Weihen (Milvinae)

[673] Die Weihen (Milvinae) bilden eine artenreiche Unterfamilie, welche in allen Erdtheilen vertreten ist und sich durch Mannigfaltigkeit der Gestalt auszeichnet. Es hält schwer, für die Gesammtheit allgemein gültige Kennzeichen aufzustellen, weil im Leibesbau erhebliche Unterschiede bemerklich werden; doch finden sich so viele Uebergangsglieder zwischen den verschiedenen Arten, daß deren Zusammengehörigkeit kaum in Frage gestellt werden darf.

Die Weihen sind meist gestreckt gebaut; der Hals ist kurz, der Kopf klein oder mittelgroß, der Schnabel regelmäßig schwach, gewöhnlich vom Grunde angebogen, langhakig, aber nur ausnahmsweise leicht gezahnt, der Flügel regelmäßig lang, mehr oder minder schmal und immer spitzig, der Schwanz ausnahmsweise sehr kurz, häufiger mittellang, gewöhnlich sehr lang und bei vielen tief gegabelt, der Fuß entweder lang und schwach oder kurz und derb, stets aber kurzzehig, mit rundlichen und spitzigen Krallen bewehrt. Das Gefieder, fast immer reich, zeichnet sich durch Weiche aus, umgibt besonders dicht den Kopf und bildet hier ausnahmsweise sogar einen Schleier, wie ihn sonst nur die Eulen zeigen. Dieser Schleier besteht aus langen Federn, welche die große Ohröffnung umgeben und gewissermaßen die Muschel des Ohres ersetzen, da sie auseinander gebreitet und zum Auffangen des Schalles benutzt werden können. Hinsichtlich der Färbung des Gefieders läßt sich höchstens sagen, daß lichte und lebhafte Farbentöne vorherrschen.

Alle Weihen sind vortreffliche Flieger, unterscheiden sich fliegend aber von anderen Raubvögeln sehr wesentlich. Ihr Flug ist selten rasch und niemals stürmend wie bei den Edelfalken, auch kaum durch jähe Wendungen ausgezeichnet, gewöhnlich vielmehr ein ruhiges, gleichmäßiges Schweben ohne Flügelschlag, welches bei einigen Arten zu einem Schaukeln wird. Die Flügelspitzen werden dabei über den Körper erhoben, und das Bild des fliegenden Vogels erhält dadurch etwas sehr eigenthümliches. Auf dem Boden bewegen sich einige Weihen mit vielem Geschicke, andere hingegen äußerst unbehülflich; mit Sumpf und Wasser sind einzelne sehr vertraut. Unter den Sinnen steht ausnahmslos das Auge obenan; diejenigen, wel che den Schleier tragen, zeichnen sich auch durch ihr vortreffliches Gehör aus. Feine Empfindung scheint allen gemeinsam zu sein; über Geschmack und Geruch vermögen wir mit Sicherheit nicht zu urtheilen. Die geistigen Fähigkeiten scheinen geringer zu sein als bei den bisher genannten Falken. Die Weihen sind durchgehends nicht besonders klug, zwar listig, neugierig und scheu, aber nicht vorsichtig, raubgierig, aber nicht muthig, eher feig, jedoch dreist, frech und zudringlich; einzelne von ihnen lassen gern andere Raubvögel für sich arbeiten, indem sie ihnen die erfaßte Beute abjagen, sind also mehr Diebe als Räuber. Nur die Bettler unter ihnen bekümmern sich um die Außenwelt, namentlich um andere Raubvögel, welche sie als ihre Arbeiter betrachten, die große Mehrzahl lebt für sich allein und meidet Umgang mit anderen Geschöpfen. Viele halten sich höchstens paarweise zusammen, andere bilden zahlreiche Gesellschaften unter sich und bethätigen Anhänglichkeit und Liebe zu einander. Unstet und ruhelos sind sie alle. Ihre Thätigkeit beginnt mit dem frühesten Morgen, währt, höchstens mit Ausnahme der Mittagsstunden, den ganzen Tag hindurch und endet erst mit Beginn der vollständigen Dämmerung. Man sieht einzelne langsamen Fluges über Steppen, Feldern, Wiesen, Sümpfen und Gewässern dahinstreichen, scharf nach unten spähen, plötzlich etwas aufnehmen und ihren Weg weiter fortsetzen oder gewahrt andere in hoher Luft dahinziehend und wunderbare Flugkünste offenbarend, bis auch ihrem Auge die Tiefe nutzbares bietet. Dann lassen sie sich langsam hernieder [673] und nehmen das gefundene mit raschem Griffe weg; auf längere Verfolgung lassen sie sich nicht ein. Durchaus eigenthümlich ist die Jagdweise einzelner Weihen; denn sie erinnert viel mehr an die Kerbthierjagd der Schwalben als an die Jagd der Raubvögel, und wirklich nähren sich die betreffenden Arten auch nur von Kerfen. Die Beute der Gesammtheit besteht in kleinen Säugethieren, unbehülflichen Vögeln, in Kriechthieren, Lurchen, Fischen und in Kerbthieren, endlich auch in Aas, doch wird dieses nur von den unedleren Arten angerührt. Einige schaden mehr, als sie nützen; die Mehrzahl macht sich, vom menschlichen Standpunkte aus betrachtet, verdient.

Der Horst steht auf Felsen, in Mauernischen alter Gebäude oder auf Kirchthürmen, auf Bäumen, in Gebüschen und endlich auf dem flachen Boden. Die Eierzahl schwankt zwischen eins und fünf. Beide Geschlechter scheinen zu brüten, beide lieben ihre Brut außerordentlich und theilen sich redlich in die Mühe der Aufzucht der Jungen.

Alle Weihen werden in der Gefangenschaft bald zahm und einige befreunden sich auch mit ihrem Pfleger; die große Mehrzahl aber ist langweilig und gleichgültig im Käfige, und einige können hier gar nicht gehalten werden. Zur Abrichtung benutzt man bei uns zu Lande keine einzige Art; die Baschkiren aber wissen auch Mitglieder dieser Familie zur Baize zu verwenden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 673-674.
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