2. Vorschule.

(Bis 1785.)

[14] Aus der mythischen Zeit meines Lebens erinnere ich mich dunkel, daß meine Mutter mir, als ich drei Jahre alt war, erklärte, ein vorüberreitender blasender Postillon bringe die Nachricht von dem eben geschlossenen Frieden. Es war freilich nur der Teschner Friede, mit welchem ein Krieg endete, der gar nicht zum Ausbruche gekommen war; indeß prägte mir meine Mutter dadurch die Erinnerung an das erste Weltereigniß, das ich erlebte, ein, und der Schall des Posthorns klang mir schon bedeutungsvoll, ehe es mir deutlicher wurde, daß er die Ankunft von Nachrichten verkündet, welche vielleicht große Begebenheiten melden, Freude oder Leid verbreiten, und noch in dem geheimnißvollen Felleisen eingeschlossen sind, dessen Inhalt dem Ueberbringer unbekannt ist und ihn auch gar nicht kümmert. Eine noch deutlichere Erinnerung aus der frühesten Zeit meines Lebens betrifft einen Wunderdoctor im Scharlachkleide mit Goldtressen, der, auf einem Schimmel sitzend, neben seinem ebenfalls berittenen Hanswurste zum versammelten Volke sprach.

Meine Mutter hatte den Vorschlag, in das elterliche Haus zurückzukehren, abgelehnt; sie, die von Jugend auf an Wohlstand gewöhnt war, zog dem sorgenfreien Leben unter dem Schutze ihrer Eltern eine Lage vor, wo Kummer, Noth und tausendfache Sorge ihrer wartete, um nur mich besser erziehen zu können; denn ich war der Gegenstand ihrer innigsten Liebe. Noch schwebt mir aus meinen Kinderjahren die Erinnerung vor, wie ich in der Abenddämmerung, wo sie ein Viertelstündchen von ihrer Arbeit ruhte, auf ihrem Schooße saß, Erzählungen und gute Lehren vernahm, sie küßte und fragte; Abends um 9 Uhr ging sie mit mir zu Bett, schlang ihren Arm um mich, sprach mit mir von Gott und lehrte mich aus dem Herzen beten; des Morgens stahl sie sich von meiner Seite und gönnte mir noch eine oder zwei Stunden Ruhe.

Das beschränkte Verhältniß ihrer Lage durfte nicht beengend auf meine Entwickelung einwirken; sie war karg gegen sich,[14] um für mich freigebig sein zu können. Sie kleidete mich anständig und nett, so daß meine äußere Erscheinung mir auch den Zutritt zu Personen aus den gebildeten Ständen, sowie den Umgang mit Knaben wohlhabender Eltern erleichterte. Vornehmlich sparte sie nichts, um ausgezeichnete Männer zu Hauslehrern für mich zu gewinnen, unterstützte sie aus allen ihren Kräften und arbeitete noch einmal so emsig, um ihnen eine Freude machen zu können, wenn sie sah, daß sie mich mit wahrem Interesse unterrichteten und ich mit Liebe an ihnen hing. Da kamen die lieben Verwandten und schalten sie eine Thörin, die ihr weniges Geld für meine Lehrer und meine Kleidung wegwürfe. Sie ließ sich aber, wie tief sie auch dadurch gekränkt wurde, nicht irre machen, schwieg lieber von ihrer Armuth, verbarg ihre Sorgen, arbeitete für mich und fand sich durch den Erfolg ihrer Bemühungen belohnt. Jeder Fortschritt, den ich machte, war ihr interessant und es machte sie sehr glücklich, wenn ich gute Zeugnisse erhielt und sie mich erfreuen konnte. Dabei verstand sie auch zu strafen; doch waren ihre Strafen selten und nur durch ihre Seltenheit hart.

