Erste Familie: Falken (Falconidae)

[524] Die Raubvögel sondern sich schärfer als andere ihrer Klassenverwandten in Gruppen, und diese sind deshalb auch seit Anbeginn der Vogelkunde umgrenzt worden. Wir erkennen, wenn wir die ganze Ordnung überblicken, drei solcher Gruppen oder Zünfte, welche wir als in sich abgeschlossene bezeichnen dürfen, obgleich es mehrere Glieder der Ordnung gibt, welche den Uebergang von einer Zunft zur anderen sozusagen vermitteln und dadurch die Zusammengehörigkeit aller bestätigen. Diese Zünfte, denen wir den Rang von Unterordnungen nicht zusprechen, begreifen in sich die Falken, die Geier und die Eulen. Daß die erstgenannten auch die erste Stelle verdienen, unterliegt keinem Zweifel; fraglich hingegen bleibt es, ob wir nach ihnen den Geiern oder den Eulen einen Vorzug einzuräumen haben. Einhelligere Ausbildung der Sinne spricht für die Geier, größere Raubfähigkeit für die Eulen. Ich habe mich zu Gunsten der Geier entschieden und lasse sie auf die Falken folgen.

Diese (Falconidae), die große Mehrzahl aller Raubvögel, kennzeichnen sich im allgemeinen durch folgende Merkmale. Ihr Leib ist kräftig, gedrungen gebaut, nur ausnahmsweise schlank, der [524] Kopf mittelgroß, der Hals kurz, das Auge mittelgroß, aber ungemein lebhaft, der Schnabel verhältnismäßig kurz, am Grunde mit stets sichtbarer, das heißt durch Federn nicht verdeckter Wachshaut, der Oberschnabel in einem scharfen Haken über den unteren herabgebogen, an den Schneiden nicht selten gezahnt, der Fuß bald kurz und stark, bald lang und schwach. Die großen Flügel sind gewöhnlich zugespitzt und in ihnen dann die zweite oder dritte Schwinge die längste, seltener so abgerundet, daß die dritte oder vierte Schwinge zur längsten wird. Der Schwanz ist bald kurz, bald lang, bald abgerundet, selbst abgestuft, bald gerade abgeschnitten, bald endlich gegabelt. Das Gefieder, welches nicht bloß den ganzen Leib, sondern auch stets Kopf und Hals, oft ebenso die Füße bis zu den Zehen herab bekleidet, läßt höchstens einen Theil der Wangen frei, ist im allgemeinen derb und straff und ausnahmsweise weich und seidig, immer reichhaltig. Ein Kropf ist vorhanden, tritt jedoch niemals sackartig, sondern stets höckerig hervor.

Die Falken theilen mit allen übrigen Raubvögeln das gesammte Verbreitungsgebiet der Ordnung, leben daher in allen Gürteln der Breite und Höhe, obwohl sie kaum jemals in so hohe Luftschichten aufsteigen, wie beispielsweise Adler und Geier. Ihre Aufenthaltsorte sind höchst verschieden: sie beleben von der Küste des Meeres an bis zur Holzgrenze hinauf Ebenen, Hügelgelände und Gebirge, unbewaldete wie bewaldete Gegenden, hängen aber, wie alle selbstjagenden Raubvögel, von der Beute ab, welcher sie nachstreben, und treten deshalb da, wo reiche Nahrung ihnen winkt, stets merklich häufiger auf als in spärlicher von ihrem Wilde bevölkerten Gegenden, so wenig sie auch diese gänzlich meiden. Viele von ihnen verlassen ihre Brutplätze, wenn dieselben verarmen, und ziehen den wandernden Vögeln in wärmere Länder nach; andere dagegen halten trotz des eisigen Winters, welcher den größten Theil des Jahres in ihrer Heimat herrscht, jahraus, jahrein in demselben Gebiete aus und streichen höchstens innerhalb sehr bescheidener Grenzen. Entsprechend ihrer außerordentlichen Flugfähigkeit pflegt das Verbreitungsgebiet der einzelnen Arten sehr ausgedehnt zu sein; doch kann auch bei ihnen in dieser Beziehung das Gegentheil stattfinden.

Wenige Falkenarten zählen zu den langsamen, weitaus die meisten zu den schnellen und schnellsten Fliegern, welche wir überhaupt kennen; die große Mehrzahl dagegen bewegt sich nur ungeschickt auf dem Boden und kaum leichter im Gezweige der Bäume. Was oben von den Raubvögeln insgemein bemerkt wurde, gilt auch für sie, und nur die uns unangenehmen oder anwidernden Züge in dem Wesen der Glieder dieser reichen Ordnung treten bei ihnen weniger hervor. Wohl gibt es unter ihnen einige, welche auf Aas fallen und mit faulenden Nahrungsstoffen sich begnügen; die große Mehrzahl dagegen nährt sich ausschließlich von selbsterworbener Beute und verfolgt dieselbe während sie läuft oder fliegt, auf und über dem Wasser schwimmt, zieht sie selbst aus Höhlungen hervor, in denen sie Zuflucht suchte. Ihr Angriffswerkzeug ist unter allen Umständen der Fuß oder Fang; der Schnabel wird nur ausnahmsweise zur Vertheidigung gebraucht, steht auch an Kraft weit hinter den mit gewaltigen Klauen ausgerüsteten Füßen zurück. Mit dem Fange greift, erdrosselt und erdolcht der Falk die von ihm geschlagene Beute; der Schnabel dient ihm nur, sie vor dem Verschlingen zu zerkleinern. Ohne Rücksicht darauf, ob das Beutethier noch lebt oder bereits verendet ist, beginnt der Falk es leicht zu rupfen und dann zu zerfleischen, indem er in der Regel die weicheren und fleischigeren Theile aussucht. Seltener tödtet er durch einen Biß in den Kopf das von ihm gepackte, jedes Widerstandes unfähige Opfer. Kleinere Knochen, Haare, Federn und Schuppen werden mit verschlungen und bilden bei der großen Mehrzahl einen so unbedingt nöthigen Theil der Nahrung, daß der betreffende Raubvogel krank wird, wenn er nicht im Stande ist, solche für ihn unverdauliche Stoffe zu genießen, aus ihnen zusammengefilzte Ballen, die sogenannten Gewölle, zu bilden und diese wieder auszuwürgen.

Der Nahrungsbedarf der so regsamen Vögel ist, entsprechend ihrem raschen Stoffwechsel, ein so bedeutender, daß die größten und raubgierigsten Arten der Familie zu einer wahren Geisel für alles umwohnende Kleingethier werden können. Gerade hierdurch aber drückt sich der Schaden wie der Nutzen aus, welchen die Falken in unseren Augen verursachen oder leisten. Nicht wenige von [525] ihnen fordern unsere Abwehr in eben demselben Grade heraus, wie andere das vollste Anrecht auf unseren Schutz sich erwerben.

Hinsichtlich der Fortpflanzung und der dabei entfalteten Thätigkeit unserer Vögel gilt das oben bereits gesagte.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 524-526.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristoteles

Physik

Physik

Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Prinzipiellen zum Indiviudellen ist der Kern der naturphilosophischen Lehrschrift über die Grundlagen unserer Begrifflichkeit von Raum, Zeit, Bewegung und Ursache. »Nennen doch die Kinder zunächst alle Männer Vater und alle Frauen Mutter und lernen erst später zu unterscheiden.«

158 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon