1. Sippe: Bartgeier (Gypaëtus)

[7] Die Edelfalken unter den Geiern oder die edelsten Mitglieder der Familie sind die Bartgeier (Gypaëtus). Sie zeichnen sich nicht bloß vor allen übrigen Arten ihrer Gruppe, sondern auch vor allen Raubvögeln überhaupt durch auffallend gestreckten Leibesbau so wesentlich aus, daß sie als Vertreter einer eigenen Familie (Gypaëtidae), mindestens einer Unterfamilie (Gypaëtinae), betrachtet werden. Ihr Leib ist kräftig, aber gestreckt, der Kopf groß, lang, vorn platt, hinten etwas gewölbt, der Hals kurz, der Flügel sehr lang und spitzig, die dritte Schwinge, welche wenig über die zweite und vierte, wohl aber weit über die erste vorsteht, in ihm die längste, der sehr lange, zwölffederige Schwanz stufig oder keilförmig, der Schnabel groß und lang, die Oberkinnlade an der Wurzel sattelförmig eingebuchtet, gegen die Spitze hinaufgeschwungen, scharfhakig herabgekrümmt, an der Schneide zahnlos; die untere Kinnlade gerade, der Fuß kurz und verhältnismäßig schwach, der Fang mittellang und sehr schwach, mit starken, aber wenig gekrümmten und ziemlich stumpfen Nägeln bewehrt, das Gefieder reich und großfederig. Die Schnabelwurzel umgeben nach vorn gerichtete Borstenbüschel, welche die Wachshaut bedecken und auch den Unterschnabel theilweise einhüllen; den Kopf bekleiden dunen- und borstenartige, kurze, den Hals dagegen große Federn; das übrige Gefieder liegt etwas knapper an, verlängert sich aber namentlich an den Hosen noch bedeutend und bedeckt die Fußwurzeln bis gegen die Zehen hinab.

Das Knochengerüst zeigt auffallende Eigenthümlichkeiten. Die Wirbelsäule zählt dreizehn Hals-, acht Rücken- und sieben Schwanzwirbel; das Brustbein ist lang und breit, der Kamm auf ihm sehr hoch; die Armknochen sind ungewöhnlich, die Schulterknochen auffallend stark, die Schlüsselbeine kräftig, fest an dem Brustbeine anliegend, alle Beinknochen dagegen schwach. Der Schädel ist oben flach und schmal, unten hingegen so breit, daß die Gelenke der Unterkiefer weit von einander abstehen; die Schädelhöhle verhältnismäßig klein; die Kiefer selbst sind äußerst biegsam. [7] Die Zunge ist kurz und ziemlich breit, der Gaumen mit vielen Hautzähnen besetzt, die Speiseröhre auffallend weit und so faltig, daß eine großartige Ausdehnung möglich wird. Schlund und Magen bilden einen einzigen Sack, obwohl man Speiseröhre, Kropf und den eigentlichen Magen unterscheiden kann, weil beide durch kleine Wülste geschieden werden. Der schlauchförmige Magen ist ebenfalls faltig und dehnbar, im Inneren mit einer großen Menge von Drüsen besetzt, welche einen scharfen, übelriechenden Magensaft absondern. Die Därme sind mittellang, die Bauchspeicheldrüsen sehr groß. Die Brustmuskeln sind selbst für Raubvögel ungewöhnlich entwickelt, die Kau- und Beinmuskeln hingegen ungemein schwach. Unter den Sinneswerkzeugen verdient vor allem das Auge Beachtung; es hat innerhalb der Klasse seinesgleichen nicht. Bei anderen Vögeln bleibt nur die Regenbogenhaut unbedeckt, bei dem Geieradler aber ist auch die Augenhaut (Sclerotica) sichtbar und bildet einen breiten, wulstigen Ring, welcher sich rings über den Rand der Regenbogenhaut anlegt und prachtvoll gefärbt ist. Dieser Ring besteht, nach Schinz, aus dichtem festen Zellengewebe und dient anstatt der Verbindungshaut zur Befestigung des Auges. Die Nasenhöhle ist groß und weit; die Riechmuscheln sind sehr lang und zweimal ineinander gewunden. Das Gehirn ist verhältnismäßig klein und nur das kleine Gehirn tief gefaltet.

Zur Zeit hat man sich noch nicht darüber geeinigt, ob man alle Geieradler der Erde zu einer Art zu zählen oder als verschiedene Arten anzusehen hat; sicher aber ist, daß die in Afrika lebenden von dem auf unseren Alpen vorkommenden ständig sich unterscheiden. Hinsichtlich ihrer Lebensweise und ihres Betragens stimmen, wie die neueren Beobachtungen dargethan haben, alle Geieradler überein, und deshalb ist es vollkommen zulässig, wenn man aus den in Europa, Asien und Afrika gesammelten Beobachtungen ein Gesammtbild des Lebens und Treibens zusammenstellt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 7-8.
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