Ich muß wohl ein aufgeweckter Knabe gewesen sein und meine Mutter sich gefreut haben, wenn ich bei fremden Leuten Beifall fand, denn ich knüpfte allerhand Bekanntschaften in der Nachbarschaft an. Unter Andern fanden die Töchter des uns gegenüber wohnenden Dr. Sammet Gefallen an mir und hatten mich, da ich etwa 6 Jahre alt war, viel um sich; sie machten sich allerhand Spaß mit mir, setzten mich z.B. im großen Auditorium ihres Vaters (dem ehemaligen Leipziger Concertsaale in den drei Schwanen im Brühle), als die Studenten schon im Begriffe waren, zur Vorlesung zu kommen, auf das Katheder, führten mich auch zu ihrem Vater, der sich mir nicht abgeneigt zeigte und, was ich mir sehr wohl merkte, meinte, ich würde ein ganz gescheidter Mensch werden. Uebrigens wurde ich in dieser Familie schon mit einem furchtbaren Schicksale bekannt. Dr. Sammet hatte als juristischer Docent durch seine Gelehrsamkeit, seinen lebhaften Vortrag und seine rücksichtslose Freimüthigkeit in Bezug auf öffentliche Angelegenheiten außerordentlichen[15] Beifall gefunden, durch seine Vorlesungen ein nicht unbedeutendes Vermögen erworben und im Vertrauen auf die Fortdauer einer so reichlichen Einnahme ein ansehnliches Landgut gekauft. Allein das Glück war nun von ihm gewichen: eine Ueberschwemmung hatte auf dem zu theuer gekauften Gute großen Schaden angerichtet und er mußte es den Gläubigern überlassen, da sich sein akademischer Beifall gemindert hatte und seine Hoffnung auf eine Professur wegen seiner freimüthigen Aeußerungen über die Regierung unerfüllt geblieben war. Seine Frau, die durch den früheren Wohlstand übermüthig geworden, war über diesen Wechsel des Glückes in Wahnsinn verfallen; sie stand gemeiniglich unter der Hausthüre und bat die Vorübergehenden um eine Stecknadel, deren sie in großer Menge an sich trug, um sich auf diese Weise einen Schatz zu sammeln. Kam sie zu den Töchtern ins Zimmer, so wurde sie von diesen herausgewiesen, was mir denn sehr wehe that, wiewohl mir die Befreiung von der unheimlichen Erscheinung angenehm war. Später gerieth Sammet durch Abnahme seiner Zuhörer in die bitterste Armuth; erst bei der Feier seines Doctorjubiläums konnte die Regierung sich überwinden, die vor mehreren Jahrzehenden erfahrene Beleidigung zu vergessen und die Noth des greisen Privatdocenten durch eine kleine Pension einigermaßen zu lindern.

Außerdem lebte ich viel unter Studenten, die mancherlei Scherz, dessen ich mich noch erinnere, mit mir trieben. Die nächste Veranlassung hierzu war mein Onkel, Friedrich Leberecht Koch, der Theologie in Leipzig studirte und bei meiner Mutter wohnte. Er war ihr der liebste unter ihren Brüdern und in der That ein ausgezeichneter Mann. Mit trefflichen wissenschaftlichen Talenten verband er Biederkeit und Festigkeit des Charakters; seiner Gelehrsamkeit ging Weltklugheit zur Seite, und bei dem Eifer, seine Berufspflichten auf das Gewissenhafteste zu erfüllen, bewegte er sich eben so gern als auch mit großer Gewandtheit und Anmuth in andern Lebensverhältnissen; bei einer stattlichen, kräftigen Gestalt verschaffte ihm der Verein von lebhafter Phantasie und vielseitiger Bildung,[16] von treffendem Urtheile und ausgebreiteten Kenntnissen, von edlem Selbstgefühle und schnellem Ueberblicke der Verhältnisse einen ehrenvollen Platz in jeder Gesellschaft, und dabei that die Schärfe seines Verstandes der Wärme keinen Eintrag, womit er sowohl dem Wahren und Guten nachstrebte, als auch die, welche ihm näher standen, liebte. Unter den mancherlei Gaben, mit welchen das Geschick mich beglückt hat, steht die Liebe dieses meines Onkels mit in der ersten Reihe. Er nahm sich meiner Kindheit freundlich an und legte den Grund zu meiner Erziehung, überwachte dann mit liebevoller Sorge den Gang meiner Bildung im Knabenalter, wurde mir in den Jünglingsjahren ein trefflicher Rathgeber, bemühte sich dann, mir günstige Verhältnisse für meine bürgerliche Laufbahn zu verschaffen, stand mir in der Bedrängniß bei und bewährte sich mir als der theilnehmendste Freund bis zu seinem Tode. Mit inniger Verehrung habe ich immer an ihm gehangen und das Glück, welches mir die Natur durch diesen Bruder meiner trefflichen Mutter geschenkt hatte, jederzeit lebhaft erkannt. Die Briefe, die er von meinem achten bis zu meinem sechzigsten Jahre an mich gerichtet hat und die ich treulich aufbewahrt habe, geben mir noch jetzt ein rührendes Bild seiner treuen Liebe. Ja, die Blutsfreundschaft ist kein leeres Wort! Ein Freund, den uns die Natur in dem geistigverwandten Stammgenossen gegeben hat, ist der köstlichste, sicherste und dauerhafteste Besitz.

