Kahlkopfgeier (Vultur calvus)

[43] Der indische Vertreter des gewaltigen Vogels ist der Kahlkopfgeier, »Sukuni« der Hindu (Vultur calvus und pondicerianus, Otogyps calvus, Hemi gyps pondicerianus). Seine Länge beträgt, laut Jerdon, einundneunzig, die Fittiglänge sechzig, die Schwanzlänge fünfundzwanzig Centimeter; der Vogel ist also erheblich kleiner als der Ohrengeier. Der Kopf, mit alleiniger Ausnahme der mit haarartigen Federn gebildeten, spärlich bekleideten Ohrgegend, Kinn, Kehle, Gurgel, Vorderhalsseiten und eine Stelle am inneren Theile des Unterschenkels über dem Knie sind nackt, Vorderhalsmitte und obere Kropfgegend mit haarigen, untere Kropfgegend, einen in die Breite gezogenen, bis zu den Achseln reichenden Fleck bildend, Oberschenkel, Hüft- und Kreuzbeingegend mit wolligen Dunen bekleidet, die Krausenfedern nur im Genick haarig, die Ohrlappen und die Falten an Kehle und Gurgel sehr entwickelt, Mantel, mittlere Flügeldecken und alle Untertheile bräunlichschwarz, die Schulterfedern fahlbraun, mit mehreren, weit von einander stehenden feinen, dunklen Querlinien und dunkleren Spitzen geziert, die kleinen Flügeldeckfedern ebenso, die Armschwingen ober- und unterseits graulich lichtbraun, an der Spitze schwarzbraun, so daß eine breite Flügelbinde entsteht, die Handschwingen und Steuerfedern bräunlichschwarz gefärbt. Alle nackten Theile sehen karminroth, bei Erregung blutroth aus. Die Iris ist dunkelbraun, der Schnabel hornschwarz, die Wachshaut dunkel, der Fuß hell karminroth.

Das Verbreitungsgebiet des Vogels erstreckt sich über ganz Indien bis Burma.

Von Mittelnubien an südwärts vermißt man den Ohrengeier selten bei einem größeren Aase. Er scheut sich nicht vor dem Menschen und kommt, obgleich er sich nicht so zutraulich zeigt wie die kleineren Rabengeier, dreist bis in die Dörfer oder auf die Schlachtplätze der Städte. Auf dem Aase spielt er den Alleinherrscher und vertreibt alle übrigen Geier, vielleicht mit Ausnahme der bissigen Gänsegeier. Die Hunde, welche in ganz Nordostafrika das Gewerbe der Geier beeinträchtigen, weiß er stets in Achtung zu erhalten. Ganz dasselbe wird von seinem indischen Vertreter gesagt. »Die Indier«, bemerkt Jerdon, »nennen den Sukuni ›Königsgeier‹, weil ihn alle [43] übrigen fürchten und ihm stets das Feld räumen, wenn er sich zeigt.« An Gefräßigkeit steht jener unter allen seinen Verwandten obenan, demungeachtet geberdet er sich nicht so gierig wie seine langhälsigen Verwandten. Aber seine Mahlzeit geht regelmäßig überaus rasch von statten. Vier Ohrengeier fressen binnen fünf Minuten den größten Hund bis auf den Schädel und die Fußknochen rein auf. Von der Stärke eines Ohrengeiers habe ich mich oft überzeugt. Ein einziger Biß von ihm zerschneidet die dickste Lederhaut eines großen Thieres, und wenige Bisse genügen, um auf eine bedeutende Strecke die Muskeln bloszulegen.


Kahlkopfgeier (Vultur calvus). 1/6 natürl. Größe.
Kahlkopfgeier (Vultur calvus). 1/6 natürl. Größe.

Ich sah einen dieser Vögel eine ausgewachsene Ziege mit dem Schnabel packen und mit größter Leichtigkeit fortziehen.

Nach jeder Mahlzeit fliegt der Ohrengeier dem nächsten Wasser zu, trinkt und putzt sich dort, ruht aus, indem er sich wie ein Huhn in den Sand legt und behaglich sonnt, und fliegt dann kreisend, oft auf Strecken hin ohne Flügelschlag schwebend, seinem Schlafplatze zu. Zur Nachtruhe wählt er sich nicht immer die größten Bäume aus, sondern begnügt sich mit jedem, welcher ihm passend erscheint, oft mit einem kaum drei Meter hohen Mimosenstrauche. Hier sitzt er in sehr aufrechter Haltung, wie ein Mann, den Kopf dicht eingezogen, den Schwanz schlaff herabhängend. Am Morgen verweilt er wenigstens zwei Stunden nach Sonnenaufgang auf seinem Schlafplatze, [44] und bis zum Auffliegen ist er so wenig scheu, daß man ihn unterlaufen und selbst mit Schrot herabschießen kann. Als ich das erstemal von Mensa zurückkehrte, traf ich in einem wegen des durchführenden Weges wenigstens einigermaßen belebten Thale eine Gesellschaft von etwa acht schlafenden Ohrengeiern an. Die Vögel saßen so fest, daß ich um ihren Schlafbaum herum reiten konnte, ohne sie aufzuscheuchen. Erst nachdem ich einen von ihnen niedergeschossen hatte, flogen sie auf, waren aber noch so schlaftrunken, daß sie schon nach einer Entfernung von ungefähr fünfhundert Schritten wieder aufbäumten. Auf dem Aase erscheinen sie nie vor zehn Uhr Morgens und verweilen daselbst spätestens bis vier oder fünf Uhr nachmittags. Man erkennt sie an ihrem ruhigen, schönen Fluge, namentlich aber daran, daß sie, wenn sie ein Aas aufgefunden haben, weit über hundert Meter senkrecht herabfallen, hierauf die Schwingen wieder breiten, die Ständer weit von sich strecken und sich dann vollends schief auf das Aas herabsenken. Hier halten sie sich, wie die Kuttengeier, vorzugsweise an die Muskeln; Eingeweide scheinen sie zu verschmähen.

Ueber die Fortpflanzung des Ohrengeiers weiß ich aus eigener Erfahrung nichts mitzutheilen und muß deshalb Levaillant anführen. »Der Ohrengeier nistet in Felshöhlen. Das Weibchen legt zwei, höchst selten drei weiße Eier und zwar im Oktober. Im Januar schlüpfen die Jungen aus. Da die Vögel in zahlreichen Gesellschaften leben, enthält oft eine Felsenwand so viel Horste, als sie bergen kann. Wie es scheint, leben die Mitglieder einer Ansiedelung im besten Einvernehmen unter einander. Ich habe in einer und derselben Höhle bisweilen zwei bis drei Horste gesehen, einen dicht an dem anderen. Mit Hülfe meiner Hottentotten habe ich mein Leben auf das Spiel gesetzt, um die Horste zu untersuchen. Ihre Umgebung ist wirklich ekelhaft und der Gestank daselbst fast unerträglich. Dazu kommt, daß die Felsen von der herbeigeschleppten Fleischmenge glatt und schlüpfrig geworden sind, so daß man in Gefahr kommt, auszugleiten und in die Tiefe zu stürzen. Ich kostete Eier des Ohrengeiers und fand sie ebenso wie die des Gänsegeiers gut genug, um sie zu gebrauchen. Die jungen Geier entschlüpften dem Ei in einem weißen Dunenkleide.«

Ich glaube, daß vorstehende Beschreibung der Berichtigung bedarf. Höchst wahrscheinlich legt der Ohrengeier nicht zwei oder drei Eier, sondern bloß ein einziges, und sicherlich sind diese für Menschen europäischer Abkunft gänzlich ungenießbar. Für das erstere spricht eine Mittheilung Gourney's, dessen gefangenes Weibchen vier Jahre nach einander und zwar stets im Februar je ein einziges, auf weißem Grunde mit röthlichen, am stumpfen Ende sich häufenden Flecken gezeichnetes Ei legte; das letztere bedarf für den, welcher einmal ein frisches Geierei berochen hat, weiterer Worte nicht. In allem übrigen mag Levaillant Recht behalten.

Während meines längeren Aufenthaltes in Chartum jagte ich einen Monat lang tagtäglich auf Geier, welche ich durch ausgelegtes Aas herbeilockte. Letzteres wurde auf einer weiten Ebene hinter einem dort stehenden Erdwalle ausgeworfen und uns dadurch die Möglichkeit geboten, an die schmausende Gesellschaft bis auf zwanzig Schritte heranzuschleichen. Bei diesen Jagden sammelte ich die Beobachtungen, welche ich weiter oben mitgetheilt habe. Es ist mir wiederholt gelungen, mit Hülfe eines rasch gewechselten Gewehres mehrere Ohrengeier zu erlegen; ich habe einmal sogar vier von ihnen mit einem Schusse niedergestreckt. Nebenbei wurden auch Fallen gestellt und zwar solche der allereinfachsten Art; sie bewiesen sich aber als wirksam. Ich hatte nach kurzer Zeit eine ziemliche Anzahl von Geiern beisammen. Unter diesen nun waren stets mehrere Ohrengeier, und sie wurden bald meine Lieblinge. Sie betrugen sich in der Gefangenschaft von allem Anfange an ruhig und verständig, mir gegenüber furchtlos und in gewissem Sinne vertraulich, ganz im Gegensatze zu den Gänsegeiern. Alle waren an Stricke gefesselt; es fiel aber keinem von ihnen ein, die Kraft ihres gewaltigen Schnabels an ihren Fesseln zu erproben. Schon am dritten Tage der Gefangenschaft nahm der erste Ohrengeier, welchen ich erlangt hatte, Wasser zu sich; am vierten Tage begann er eine vor ihm liegende Katze, welche er drei Tage verschmäht hatte, zu bearbeiten; am fünften Tage fraß er bereits vor meinen Augen, und fortan achtete er nicht mehr auf mich, auch wenn ich dicht neben ihm stand. Später nahm er mir die Nahrung aus der Hand.

[45] Beim Fressen stellt sich der Ohrengeier auf seine gerade ausgestreckten Füße, legt alle Federn glatt und nimmt eine vollkommen wagerechte Stellung an. Das vor ihm liegende Fleischstück wird mit den Klauen festgehalten und dann mittels des Schnabels mit einer Kraft bearbeitet, welche mit dem Riesenkopfe durchaus im Einklange steht. Er verschlingt übrigens nur kleine Stückchen und nagt die Knochen sorgfältig ab. Wasser ist auch ihm Bedürfnis: er trinkt viel und badet sich, wenn er dies haben kann, sehr regelmäßig. Im Zorne sträubt er alle Federn und faucht wie eine Eule; dabei röthet sich der nackte Fleck am Hinterkopfe in auffallender Weise. Aergert er sich mehr als gewöhnlich, so pflegt er das im Kropfe aufbewahrte Fleisch auszubrechen; er frißt es aber auch, wenn die Ruhe eintritt, nach Art der Hunde, wieder auf. In einem größeren Gesellschaftsbauer benimmt er sich ebenso ruhig wie in der Freiheit. Er ist sich seiner Stärke bewußt und läßt sich nichts gefallen, wird aber niemals zum angreifenden Theile. Unser Klima scheint leicht von ihm ertragen zu werden, obgleich er Wärme in hohem Grade liebt. In unseren Thiergärten hält man die Ohrengeier Sommer und Winter im Freien. Sie frieren bei strenger Kälte allerdings und geben dies durch heftiges Zittern kund, erhalten dafür aber etwas mehr zu fressen als im Sommer und trotzen dann dem Winter.

Mehr als jeder andere Geier steht der Ohrengeier bei den Eingeborenen in schlechtem Rufe. Man hält ihn nicht nur für unrein in Glaubenssachen, wie die übrigen, sondern auch für Menschen gefährlich. Gerade von ihm will man beobachtet haben, daß er schlafende Leute angehe und tödte.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 43-46.
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