Schleierkauz (Strix flammea)

[106] Unser Schleierkauz oder die Schleier-, Perl-, Gold-, Feuer-, Flammen-, Perrücken-, Herz-, Thurm-, Kirchen-, Klag-, Schläfer- und Schnarcheule (Strix flammea, alba, guttata, adspersa, margaritata, vulgaris, obscura, splendens, paradoxa, maculata, Kirchhoffii, pratincola und Aluco, Hybris, Ulula, Eustrinx und Stridula flammea) wird in anderen Erdtheilen, zumal in Asien und Amerika, durch ihm so nahe stehende Verwandte vertreten, daß einzelne Vogelkundige geneigt sind, alle Schleierkäuze der Erde als Glieder einer Art aufzufassen. Bei dem in Deutschland hausenden Vogel ist der Oberkörper auf dunkel aschgrauem, an den Seiten des Hinterkopfes und Nackens auf rothgelblichem Grunde durch äußerst kleine schwarze und weiße [106] Längsflecke gezeichnet, das Oberflügeldeckgefieder tief aschfarben, heller gewässert und mit schwarzen und weißen Längsspritzfleckchen geziert, die Unterseite auf dunkel rostgelbem Grunde braun und weiß gefleckt, der Schleier rostfarben oder rostfarben in der oberen Hälfte, rostfarbigweiß in der unteren. Die Schwingen sind rostfarbig, auf der Innenfahne weißlich, drei- bis viermal dunkler gebändert und auf der Außenfahne dunkel gefleckt; die rostgelben Schwanzfedern zeigen drei bis vier schwärzliche Schwanzbinden und ein tief aschgraues, weißlich gewässertes breites Spitzenband. Das Auge ist dunkelbraun; Schnabel und Wachshaut sind röthlichweiß, die Füße, soweit sie nackt, schmutzig blaugrau. Das Weibchen zeigt regelmäßig eine etwas düsterere Färbung als das Männchen. Die Länge beträgt zweiunddreißig, die Breite neunzig, die Fittiglänge achtundzwanzig, die Schwanzlänge zwölf Centimeter.

Kirchthürme, Schlösser, alte Gebäude und Ritterburgen sind auch bei uns zu Lande und im übrigen Europa die bevorzugten, wenn nicht ausschließlichen, Felsen und Baumhöhlen die ursprünglichen Aufenthaltsorte des über ganz Mittel- und Südeuropa, Kleinasien und Nordafrika verbreiteten Schleierkauzes.


Schleierkauz (Strix flammea). 1/3 natürl. Größe.
Schleierkauz (Strix flammea). 1/3 natürl. Größe.

Vom hohen Norden unseres Erdtheils an wird man ihn nur in größeren [107] Gebirgswaldungen vermissen; ebenso meidet er das Hochgebirge über dem Pflanzengürtel. Er ist ein Standvogel im eigentlichen Sinne des Wortes, welcher nicht einmal streicht. Da, wo wir heute Schleierkäuze finden, sind sie seit Menschengedenken bemerkt worden. Nur die jüngeren Vögel lassen sich zuweilen außerhalb des Jagdgebietes der Alten sehen; denn sie müssen sich erst einen festen Wohnsitz erwerben, und diesem Zwecke gelten ihre größeren Ausflüge. Uebertages sitzen sie ruhig in dem dunklen Winkel der betreffenden Gebäude, auf dem Gebälke der Thürme oder Kirchboden, in Mauernischen, in Taubenschlägen und an ähnlichen Orten. Läuten der Glocken in unmittelbarer Nähe ihres Schlafplatzes, Aus- und Einschwärmen der Tauben eines Schlages, in dem sie sich angesiedelt haben, stört sie nicht im geringsten; sie haben sich an den Menschen und sein Treiben ebenso gut gewöhnt wie an das Gelärm der Tauben, mit denen sie in bester Freundschaft verkehren. Wenn sie sitzen, haben sie mit anderen Eulen Aehnlichkeit, fallen aber doch durch ihre schlanke, hohe Gestalt und namentlich durch das unbeschreibliche, herzförmige Gesicht, welches die wunderbarsten Verzerrungen ermöglicht, jedermann auf. Durch Beobachtung angefangenen wissen wir zur Genüge, daß ihr Schlaf ein sehr leiser ist. Es gelingt dem Menschen niemals, sie zu übertölpeln; denn das geringste Geräusch ist hinreichend, sie zu erwecken. Beim Anblicke des Beschauers pflegen sie sich hoch aufzurichten und leise hin und her zu schaukeln, indem sie sich auf den Beinen wiegend seitlich hin und her bewegen. Einige Grimassen werden bei solchen Gelegenheiten auch geschnitten; alle Bewegungen aber sind stetiger und langsamer als bei den meisten übrigen Eulen. Rückt ihnen eine vermeintliche Gefahr nahe auf den Hals, so fliegen sie weg und beweisen dann, daß sie auch bei Tage sehr gut sehen können. Nach Sonnenuntergang verlassen sie das Gebäude durch eine bestimmte, ihnen wohlbekannte Oeffnung, welche sie auch bei Tage unfehlbar zu finden und gewandt zu benutzen wissen, und streifen nun mit geisterhaft leisem und schwankendem Fluge niedrig über dem Boden dahin. Ein heiseres Kreischen, welches Naumann die widerlichste aller deutschen Vogelstimmen nennt, abergläubischen Menschen auch sehr entsetzlich vorkommen mag, verkündet ihre Ankunft, und wenn man seine Aufmerksamkeit der Gegend zuwendet, von welcher dieses Kreischen hertönt, sieht man den bleichen Vogel gewiß; denn er umschwärmt ohne Scheu den abends sich ergehenden Menschen und fliegt ihm oft wie ein Schatten nahe um das Haupt. In hellen Mondscheinnächten treiben sich die Schleierkäuze bis gegen Sonnenaufgang ununterbrochen im Freien umher, zeitweilig auf Gebäuden ausruhend und dann wieder eifrig jagend; in dunkleren Nächten arbeiten sie bloß des Abends und gegen Morgen.