Meine Mutter war sehr glücklich in der Wahl meiner Lehrer, aber darin unglücklich, daß diese meinen Unterricht erst kurz vor ihrem Abgange von Leipzig begannen. Der erste war Ludwig Heimbach, welcher als Secretär des deutschen Ordens ein ziemlich hohes Alter erreicht hat; ihm folgte Schwennicke, ein frommer und liebevoller Mann, der 1783 eine Lehrerstelle am Philanthropin zu Dessau annahm, dann als Erzieher eines Herrn von Zimmermann nach Liefland ging, wo er nach wenigen Jahren starb und meiner Mutter, die er sehr hochachtete, ein kleines Legat vermachte; hierauf der gelehrte, etwas pedantische Christian Heimbach, der nachmals Rector zu Schulpforte wurde; endlich dessen geistvoller Bruder, [17] August Heimbach, der von Leipzig nach Weißenfels in das Haus des Salinendirectors von Hardenberg kam, daselbst Erzieher von Novalis wurde und gleich diesem seinem berühmten Zöglinge frühzeitig starb. An diesen Abberufungen meiner Lehrer hatte hauptsächlich der Kreissteuereinnehmer Weiße Antheil, der als einer der Chorführer der neuern Pädagogik einen so ausgebreiteten Ruf erlangt hatte, daß aufgeklärte und mit ihrem Zeitalter fortschreitende Familien in der Nähe und Ferne sich die Erzieher ihrer Kinder von ihm wählen ließen.

Meine gute Mutter, die mir den ersten Elementarunterricht gegeben hatte, gab auch jetzt ihr Lehramt noch nicht ganz auf, sondern war mir, namentlich auch beim Lateinlernen, behülflich, wie ich mich denn erinnere, daß sie sich in die ersten Sätze des Cornelius Nepos einstudirt hatte. Die Lehrer bewiesen durch ihr Wohlwollen, daß sie mit meinen Fortschritten nicht unzufrieden waren; nur zeigte sich hin und wieder schon, daß ich für Manches, was mir zu trocken vorkam, wenig Gebächtniß und wenig Lust, es auswendig zu lernen, zeigte, wo ich denn auch hart behandelt wurde, wie denn z. B. August Heimbach mich eines Tages die Treppe herabwerfen wollte, da ich ein Verbum in μι nicht ordentlich conjugiren konnte.

Schwennicke war zugleich Lehrer des jungen Heinrich Clodius, mit dem ich bald eine vertraute Freundschaft schloß. Da er vier Jahre älter als ich, lebhaft, talentvoll und wohl unterrichtet war, so mußte es wohl eine eigene Zuneigung sein, was ihn bewog, sich zu mir herabzulassen. Ich kam dadurch in das Haus seiner Eltern, welches ein Sammelplatz von Schöngeistern und Elegants war und dessen Glanz mir sehr wohl gefiel. Die Mutter, Julie, die als eine schöne und feinsinnige Frau die Seele dieses Kreises war und auch als Schriftstellerin bekannt geworden ist, behandelte mich sehr gütig. Der Vater, Christian August, Professor der Dichtkunst und Beredtsamkeit, war ein feuriger und hochtrabender Mann, gewöhnlich von Wein erhitzt, und setzte mich in nicht geringes Staunen, wenn ich ihn auf Spazierfahrten zur Kühlung ganze[18] Citronen ohne Zuthat aussaugen sah. Seinen Sohn, der bei der Taufe den akademischen Depositionsschein erhalten hatte, behandelte er als Studenten und fuchtelte ihn mit dem Degen, wenn er ihn strafen wollte. Auch ich wurde von der Einbildung, nicht viel weniger als ein Student zu sein, angesteckt. Unser Lehrer wohnte in dem Hause des Professors der Theologie, Dr. Dathe, der als ein ungeheurer Esser bekannt war; eines Tages, da wir uns selbst überlassen waren, benutzten wir die Gelegenheit, bei der Köchin desselben genauere Erkundigungen darüber einzuziehen: ich fragte, ob denn der gelehrte Herr wirklich einen ganzen Hasen bei einer Mahlzeit aufzehre, und Clodius, der gründlicher zu Werke ging, wollte wissen, wieviel Marktgeld sie wöchentlich erhalte. Die verrätherische Köchin hinterbrachte diese Nachforschung unserem Lehrer, der unsern Vorwitz dadurch bestrafte, daß er am folgenden Tage jeden von uns einzeln vornahm und mit strenger Ahndung der beleidigten Würde eines Professors bedrohte. Ich kam von dieser Lection ganz zerknirscht nach Hause, warf mich auf einen Stuhl und stützte mein sorgenbelastetes Haupt; auf die Frage meiner Mutter, was dies bedeute, versetzte ich in tragischem Tone: Clodius sitzt im Carcer und ich komme morgen auch hinein! Meine Mutter mußte laut auflachen und ich war völlig erstarrt, als ich, der ich die zärtlichste Theilnahme erwartet hatte, sie bei dem höchst traurigen Schicksale ihres Sohnes eine solche Schadenfreude äußern sah. – Ich genoß mancherlei Vergnügen in der Familie Clodius, namentlich kam ich dadurch, daß sie für immer eine Loge im Theater hatte, zuweilen in die italienische Oper der damals unter Guardasoni in Leipzig spielenden Gesellschaft. Auch führte mich mein Freund im Hause eines italienischen Kaufmanns ein, wobei er mir aber im Voraus die Weisung gab, daß er die größere Tochter des Hauses, Marthe, liebe, ich mich also nur um die Gunst der kleineren, Josephe, zu bewerben habe, welchem Rathe ich denn auch mit großem Eifer folgte, da ich ihn meinem Geschmacke ganz entsprechend fand. Ich gefiel mir sehr wohl in dieser Vorschule der Galanterie, und wenn wir die interessantesten Scenen aus [19] Figaro's Hochzeit aufführten, nahm ich mit der mir zugetheilten Rolle des Pagen gern vorlieb, da sich dann Josephe als Susanne so lieblich mit meiner kleinen Person zu schaffen machte. – Bekanntlich bemerken Kinder sehr leicht die Schwachheiten der Erwachsenen, besonders da diese sich vor ihnen nicht in Acht nehmen zu müssen glauben. Wie wir durch unsere Erkundigung über Dathens colossale Eßlust unser Interesse an Entdeckung solcher Merkwürdigkeiten bewiesen hatten, so wurde ich auch die Schwächen des Professors Clodius trotz seines pathetischen Auftretens bald gewahr und fühlte nur gegen dessen Gattin noch Achtung. Mein Freund dachte nicht viel anders: an dem Morgen, an dem sein Vater gestorben war (im November 1784), schrieb er mir, ich möchte sogleich zu ihm kommen und, da er nicht ausgehen dürfe, den Tag über bei ihm bleiben, damit er sich zerstreue; wir benutzten auch diesen unerwarteten Feiertag aufs Beste und trieben in ungestörter Fröhlichkeit unsere Spiele, so daß am Ende mir selbst der Gleichmuth des verwaisten Sohnes unangenehm auffiel. Sein Leichtsinn ging so weit, daß er von mir verlangte, ich sollte nach dem Begräbnisse an das Haus seines Vormundes kommen, um mich an dessen Stelle zu ihm in den Wagen zu setzen und noch ein Stück mit ihm zu fahren, was mir doch zu sehr mißfiel, als daß ich hätte einwilligen können. – Bald nachdem ich auf die Schule gekommen war, bezog er die Universität, und da sich auf diese Weise eine zu große Ungleichheit unter uns herausstellte, löste sich unsere Freundschaft auf; erst später als akademische Docenten kamen wir wieder zusammen, ohne daß sich eine Spur der früheren Vertraulichkeit gezeigt hätte: unsere Wege waren zu weit auseinander gegangen.

