fischadler, den neuweltlichen Geiern und den Eulen. Dunen treten in Form von Staubdunen bei Geiern und anderen Tagraubvögeln entweder auf allen Theilen des Körpers oder in besonders ersichtlicher Weise auf dem Halse und in Zügen auf, welche die Fluren der Außenfedern bekleiden und unter Umständen auch ihre Stelle einnehmen. Die Federn fehlen zuweilen einzelnen Stellen des Kopfes, oft dem Zügel und, wie bei vielen Papageien, einer Stelle ums Auge; bei einzelnen dagegen umgibt gerade das Auge ein strahliger Federkranz, der sogenannte Schleier, welchen wir beim Kakapo auch schon kennen lernten. Wie bei den Papageien und Leichtschnäblern theilt sich die Rückenflur zwischen den Schulterblättern und verkümmert weiter nach unten hin; die beiden seitlichen Stämme der Unterflur sind weit getrennt, zuweilen im vorderen Theile außerordentlich verbreitert, und zweigen meist einen bestimmten äußeren Ast am Schulterbuge ab. Schwingen und Steuerfedern sind immer beträchtlich groß; ihre Anzahl ist eine sehr regelmäßige: zehn Handschwingen, mindestens zwölf, meist aber dreizehn bis sechzehn Armschwingen und fast durchgehends zwölf paarig sich gleichende Steuerfedern sind vorhanden. Wie bei den edelsten Papageien ist auch bei den höchststehenden Raubvögeln kleinfederiges Gefieder vorherrschend, eine Vergleichung beider Thierordnungen also wohl zulässig und ein Schluß auf eine annähernd gleichhohe leibliche Ausbildung nicht unerlaubt. Den Raubvögeln eigenthümlich ist, daß die Befiederung bei vielen Arten über den ganzen Lauf, bis zu den Zehen herab, ja sogar auf diese sich erstreckt, und am Schenkel oft zur Hose wird, das heißt durch besondere Entwickelung sich auszeichnet. Düstere Färbung herrscht im Gefieder vor; doch fehlt ihm ansprechende Farbenzusammenstellung keineswegs und noch weniger unseren Schönheitssinn befriedigende Zeichnung. Einzelne Raubvögel dürfen sogar als farbenschöne Geschöpfe bezeichnet werden. Die federlosen Hauptstellen am Kopfe, die Kämme und Kehllappen am Schnabel, welche ebenfalls vorkommen, der Zügel, die Wachshaut, der Schnabel, der Fuß und das Auge sind zuweilen sehr lebhaft gefärbt.

Hinsichtlich des inneren Leibesbaues will ich, auf Carus mich stützend, das folgende bemerken. Der Schädel ist im Verhältnisse zur Länge gewöhnlich sehr breit; die Thränenbeine, welche entweder [520] frei bleiben oder mit den Stirnbeinen verschmelzen, sind lang und bilden den oberen Rand der Augenhöhlung, deren Scheidewand bei alten Vögeln geschlossen zu sein pflegt; die Oberkiefer stellen nur einen kleinen Theil des Mundhöhlendaches her; vor den in eine Spitze ausgezogenen Pflugscharbeinen findet sich immer eine Verknöcherung in der Scheidewand der Nasenhöhlung, welche bei den meisten Sippen und Arten bedeutende Ausdehnung erlangt; die Gaumenfortsätze der Oberkiefer verbinden sich bei den Tagraubvögeln mit einander und mit der Nasenscheidewand, sind dagegen bei den Eulen große, schwammige Körper, welche zwar sehr nahe aneinander rücken, sich aber nur mit der Nasenscheidewand vereinigen, und treten bei den Geiern der neuen Welt unverbunden als dünne, blattförmig gebogene Knochenplatten an vorderen Innenrande der schmalen, wagerechten, in der Mitte nicht verbundenen Gaumenbeine auf; die Gelenkfläche des Quadratbeines ist quer verlängert. Die Anzahl der gedrungenen, oft ebenso breiten als langen Wirbel in den einzelnen Abschnitten des Gerippes schwankt nicht unbedeutend. Man findet neun bis dreizehn Hals-, sieben bis zehn Rücken-, zehn bis vierzehn Kreuzbein- und sieben bis neun Schwanzwirbel. Das Brustbein ist vorn meist etwas schmäler als hinten und entweder fast gleichseitig viereckig oder länger als breit, der Kamm hoch und sein hinterer Theil gewölbt, ein seitlicher Fortsatz am hinteren Ende bei den Eulen und dem Kranichgeier deutlich, bei den Tagraubvögeln weniger entwickelt oder verkümmert, das Vorderende der Schlüsselbeine bei den Tagraubvögeln verbreitert, nach hinten gekrümmt und an der äußeren Fläche zur Aufnahme der Schlüsselfortsätze des Rabenbeines ausgehöhlt. An den starken, im Handtheile abgeplatteten Knochen der Flügel bemerkt man kräftig entwickelte Muskelleisten; an der Vorderfläche der im allgemeinen kurzen und abgeplatteten, nur bei dem Kranichgeier eigenthümlich verlängerten Beinknochen befindet sich im Lauftheile, bei dem Fischadler und bei den Eulen eine Knochenbrücke zum Durchtritte der Strecksehnen. Marklosigkeit, welche Luftfüllungsvermögen der Knochenhöhlen bedingt, ist den meisten Theilen eigen, erstreckt sich überhaupt fast über sämmtliche Knochen des Gerippes. Die großen Lungen und Luftsäcke, welche bis zur Bauchhöhle reichen und von den Lungen gefüllt werden, erleichtern und erhöhen die Luftführung. Der Schlund ist sehr dehnbar, oft im Inneren dichtfaltig, und meist zu einem Kropfe erweitert. Der Vormagen zeichnet sich durch Reichthum an Drüsen aus; der Hauptmagen ist groß, sackartig; der Darmschlauch ändert vielfach ab. Die Zunge ist breit, vorn gerundet, hinten am Rande gezahnt und gelappt.

