Schlangenbussard (Circaëtus gallicus)

[711] In Europa lebt eine Art der Sippe, der Schlangen- oder Natterbussard und bezüglich Adler (Circaëtus gallicus, brachydactylus, leucopsis, anguium, meridionalis, orientalis, hypoleucus und paradoxus, Falco gallicus, leucopsis und brachydactylus, Buteo gallicus, Aquila brachydactyla, leucamphomma und gallica, Accipiter hypoleucus). Seine Länge beträgt siebzig, die Breite einhundertundachtzig, die Fittiglänge sechsundfunfzig, die Schwanzlänge dreißig Centimeter. Die spitzigen Federn des Kopfes und Hinterhalses sind mattbraun, heller gesäumt, die Rücken-, Schulter- und kleinen Flügeldeckfedern tiefbraun, heller gekantet, die Schwingen schwarzbraun, sein hellbraun gesäumt, weiß gekantet und mit schwarzen Querbinden gezeichnet, die Schwanzfedern dunkelbraun, breit weiß zugespitzt und dreimal breit schwarz gebändert, Stirn, Kehle und Wangen weißlich, schmal braun gestrichelt, Kropf und Oberbrust lebhaft hellbraun, die übrigen Untertheile weiß, spärlich hellbraun in die Quere gefleckt.


Schlangenbussard (Circaëtus gallicus). 1/4 natürl. Größe.
Schlangenbussard (Circaëtus gallicus). 1/4 natürl. Größe.

[711] Ein Kreis von wolligem Flaum umgibt das große Auge; nach vorn gerichtete Borsten bedecken den Zügel. Das Auge ist gelb, der Schnabel bläulichschwarz, die Wachshaut und die Füße sind lichtblau. Junge Vögel unterscheiden sich wenig von den Alten.

Noch zu Anfange dieses Jahrhunderts wurde der Schlangenadler als ein sehr unbekannter Vogel angesehen, und seine Naturgeschichte ist auch wirklich erst in den letztvergangenen Jahren festgestellt worden. Der auffallende und leicht kenntliche Raubvogel mag früher mit lichten Bussarden verwechselt worden sein, bis man anfing, auf ihn zu achten. Seit dieser Zeit hat man ihn überall in Deutschland, namentlich in Preußen, Pommern, Schlesien, der Mark Brandenburg, Mecklenburg, auf dem Westerwalde und in der Pfalz als Brutvogel, außerdem aber in allen Theilen unseres Vaterlandes als Zugvogel beobachtet. Regelmäßiger tritt er im Süden des österreichischen Kaiserstaates, in Südrußland, auf der Balkanhalbinsel und ebenso in Italien, Frankreich und Spanien auf; in Großbritannien und Skandinavien dagegen hat man ihn, soviel mir bekannt, noch nicht erlegt; auch für Holland kenne ich keinen Fall seines Vorkommens. Bei uns zu Lande ist er ein Sommervogel, welcher Anfang Mai ankommt und uns im September wieder verläßt, um den Winter in Mittelafrika und Südasien bleibend, mit dort angesiedelten seiner Art zu verbringen. Seinen Stand wählt er sich in großen einsamen Waldungen, und hier führt er, soweit bis jetzt bekannt, ein wahres Stillleben oder macht sich doch wenig bemerklich. In Indien, wo er ebenfalls brütet, haust er weniger in Waldungen und Dschungeln als auf offenen Ebenen und im bebauten Lande, gleich viel ob dasselbe trocken oder feucht ist. In Nordafrika sieht man ihn hauptsächlich im Winter, oft in Gesellschaften von sechs bis zwölf Stück, gern auf Felsen nahe am Strome, noch lieber aber in der Steppe und hier zuweilen viele Kilometer weit von einem ihm zugänglichen Gewässer entfernt. In Nordwestafrika hat man ihn horstend gefunden.