Andere Vergnügungen wurden mir in Brehna zu Theil, wohin ich öfters auf den von Getreidefuhren aus Leipzig zurückkehrenden Wagen abgeholt wurde. Der Großvater, der hier auf einem kleinen Gute mit einem ansehnlichen Wohnhaufe residirte und dem ganzen Städtchen als Respectsperson galt, war ein kräftiger und verständiger Mann. Als ihm einst in seinem hohen Alter auf dem Felde ein Paar Pferde, die er an einer[20] um den Daumen gewickelten Leine hielt, beim Durchgehen den ganzen Daumen ausgerissen hatten, sagte er zu dem von einem ihm ertheilten Auftrage zurückkehrenden Knechte ganz gleichgültig: »der Zeterdaumen ist mir abgegangen«, und ging dann eben so kaltblütig nach Hause, um sich eine aus der Wunde herausragende Flechse abschneiden zu lassen. Mit solcher Härte in Betreff körperlicher Eindrücke stimmte auch die des Charakters überein: nur selten, und vorzüglich nur gegen meinen Onkel (ich nenne ihn so schlechthin, da ich die übrigen Brüder meiner Mutter hier nicht erwähne), zeigte er ein lebhaftes Gefühl; er war stolz auf ihn, da ihm sein durchaus männliches Wesen zusagte und zugleich seine hohe geistige Kraft Achtung einflößte; gegen seine übrigen Hausgenossen war er gewöhnlich rauh und unfreundlich, so daß ihn Alles fürchtete. Auch mir war er nicht gewogen, weil ich ihm nicht wild genug war. Die Großmutter, die, was erst späterhin für mich Bedeutung hatte, aus der Familie des großen Bernhard Siegfried Albinus abstammte, bildete den Gegensatz zu ihm. Bei hohem Wuchse wohlge nährt und noch als Mutter einer zahlreichen Nachkommenschaft im zweiten Gliede mit unverkennbaren Spuren vormaliger Schönheit, war sie ungemein ruhig und sanft, litt viel unter der Härte ihres Gatten und suchte die Ihrigen dagegen möglichst zu schützen. Ihre Liebe zu meiner armen Mutter trug sie auf mich über: kam ich in der Nacht von Leipzig an, so mußte sie geweckt werden, um sich, neben mir sitzend, noch ein Stündchen über das Befinden meiner Mutter erzählen zu lassen und am folgenden Morgen mußte ich beim Frühstücke noch umständlicher über unser Leben berichten, worauf sie mich mit dem Stande der Brehnaschen Angelegenheiten bekannt machte, indem sie mir gewöhnlich Spannungen zwischen einzelnen Zweigen der Familie zu melden hatte, die ich bei den nun abzustattenden Besuchen berücksichtigen mußte. Dann offenbarte sie mir auch, wo ich, wenn es Herbst war, die für mich aufbewahrten Aprikosen und Pfirsichen finden würde, an welchem Stocke schon die Trauben reiften, in welchem Schubkasten des Wirthschaftsschrankes der Kuchen läge und wo das Töpfchen[21] zum Abschöpfen der Sahne in der Milchkammer stünde; dies waren aber geheime Mittheilungen, und wenn ich Gebrauch davon machte, mußte ich vor Onkel und Tanten wohl auf der Hut sein, da sie, wenn sie mich dabei erwischten, bei allem sonstigen Wohlwollen sich über das Muttersöhnchen weidlich lustig machten. Wahrscheinlich gewann ich das Herz meiner Großmutter dadurch, daß ich bei einem gewissen sanften, vielleicht sittigen Wesen, welches dem Großvater mißfiel, doch auch ein ganz munterer Junge war, wie sie denn unter Anderem von mir rühmte, daß ich besser als ihre anderen Enkel zu Pferde säße.

War der Onkel auch in Brehna, so ertheilte er mir Unterricht und ließ mich unter seiner Aufsicht arbeiten, wobei immer noch Zeit übrig blieb, mich in Haus und Hof, in Ställen und Scheunen herumzutreiben; bald war ich in der Wirthschaft, z.B. beim Ein- und Austreiben der Heerden, oder im Garten behülflich, bald ritt ich mit dem Knechte aufs Feld; jetzt wurden Sprenkel gestellt oder Vögel geschossen, wobei ich meist so ungeschickt war, welche zu entdecken und somit schon meinen Mangel an Scharfblick verrieth; ein anderes Mal ging ich mit zum Lerchenstreichen, – kurz, ich tummelte mich tüchtig herum. Auch beschäftigte ich mich gern mit der Beobachtung von Thieren, richtete z.B. Ziegen ab, daß sie mich grüßten, sprach laut zu Schafen und Kühen, um zu sehen, wie ich ihre Aufmerksamkeit fesseln könnte u.s.w.