Unter den Sinneswerkzeugen ist vor allen das Auge beachtenswerth. Es ist immer groß, bei den Nachtraubvögeln verhältnismäßig überhaupt am größten, und zeigt die durch den Fächer bedingte innere Beweglichkeit am vollkommensten, gestattet daher auch ein gleichscharfes Sehen in verschiedenen Entfernungen und stellt sich für diese mit größter Leichtigkeit ein. Wenn man dem Auge eines Geiers die Hand abwechselnd nähert und wieder entfernt, kann man ohne Mühe wahrnehmen, wie der Stern des Auges sich verändert. Das Gehör ist bei den Raubvögeln ebenfalls hoch entwickelt, am höchsten überhaupt bei den Eulen, deren eigenthümliche Ohrbildung ich weiter unten beschreiben werde, das Riechwerkzeug hingegen im Vergleiche zu Auge und Ohr als verkümmert anzusehen, obgleich, zumal von den Geiern, das umgekehrte oft behauptet worden ist. Jedenfalls ist das Gefühl als Empfindungsvermögen besser entwickelt als Geruch oder Geschmack; denn auch dieser scheint nicht auf besonders hoher Stufe der Entwickelung zu stehen, obgleich sich nicht verkennen läßt, daß Raubvögel zwischen dieser und jener Nahrung Auswahl treffen, sogar in gewissem Grade lecker sind.

Geistige Beschränkung wird nur bei wenigen Raubvögeln beobachtet; die übrigen lassen über ihren hohen Verstand keinen Zweifel aufkommen. Die meisten Eigenschaften des Geistes, welche man ihnen nachrühmt, sind begründet, Muth und Selbstbewußtsein, freilich auch Gier, Grausamkeit, List und sogar Tücke für sie bezeichnend. Sie handeln, nachdem sie vorher wohl überlegt haben, planen und führen die Pläne aus. Ihren Familiengliedern im gesellschaftlichen Sinne sind sie mit hoher Liebe zugethan, Feinden und Gegnern treten sie kühn gegenüber, an Freunde schließen sie sich innig an. Welch hoher Ausbildung sie fähig sind, beweisen am schlagendsten die Edelfalken, die vorzüglichsten Räuber unter allen Raubvögeln, welche sich zum Dienste des Menschen heranbilden lassen.

[521] Eine die Vögel insgemein auszeichnende Begabung fehlt den geflügelten Räubern: sie ermangeln einer wohltönenden Stimme. Viele sind nur im Stande, einen, zwei oder drei verschiedene einfache, selbst mißtönende Laute hervorzustoßen. Doch sind wenigstens nicht alle Raubvögel jedes Wohllautes unfähig; denn einige lassen Töne vernehmen, welche auch einem tonkünstlerisch gebildeten Ohre als ansprechend erscheinen müssen.

Die Raubvögel bewohnen die ganze Erde und jeden Breiten- und Höhengürtel. Der Mehrzahl nach Baumvögel und daher vorzugsweise dem Walde angehörend, meiden sie doch weder das baumlose Gebirge noch die öde Steppe oder Wüste. Man begegnet ihnen auf den kleinsten Eilanden im Weltmeere oder auf den höchsten Gipfeln der Gebirge, sieht sie über die Eisfelder, welche Grönland oder Spitzbergen umlagern, wie über die sonnendurchglühten Ebenen der Wüste dahinschweben, bemerkt sie im Schlingpflanzendickichte des Urwaldes wie auf den Kirchen großer Städte. Der Verbreitungskreis der einzelnen Art pflegt ausgedehnt zu sein, entspricht jedoch keineswegs immer der Bewegungsfähigkeit derselben, kann im Verhältnisse zu dieser sogar eng erscheinen. Einzelne Arten freilich kennen kaum Beschränkung und schweifen fast auf der ganzen Erde umher.

Viele der gefiederten Räuber wandern, wenn der Winter ihr Jagdgebiet verarmen läßt, dem kleinen Geflügel in südlichere Gegenden nach; gerade die im höchsten Norden wohnenden Arten aber streichen nur. Auf solchen Wanderungen bilden sie zuweilen Schwärme, wie sie sonst nicht beobachtet werden; denn die wenigsten sind als gesellige Thiere zu bezeichnen. Jene Gesellschaften lösen sich schon gegen den Frühling hin in kleinere und schließlich in die Paare auf, aus denen sie im Herbste sich bildeten, oder welche während des Zusammenseins in der Fremde sich fanden. Diese Paare kehren ziemlich genau zu derselben Zeit in die Heimat zurück und schreiten hier baldmöglichst zur Fortpflanzung.

Alle Raubvögel brüten in den ersten Frühlingsmonaten und, wenn sie nicht gestört wurden, nur einmal im Jahre. Der Horst kann sehr verschieden angelegt und dementsprechend verschieden ausgeführt sein. Weitaus in den meisten Fällen steht er auf Bäumen, häufig auch auf Felsvorsprüngen, an unersteiglichen Wänden oder in Mauerlöchern alter Gebäude; seltener ist eine Baumhöhlung die Nistkammer, am seltensten der nackte Boden die Unterlage eines Reisighaufens, auf welchem die Eier zu liegen kommen. Alle Horste, welche auf Bäumen oder Felsen stehen, sind große und breite, jedoch niedrige Nester mit flacher Mulde, werden aber meist mehrere Jahre nacheinander benutzt, jedesmal neu aufgebessert und dadurch allmählich sehr erhöht. Beide Geschlechter helfen beim Aufbaue; das Männchen trägt wenigstens zu. Für die großen Arten ist es schwer, die nöthigen Stoffe, namentlich die starken Knüppel zu erwerben: die Adler müssen sie sich, wie Tschudi vom Steinadler angibt, von den Bäumen nehmen, indem sie sich mit eingezogenen Fittigen aus hoher Luft herabstürzen, den ausersehenen Ast mit ihren Fängen packen und durch die Wucht des Stoßes abbrechen. In den Klauen tragen sie die mühsam erworbenen Aeste und Zweige dann auch dem Horste zu. Diejenigen Raubvögel, welche in Höhlen brüten, legen die Eier auf den Mulm der Baumlöcher, einzelne auch wohl auf die Erde oder auf das nackte Gestein. Wahrscheinlich darf man sagen, daß nur die wenigsten Arten sich selbst eigene Horste errichten. Die kleineren Falken benutzen mit entschiedener Vorliebe die Nester anderer Vögel, namentlich der Raben in weiterem Sinne, anderer Raubvögel, vielleicht auch der Reiher, Schwarzstörche und ebenso eine Baumhöhlung, bauen also jene, wenn überhaupt, höchstens nothdürftig aus. Bei uns zu Lande ist, nach Eugen von Homeyers langjährigen Beobachtungen, der ursprüngliche Baumeister für die größeren Arten der Bussard, für die kleineren Arten die Nebel- oder Raben-, seltener die Saatkrähe oder Elster. Manche Raubvögel, beispielsweise die großen Adler, wechseln regelmäßig mit zwei Horsten, und sehr gern nimmt der kleine Wanderfalk die Horste der Adler, welche letztere schon der bedeutenden, für sie erforderlichen Größe halber selbst errichten müssen, in Beschlag. So kann es geschehen, daß in dem einen Jahre der See- oder Fischadler, in dem anderen der Wanderfalk abwechselnd auf einem Horste brüten. In Horsten, welche ursprünglich wahrscheinlich vom Bussard erbaut worden [522] waren, fand Homeyer Schreiadler, Königsmilane, Wanderfalken, Habichte, Uhus und Waldkäuze brüten.

Der Paarung gehen mancherlei Spiele voraus, wie sie den stolzen Vögeln angemessen sind. Prachtvolle Flugübungen, wahre Reigen in hoher Luft, oft sehr verschieden von dem sonst gewöhnlichen Fluge, sind die Liebesbeweise der großen Mehrzahl; eigenthümliche, gellende oder äußerst zärtliche Laute bekunden die Erregung einzelner Arten. Eifersucht spielt natürlich auch unter dem Herrschergeschlechte seine Rolle: jeder Eindringling ins Gehege wird angegriffen und womöglich verjagt, nicht einmal ein fremder, das heißt nicht derselben Art angehöriger Vogel geduldet. Prachtvolle Wendungen, pfeilschnelle Angriffe, glänzende Abwehr, muthiges gegenseitiges Verfolgen und ebenso muthiges Standhalten kennzeichnen, wie ich schon in meinem »Leben der Vögel« geschildert habe, derartige Kämpfe. Wenn sich die ritterlichen Kämpfen packen, geschieht es immer gegenseitig: sie verkrallen sich ineinander und stürzen nun, unfähig, die Schwingen fernerhin geschickt zu gebrauchen, wirbelnd aus der Höhe herab. Unten wird der Kampf augenblicklich abgebrochen; aber sowie sich beide wieder in die Luft erheben, beginnt er von neuem mit gleicher Heftigkeit. Nach langem Zweikampfe zieht sich der schwächere Theil zurück und flieht, verfolgt von dem Sieger, über die Grenzen des Gebietes. Trotz der erlittenen Niederlage gibt er aber den Streit nicht auf; oft währt dieser tage-, ja wochenlang, und nur wiederholtes Siegen verschafft dem Ueberwinder die Ruhe des Besitzes. Ein tödtlicher Ausgang kommt wohl auch, wenngleich unter solchen kriegsgewohnten Helden selten vor. Das erwählte oder erkämpfte Weibchen, welches mit inniger Liebe an seinem Gatten hängt und derartige Kämpfe mit entschiedener Theilnahme verfolgt, scheint keinen Anstand zu nehmen, bei einem für ihren Gatten ungünstigen Ausgange des Streites dem Sieger sich zu eigen zu geben.

Die Eier sind rundlich, in den meisten Fällen ziemlich rauhschalig und entweder rein weiß, graulich, gilblich oder auf lichtem Grunde mit dunkleren Flecken und Punkten gezeichnet. Ihre Anzahl schwankt zwischen eins und sieben. Bei den meisten Raubvögelarten brütet das Weibchen allein, bei einzelnen löst das Männchen es zeitweilig ab. Die Brutdauer währt zwischen drei bis sechs Wochen; dann schlüpfen die unbehülflichen Jungen aus: kleine, runde, über und über in weißgrauen Wollflaum gekleidete Thiere mit großen Köpfen und meist offenen Augen. Sie wachsen rasch heran und bekommen wenigstens auf der Oberseite bald eine dichte Befiederung. Ihre Eltern lieben sie, wie auch schon die Eier, ungemein, verlassen sie nie und geben sich ihrethalben selbst dem Tode preis, falls sie sich zu schwach fühlen, Angriffe abzuwehren. Aeußerst wenige Raubvögel zeigen sich muthlos bei solchen Gelegenheiten; die größere Menge beweist im Gegentheile eine achtungswürdige Kühnheit. Manche tragen die gefährdeten Jungen auch wohl einem anderen Orte zu, um sie zu sichern. Ebenso aufopfernd, wie sie einem Feinde gegenüber sich zeigen, mühen sie sich, ihrer Brut die nöthige Atzung herbeizuschaffen. Sie schleppen im Ueberfluß Beute herbei, werfen solche, bei Gefahr, sogar aus hoher, sicherer Luft aufs Nest hernieder. Anfänglich erhalten die Jungen halbverdaute Nahrung, welche die Alten aus ihrem Kropfe aufwürgen, später werden ihnen zerstückelte Thiere gereicht. Doch ist bei einigen nur die Mutter fähig, die Speise mundgerecht zu bereiten; das Männchen versteht das Zerlegen der Beute nicht und muß seine geliebten Kinder bei vollgespickter Tafel verhungern lassen. Auch nach dem Ausfliegen noch werden die jungen Räuber längere Zeit von ihren Eltern geführt, ernährt, unterrichtet und beschützt.

Wirbelthiere aller Klassen und Kerfe der verschiedensten Art, Vogeleier, Würmer, Schnecken, Aas, Menschenkoth, ausnahmsweise auch Früchte bilden die Nahrung der Raubvögel. Sie erwerben sich ihre Speise durch Fang der lebenden Thiere, durch Abjagen der von anderen Gliedern ihrer Ordnung gewonnenen und durch einfaches Wegnehmen der gefundenen Beute. Zum Fangen dienen die Füße, welche deshalb »Fänge« oder bei den Jagdfalken »Hände« genannt werden; zum Zerstückeln oder richtiger zum Zerreißen der Nahrung wird der Schnabel verwendet. Kerbthiere werden auch wohl unmittelbar mit dem Schnabel aufgenommen. Die Verdauung ist äußerst lebhaft. Bei denen, welche einen Kropf besitzen, wird in ihm die Nahrung zuvörderst eingespeichelt und theilweise bereits [523] zersetzt; der scharfe Magensaft thut das übrige. Knochen, Sehnen und Bänder werden zu Brei aufgelöst, Haare und Federn zu Klumpen geballt und diese, die sogenannten Gewölle, von Zeit zu Zeit ausgewürgt. Der Koth ist ein flüssiger, kalkartiger Brei, welcher als Strahl ausgeworfen wird. Alle Raubvögel können auf einmal sehr viel fressen, aber auch sehr lange hungern.

Die Thätigkeit der Raubvögel ist noch von einem anderen Gesichtspunkte, dem wichtigsten, zu betrachten: ihre Räubereien können uns nützliche und können uns schadenbringende Thiere betreffen, die Vögel selbst daher uns als schädliche oder nützliche erscheinen. Die Gesammtheit als solche dürfte als eine äußerst nützliche angesehen werden können; einzelne dagegen fordern unsere Abwehr und selbst mehr oder minder rücksichtslose Verfolgung heraus, weil sie unter uns wichtigen Thieren fürchterlich hausen. Unmittelbar werden uns wenige Raubvögel nützlich: die Dienste, welche die begabtesten unter ihnen uns leisten, nachdem wir sie eingefangen und abgerichtet, sind, uns wenigstens, nicht mehr von Nöthen, und der Nutzen, welchen die in Käfigen eingesperrten uns bringen, ist vielen unverständlich und deshalb für sie nicht vorhanden. Dagegen sollten auch die beschränktesten Menschen endlich einsehen lernen, wie unendlich großes viele der scheel angesehenen Räuber mittelbar für uns leisten, wie sie zu unserem Vortheile arbeiten und sich mühen, um das verderbliche Heer der schädlichen Nager und Kerbthiere zu vernichten. Nicht bloß der Kranichgeier, welcher der Giftschlange den Kopf zertrümmert, nicht bloß der Geier, welcher die Straßen der Städte Afrikas, Südasiens und Amerikas säubert, sind als unersetzliche Vögel anzusehen: auch auf unseren Fluren und Feldern leben segenbringende Raubvögel, welche Verehrung in höherem Grade verdienen als so manche »heiligen« Vögel. Sie zu schützen, zu erhalten, ihnen freie Bahn zu gewähren, ist Pflicht des vernünftigen Menschen.

Diesem Nutzen gegenüber erscheint jeder andere, welchen die Raubvögel uns, das heißt den Menschen, im weitesten Umfange, leisten können, gering. Das Fleisch der gefiederten Räuber ist für uns ungenießbar, und Adlerfedern stehen eben nur bei Alpenjägern wie bei Indianern oder Mongolen im Werthe; die Dienstleistungen einzelner Adler, Falken und Eulen sind ebenfalls unerhebliche zu nennen: in anderer Hinsicht aber können wir den gefangenen oder erlegten Raubvogel nicht benutzen. Er wirkt nur so lange für uns ersprießlich, als er seine volle Freiheit genießt.

Außer dem Menschen haben die Raubvögel wenig Feinde. Ihre Stärke oder ihre Gewandtheit schützen sie vor gefährlichen Gegnern. Auch sie haben zu leiden von schmarotzenden Quälgeistern, welche sich auf und in ihrem Leibe ansiedeln, oder von dem Hasse, welchen wenigstens viele von ihnen verdienen: im allgemeinen jedoch leben sie unbehelligt ein freies, schönes Leben, so lange der Mensch ihnen nicht entgegentritt. Er ist auch ihr gefährlichster Feind.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 519-524.
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