Mäuse, Ratten, Spitzmäuse, Maulwürfe, kleine Vögel und große Kerbthiere bilden die Nahrung des Schleierkauzes. Es ist ihm oft nachgesagt worden, daß er in Taubenschlägen Unfug stifte; dem widerspricht aber die Gleichgültigkeit der Tauben, ihrem seltsamen Gesellen gegenüber. »Ich habe ihn«, sagt Naumann, »sehr oft unter meinen Tauben aus- und einfliegen sehen. Die Tauben, welche diesen Gast bald gewohnt wurden und sich um ihn nicht kümmerten, blieben stets im ungestörten Besitze ihrer Eier und Jungen, ebensowenig fand ich je eine Spur von einem Angriffe auf eine alte Taube. Oefters sah man im Frühlinge ein Paar viele Abende hinter einander in meinem Gehöfte; es schien auf dem Taubenschlage brüten zu wollen und flog, sobald es gegen Abend zu dämmern anfing, spielend aus und ein, ließ, bald im Schlage selbst, bald dicht vor demselben, seine fatale Nachtmusik fast ununterbrochen erschallen und – keine Taube rührte sich. Stieg man am Tage leise auf den Schlag, so sah man die Eulen ruhig auf einer Stange oder in einem Winkel vertraulich mitten unter den Tauben sitzen und schlafen und nicht selten neben sich einen Haufen Mäuse liegen; denn sie tragen sich, wenn sie eine glückliche Jagd machen und vielleicht auch eine Vorempfindung von übler Witterung fühlen, solche Vorräthe zusammen, damit sie in zu finsteren und stürmischen Nächten, wenn sie nicht jagen können, keinen Hunger leiden dürfen. Mein Vater fing sogar einmal eine dieser Eulen, welche in so tiefen Schlaf versunken war, daß sie durch das Geprassel der fliehenden Taube nicht geweckt wurde, mit den Händen. Daß sie Eier fressen sollen, ist mir ebenso unwahrscheinlich, ob es gleich von manchen behauptet wird, und [108] mir sogar einmal jemand erzählte, daß eine Schleiereule mit einem Hühnerei in den Klauen im Fluge herabgeschossen worden sei. Das Vorurtheil spricht nur gar zu oft gegen die unschuldigen Eulen, und so darf man nicht alles glauben, was ihnen meist nur der Haß nachredet. Wie oben erwähnt, sah ich auf meinem Taubenschlage nie etwas übles von ihnen, sondern ich führte auch meine gezähmten Schleiereulen mit ganzen und ungeknickten Hühner- und anderen Vögeleiern oft in Versuchung: allein sie ließen sie stets unberührt. Kleine Vögel greifen sie indeß im Schlafe an; denn in den Städten würgen sie nicht selten die in Vogelbauern vor den Fenstern hängenden Lerchen, Nachtigallen, Finken, Drosseln und dergleichen; auch die gefangenen Vögel holen sie zuweilen aus den Dohnen und Schlingen der nahen Dohnenstege. Manche sind sehr sanft, andere wieder raubgierig. Einer meiner Bekannten erhielt einmal einen Schleierkauz, welcher ungefähr seit acht Tagen in der Gefangenschaft war, setzte ihn in seine stockfinstere Stube und eilte schnell ein Licht zu holen. Hierüber verfloß kaum eine Minute, und doch sah er zu seinem Aerger, als er mit dem Lichte in die Stube trat, daß die Eule bereits seine Mönchsgrasmücke hinter dem Ofen von ihrem Sitze geholt, getödtet und bereits halb aufgefressen hatte. Die Eule fraß öfters funfzehn Feldmäuse in einer Nacht. Auch Aas verschmäht in den Zeiten der Noth der Schleierkauz nicht.«

In Spanien steht der Schleierkauz in dem bösen Verdachte, das Oel der ewigen Lampen in den Kirchen auszutrinken. Sicher ist, daß das sehr brauchbare Olivenöl oft aus den gedachten Lampen verschwindet, Feststellung des eigentlichen Thäters aber bisher noch nicht gelungen ist; ein Gemunkel nur will behaupten, daß nicht die Schleiereule, sondern der Meßner der eigentliche Schuldige wäre. Mit diesem Verdachte, welchen sie sich erworben hat, hängt eine in Spanien beliebte Verwendung zusammen. Man erlegt Schleierkäuze, siedet sie mit Stumpf und Stiel in Oel und erhält dadurch ein Heilmittel von großartiger Wirksamkeit. Dasselbe wird allerdings weniger von den Aerzten verschrieben, obgleich es dem Arzneischatze der Apotheke nicht fehlt oder nicht fehlen soll, demungeachtet aber vielfach verwendet.