Einen andern ländlichen Aufenthalt fand ich in Gaschwitz, einem etwa drei Stunden von Leipzig gelegenen Landgute eines Baron von Leyser, Chefs einer bedeutenden Wollhandlung. Meine ehemalige Amme nämlich, welche daselbst mit sehr viel Verstand und Eifer die Wirthschaft führte, bewies mir noch eine große Anhänglichkeit und bat sich öfters, namentlich zu den Feiertagen, meinen Besuch von meiner Mutter aus. Hier athmete Alles Reichthum und Geschmack, Ordnung und Sauberkeit, Fleiß und Wohlbehagen; überall begegnete man verständigen Einrichtungen für den Erwerb, sowie für feinsinnigen Lebensgenuß. Der den Ueberfluß bezeugende Glanz stach gegen den schlichten Wohlstand im großelterlichen Hause bedeutend ab[22] und gefiel mir nicht wenig. Wenn ich mit dem Baron in seinem Phaeton nach Gaschwitz fuhr; wenn am Feiertagsmorgen die Böller dem Herrenhause gegenüber abgefeuert wurden; wenn wir dann nach Deuben zu der saubern Kirche fuhren, wo über dem Altare das von einem dabei liegenden Wasser zurückgeworfene Sonnenlicht die sich kräuselnden Wellen abbildete und wo der auch als homiletischer Schriftsteller bekannte Pfarrer Oehler, auf dessen Meßgewande eine brennende Kerze als Symbol der Aufklärung gestickt war, mit großer Beredtsamkeit predigte; wenn nach der Kirche die Bauern Audienz beim Barone erhielten und im Vorübergehen bisweilen wohl gar mich um Fürsprache baten; wenn dann nach der Tafel wieder eine Fahrt durch die Felder gemacht wurde, – so hatte dies Alles viel Reiz für mich, wiewohl mir die Freiheit, die ich in Brehna genoß, hier fehlte. Hier in der glanzvollen Nähe eines gnädigen Herrn war das höchste Gesetz Artigkeit und ich bekam gar ernste Gesichter zu sehen, wenn einmal meine Knabenlaune ausschlug, wie ich z.B. ertappt wurde, als ich einem Gänsejungen seine blaue und rothe Livrée abgeschwatzt hatte und einen damit, so gut es ging, bekleideten Ziegenbock auf Steinhaufen herumklettern ließ. Ich strich viel allein herum, meinen Phantasien oder Faseleien mich überlassend, denn an Arbeiten wurde hier nicht gedacht; unter Anderem fuhr ich oft auf einem Teiche und maß zum Behufe einer eingebildeten Seekarte überall die Tiefe des Wassers, wobei ich zu meinem Leidwesen nirgends Klippen oder Untiefen fand. Auch versuchte ich Reime; als ich eines Tages zu Weihnachten bei gelinder Kälte durch den Park strich, kam ich auf den Einfall, den Winter zu besingen und setzte mich hierzu mit meiner Schreibtafel auf einen gefrornen Bach, bemerkte aber, nachdem ich auf die gehoffte Begeisterung eine Zeitlang gewartet hatte, daß das Eis unter mir thaute und fand mich nun so lächerlich, daß ich ein Spottgedicht auf mich verfertigte, dessen Anfang mir noch erinnerlich ist:
[23]

Es war einmal ein Dichterlein,

Das wollt' den Winter singen;

Es lief wohl auf und ab im Hain,

Doch wollt's ihm nicht gelingen.


Ich habe eine glückliche Kindheit verlebt und es hat nichts gefehlt, was zu freier Entwickelung meiner Anlagen erforderlich gewesen wäre. Die erste Erziehung meiner einsichtsvollen Mutter und meinem trefflichen Onkel verdankend, genoß ich den ersten Unterricht bei trefflichen Lehrern, und ungeachtet der beschränkten häuslichen Verhältnisse trat schon das Leben nach seinen mannichfaltigen Gestalten in meinen Gesichtskreis; auch blühte mir überall Freude. Das Glück hat mich verwöhnt: indem ich von so vielen Seiten her Liebe gewann, wurde zum Bedürfnisse derselben für spätere Zeiten der Grund gelegt. Die Frauen hatten bedeutenden Einfluß auf mich; aber es lag wohl auch ursprünglich in meinem Wesen, mich ihnen anzuschließen; wie meine Mutter erzählte, machte ich als Kind meine ersten Ritte auf dem Steckenpferde nie, ohne meiner durch eine Puppe repräsentirten Dame zum Abschiede und bei der Rückkehr die Hand geküßt zu haben.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 14-24.
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