Lebensweise und Betragen, Sitten und Gewohnheiten des Schlangenbussardes erinnern ungleich mehr an unseren Mäusebussard als an irgend welchen Adler. Er ist nach meinen Beobachtungen ein ruhiger, fauler, grilliger und zänkischer Vogel, welcher sich um nichts anderes zu bekümmern scheint als um das Wild, welches er jagt, und um andere seiner Art, welche im Fange glücklicher waren. Am Horste ist er nach allen Angaben scheu und vorsichtig, auch schreilustig; in Afrika vernimmt man kaum einen Laut von ihm und lernt ihn als einen der unvorsichtigsten aller dortigen Raubvögel kennen. Wenn er aufgebäumt hat, glotzt er den sich nähernden Jäger mit seinen großen Augen an und denkt an alles andere, nur nicht an das Fortfliegen. Doch sieht man ihn nur gegen Abend und in den frühesten Morgenstunden aufgebäumt; während des ganzen übrigen Tages betreibt er langsam und gemächlich seine Jagd. Kreisend schwebt er über nahrungversprechenden Gefilden, oder bewegungslos sitzt er am Rande der Gewässer, um auf Beute zu lauern. Im Fluge rüttelt er oft wie sein Vetter, der Bussard; beim Angriffe senkt er sich langsam in die Tiefe herab und bewegt sich vermittels einiger Flügelschläge noch eine Zeit lang über dem Boden dahin, bis er endlich mit weit ausgestreckten Fängen auf diesen herabfällt, um das ins Auge gefaßte Thier zu ergreifen. Bei seinen Fußjagden, wie ich sie nennen möchte, wadet er oft in das seichte Wasser hinein und greift dann plötzlich mit einem Fange vorwärts. Besonders auffallend war es mir, zu erfahren, daß er alle anderen seiner Art mit schelen Augen betrachtet und futterneidisch über sie herfällt, wenn sie glücklicher waren. Sowie sich einer herabsenkt, um eine Beute aufzunehmen, eilt ein zweiter auf ihn los, packt ihn mit Wuth an und nun beginnt eine Balgerei, welche so heftig wird, daß beide Gegner sich zuweilen in einander verkrallen, gegenseitig am Fliegen hindern und zum Boden herabfallen. Hier angekommen, rennt jeder ein paar Schritte dahin und erhebt sich nun langsam wieder, wahrscheinlich eifrig nach der inzwischen entschlüpften Beute spähend. Zur Mittagszeit besucht er die Sandbänke am Strome, um zu trinken, hüpft hier rabenartig umher, fliegt auch wohl von einer Stelle zur anderen und entfernt sich dann langsam. Bei der größten Hitze bäumt er auch mittags auf und sitzt dann stundenlang, anscheinend regungslos, hoch aufgerichtet wie ein Mann. Zur Nachtherberge wählt er gern einzeln stehende [712] Bäume, welche eine weite Umschau gestatten; aber auch hier läßt er den Menschen ohne Bedenken an sich herankommen.

Der Schlangenbussard verdient seinen Namen; denn seine Jagd gilt vorzugsweise diesen Kriechthieren. Aber er begnügt sich nicht mit ihnen, sondern nimmt auch Eidechsen und Frösche auf, stellt den Fischen nach, jagt auch, nach Jerdon, selbst auf Ratten, schwache Vögel, Krebse, große Kerbthiere und Tausendfüßler. Doch bilden Kriechthiere und Lurche unter allen Umständen sein Lieblingswild. Er geht beim Angriffe so verständig zu Werke, daß ihm selbst die gefährlichste Schlange wenig oder nichts anhaben kann, und seine Kunst im Jagen scheint ihm angeboren zu sein. "Mein jung aufgezogener Schlangenadler", so schreibt Mechlenburg an Lenz, "stürzt sich blitzschnell auf jede Schlange, sie mag so groß und wüthend sein, als sie will, packt sie dicht hinter dem Kopfe mit dem einen Fuße und gewöhnlich mit dem anderen Fange weiter hinten, unter lautem Geschrei und Flügelschlägen; mit dem Schnabel beißt er dicht hinter dem Kopfe die Sehnen und Bänder durch, und das Thier liegt widerstandslos in seinen Fängen. Nach einigen Minuten beginnt er das Verschlingen, indem er die sich noch stark windende Schlange, den Kopf voran, verschluckt und bei jedem Schluck ihr das Rückgrat zerbeißt. Er hat in einem Vormittage binnen wenigen Stunden drei große Schlangen verzehrt, worunter eine über einen Meter lange und sehr dicke. Nie zerreißt er eine Schlange, um sie stückweise zu verschlingen. Die Schuppen speit er späterhin in Ballen aus. Schlangen zieht er jedem anderen Nahrungsmittel vor. Zu gleicher Zeit habe ich ihm lebende Schlangen, Ratten, Vögel und Frösche gebracht; doch fuhr er, die ihm näher befindlichen Thiere nicht berücksichtigend, auf die Schlangen los." Elliot erwähnt, daß man einen gesehen habe, welcher von einer Schlange eng umringelt worden war, deren Kopf aber doch so fest hielt, daß alle Anstrengungen des Giftwurmes vergeblich waren. Uebrigens ist seine Geschicklichkeit und sein dichtes Gefieder der einzige Schutz gegen das Gift der Schlangen, er selbst aber keineswegs giftfest, wie man früher glaubte. Auf den Wunsch von Lenz ließ Mechlenburg seinen Schlangenbussard von einer Kreuzotter in den Kopf beißen: der Vogel verlor von Stund an seine Munterkeit und endete am dritten Tage.