Ueber das Fortpflanzungsgeschäft des Schleierkauzes sind neuerdings sehr auffallende Beobachtungen gemacht worden. In den älteren Naturgeschichten steht, daß die Brutzeit in die Monate April und Mai falle; diese Angabe erleidet jedoch Ausnahmen. Man hat nämlich junge Schleiereulen wiederholt auch im Oktober und November, um diese Zeit sogar noch Eier, auf denen die Alte sehr eifrig brütete, gefunden. Die Liebe erregt auch den Schleierkauz und begeistert ihn zu lebhaftem Schreien. Beide Gatten jagen sich spielend mit einander von Thurm zu Thurm. Ein eigentlicher Horst wird nicht gebaut; die sechs bis neun länglichen, rauhschaligen, glanzlosen, vierzig Millimeter langen und dreißig Millimeter dicken Eier liegen ohne alle Unterlage in einem passenden Winkel auf Schutt und Getrümmer. Die Jungen sehen, wie alle Zunftverwandten, anfangs außerordentlich häßlich aus, werden aber von ihren Eltern ungemein geliebt und auf das reichlichste mit Mäusen versorgt. Will man sich, um sie für die Gefangenschaft zu gewinnen, Mühe sparen, so darf man sie nur in ein weitmaschiges Gebauer sperren: die Alten füttern sie hier wochen- und monatelang ununterbrochen. Pflegt man sie selbst, so lange sie noch jung sind, so werden sie bald in hohem Grade zahm, lassen sich dann ohne Widerstreben berühren, auf der Hand umhertragen, ja selbst zum Aus- und Einfliegen gewöhnen.

Dähne sagt, daß man den Schleierkauz, wenn er im Winter aufgeschreckt heraus und in den Schnee flöge, mit den Händen ergreifen könne, weil er geblendet werde. Ich habe diese Fangart nicht erprobt, sondern lieber das ausgekundete Flugloch der Schleiereule verstopft und sie dann mit einem sogenannten Kätscher gefangen. Nach meinem Dafürhalten gehören diese schönen und gutmüthigen Thiere zu den angenehmsten Eulen, welche man überhaupt im Käfige halten kann. Ihr Gesichterschneiden ergötzt jedermann; sie verziehen den Schleier oft so, daß sie, wie mein Vater sagt, als ein wahres Zerrbild des menschlichen Gesichts erscheinen.

Da der Schleierkauz unbedingt zu den nützlichsten Vögeln gezählt werden muß, verdient die Aufforderung von Lenz vollste Beachtung aller Verständigen. »Für die Schleiereule und den [109] Steinkauz sollten überall in Giebeln der Land- und Stadtgebäude Einrichtungen zu Nest und Wohnung sein. In jeder Giebelspitze meiner Gebäude ist eine Oeffnung von der Größe, wie sie für Tauben genügt. Diese führt in einen inwendig angebrachten Kasten, welcher links und rechts einen Nestplatz hat. Auf diesen darf das Licht des Eingangs nicht fallen; der Vogel muß also vom Eingange aus durch einen Brettergang einen halben Meter tief ins Innere des Kastens gehen, dort links oder rechts schwenken und so zum linken oder rechten Neste gelangen; der Eingang zu jedem Neste ist also vom hellen Eingange des Kastens weg gerichtet. Nach dem Inneren des Hauses zu ist der ganze Kasten fest vernagelt, damit ihn keine unbefugte Hand öffnen und eine Störung in das behagliche Leben der kleinen Erziehungsanstalt bringen kann. Nisten sich statt der Käuze Tauben ein, so ists auch nicht übel; man öffnet dann, wenns der Reinigung wegen nöthig ist, mit Gewalt, und schließt dann wieder. In jeder Giebelspitze der großen Scheuern Holsteins befindet sich in der Regel eine Oeffnung, durch welche eine Schleiereule bequem hindurch kann. Nach den von Dr. W. Claudius angestellten Untersuchungen stört der Landmann in Holstein die Ruhe seiner Eule nie absichtlich und schützt sie gegen Verfolgung. Die Vögel fliegen also nach Belieben aus und ein, jagen in und außer der Scheuer lustig den Mäusen nach, vertragen sich mit den Hauskatzen vortrefflich und bauen ihr Nest in dem dunklen Raum.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 106-111.
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