Der Horst, welcher regelmäßig auf hohen Laub-oder Radelbäumen, aber in sehr verschiedener Höhe über dem Boden, ausnahmsweise auch auf Felsen steht, wird Anfang Mai erbaut oder bezüglich wieder bezogen; denn das Paar kehrt, auch wenn ihm die Eier genommen werden, viele Jahre lang regelmäßig zu demselben Brutgebiete zurück. Nach Seidensachers eingehenden Beobachtungen erscheint es in Steiermark um die Mitte des März, meist begleitet von einem oder zwei anderen seiner Art und schwebt zuerst hoch in der Luft über dem gewählten Horstplatze umher. Nach einigen Tagen hat sich die Gesellschaft getrennt, und man sieht fortan nur noch das Nistpaar mit starr gehaltenen Fittigen und fast ohne Flügelschlag kreisen, vernimmt auch oft die laute Stimme, ein echtes, wie "Hii, hii" klingendes Bussardgeschrei. Alsbald beginnt es auch mit Ausbesserung seines alten Horstes, falls es nicht, durch Eiraub oder wiederholte Störungen veranlaßt, einen anderen wählt oder selbst einen neuen errichtet. Der Horst selbst ist kaum größer als der unseres Bussards, besteht aus dürren, nicht eben starken Zweigen, und die flache Nestmulde ist mit eben solchen ausgelegt. Wie bei anderen Raubvögeln kleiden die Alten die Nestmulde wohl auch mit grünem Laube aus und befestigen außerdem grüne Zweige als Schattendach. Man hat angegeben, daß das Weibchen zwei Eier legt, immer aber nur ein einziges Ei gefunden und zwar in den ersten Tagen des Mai, bald nach Ankunft der Vögel am Horste. Es ist länglichrund, verhältnismäßig sehr groß, dünn und rauhschalig und bläulichweiß von Farbe. Der Paarung gehen, laut Tristram, oft wiederholte Flugspiele voraus. Männchen und Weibchen verfolgen einander unter lautem Geschrei, erheben sich in die Luft, beschreiben in bedeutender Höhe über dem Boden enge Kreise und stürzen sich dann plötzlich wieder niederwärts, das Weibchen in den Horst, das Männchen dicht daneben auf seinen Ruhesitz und Wachposten. Beide Gatten brüten, nach Mechlenburg, achtundzwanzig Tage lang, beide theilen sich auch in Erziehung und [713] Auffütterung der Jungen. Bei Gefahr trägt die besorgte Mutter ihr Junges einem anderen Horste zu: so beobachteten übereinstimmend und von einander gänzlich unabhängig Graf Wodzicki und die Jäger des Prinzen von Wied.

Jung aufgezogene Schlangenadler werden zahm und zutraulich; doch muß man sich, um solches zu erreichen, viel mit ihnen abgeben. Bei der Fütterung stürzen sie sich, laut Eugen von Homeyer, futterneidisch mit weitem Sprunge auf die hingeworfenen Fleischstücke, legen sich mit ausgebreiteten Flügeln darauf, schreien laut und wohlklingend "Bli bli", fast wie ein Bussard, und sehen sich mißtrauisch um, als glaubten sie, daß ihnen jeder andere Vogel die Nahrung wegnehmen wolle. Leider ist es nicht so leicht, einen Schlangenbussard für den Käfig zu erhalten: ich habe nur zwei von ihnen in der Gefangenschaft beobachten und bloß einen einzigen, noch dazu verwundeten, geraume Zeit pflegen können, bin daher nicht im Stande, ein richtiges Urtheil über den ebenso seltenen als auffallenden Vogel zu fällen. Mein Pflegling saß still und ruhig auf einer und derselben Stelle und starrte jeden, welcher ihm sich näherte, mit den großen gelben Augen an, ohne sich weiter behelligen zu lassen, machte daher den Eindruck eines geistig wenig begabten Vogels. Daß dem nicht so, beweisen andere gefangene Schlangenbussarde zur Genüge. Ein jung dem Neste entnommener Vogel dieser Art, welchen Seidensacher wiederholt beobachten konnte, war ungemein zahm, so daß er mit unverschnittenen Flügeln frei im Hofe umherlaufen durfte, ließ sich von jedem, auch ihm fremden Menschen anfassen und streicheln, that Haushühnern nichts zu Leide, fing aber Mäuse und Ratten, trug sie längere Zeit umher und verzehrte sie mitunter, ließ auch seine Stimme oft vernehmen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 711-714.
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