1. Geisteskräfte.

[529] Nachdem ich nun erzählt, was ich erfahren und gethan habe, bleibt mir nur wenig, aber doch Einiges über mich selbst zu sagen übrig. Wie ich in dem Berichte von meinen Leistungen über diese gegenwärtig ein richtigeres Urtheil fällen zu können glaubte, weil mir meine Arbeiten, da ich sie selten wieder nachgesehen hatte, einigermaßen fremd geworden sind, so traue ich auch dem Urtheile über mich selbst jetzt um so mehr Unbefangenheit zu, da ich am Ziele meiner Laufbahn stehe und mch als einen bereits Abgeschiedenen anschaue. Wie dort, so werde ich auch hier mich ganz offenherzig aussprechen: ich habe nicht allein den Muth, meine Mängel zu bekennen, sondern auch den größern, mich meiner guten Eigenschaften zu rühmen; und sollte ich mich dabei hin und wieder täuschen, so will ich auch diese Schwäche nicht verhehlen, da sie ebenfalls zu meiner Charakteristik gehört.

Wenn man es ungewöhnlich fand, daß ich von Hämorrhoiden, Hypochondrie und anderen Gelehrtenkrankheiten völlig frei war, oder daß ich auch an manchen nicht-wissenschastlichen Angelegenheiten lebhaften Antheil nahm, so sagte ich bisweilen[529] wie im Scherze, man müsse dies daraus erklären, daß ich kein rechter Gelehrter sei. Aber auch ganz ernsthaft gesprochen, muß ich bekennen, daß dieses Prädikat mir nicht zukommt, denn wegen zu vieler Kenntnisse werde ich beim Charon keine Ueberfracht zu bezahlen haben. Ein eigentlicher Gelehrter muß ein Polyphag im Lernen sein und alles ohne Unterschied sich einprägen, da auch das an sich Gleichgültige unter gewissen Verhältnissen und Beziehungen wichtig werden kann. Mir aber ging eine solche allgemeine Wißbegierde gänzlich ab: mich interessirten nur solche Dinge, bei welchen ich einen Zusammenhang und eine Beziehung zu allgemeinen Ansichten erkannte; und mir fehlte das Talent, das Bedeutungslose oder vielmehr dessen Bedeutung mir noch nicht einleuchtete, im Gedächtnisse für unvorhergesehene Fälle aufzuspeichern; manche Dinge, bei denen ich mir weiter nichts denken konnte, habe ich immer wieder von Neuem lernen müssen. Ich tröstete mich wegen der Schwäche meines Gedächtnisses damit, daß ich die kleinen Widerwärtigkeiten im Leben eben so leicht vergaß; was aber das Wissenswerthe betraf, so mußten fleißige Notaten aushelfen.

Wie mir nun dabei die Dienstfertigkeit des Erinnerungsvermögens fehlte, vermöge deren man über alles im Gedächtnisse Verwahrte jederzeit gebietet, Alles, was man weiß, immer bei der Hand hat und bei jeder Gelegenheit augenblicklich davon Gebrauch machen kann, so ist mir überhaupt eine größere Beweglichkeit des Geistes nicht eigen gewesen. Zum Theil hinderte die Anschauung des Wesens einer Sache das lebhafte Zuströmen von Vorstellungen über dieselbe; denn die Klarheit ist einfach, und je undeutlicher die Vorstellungen sind, desto größer ist die Mannichfaltigkeit ihrer Formen, welche hin und wieder mit Reichthum an Gedanken verwechselt wird. Aber auch die organischen Verhältnisse hatten ihren Antheil, wie ich denn bei Erhöhung der lebendigen Spannung des Gehirns durch vermehrten Blutandrang in einer gewissen Periode des Schnupfens einen lebhafteren Gesellschafter abgab. Ein gewisses Vorwalten der Receptivität raubte mir ferner das Vermögen, der fremden Meinung triftige, besonders aber scheinbare Gründe rasch entgegenzustellen,[530] welches doch durch Reibung die gesellschaftliche Unterhaltung elektrisirt. Sodann kommt mein Widerwille gegen den Zwang und gegen das Streben nach dem Scheine hinzu: wo die Unterhaltung ein Wettrennen ist, in welchem der Sporn der Eitelkeit, als geistreich, witzig oder kenntnißreich zu glänzen, sich bemerklich macht, gab ich nur den passiven Zuschauer ab; so war ich auch ein sehr unglücklicher Sprecher, wenn es einer leeren Formalität oder einem Gegenstande galt, für den ich nicht lebhaft empfand. – Zur geringen Agilität meines Geistes gehörte es ferner, daß ich nicht Mehreres zu gleicher Zeit treiben konnte: alles Interesse ward immer vornehmlich von einem Gegenstande absorbirt, so daß für andere wenig oder nichts davon übrig blieb und ich bei lebhafter Beschäftigung mit einer Arbeit von Vielem, was an und für sich auch ganz interessant war, für den Augenblick nur eine flüchtige Notiz nahm; allerdings habe ich durch Concentrirung meiner Kräfte verhältnißmäig mehr ausrichten können, als mir sonst möglich gewesen wäre.

In Vergleich zur praktischen Urtheilskraft, welche, von allgemeinen Gesichtspuncten ausgehend, die Einzelheiten durchschaut und nach ihren Verhältnissen würdigt, war die theoretische Richtung, welche von Besondern zum Allgemeinen aufsteigt, bei mir überwiegend. Neigung und Talent wiesen mich vorzüglich auf solche combinatorische Arbeiten hin; die Thatsachen zu erwägen, das Gemeinsame derselben zu erkennen und allgemeine Thatsachen daraus zu gewinnen, betrachtete ich als meinen eigentlichen Beruf. – Isolirte Theorieen über einzelne Gegenstände erschienen mir als ungenügende Parzellen der Wissenschaft; vielmehr fühlte ich das Bedürfniß oberster Principien, auf welche die Erklärung aller Einzelheiten sich stützt, und umfassender Ansichten, welche den Zusammenhang des Ganzen betreffen. So machte ich schon in der »Encyklopädie der Heilwissenschaft« einen freilich sehr unvollkommnen Versuch, die Weltkräfte in ihrer Allgemeinheit und die Erscheinungen des Lebens in ihrer Einheit mit denen der unorganischen Natur darzustellen; meine spätern Arbeiten bezeugen die gleiche Tendenz.

Das Vorwaltende in meiner geistigen Thätigkeit war das[531] Streben nach Gestaltung, als dem Ausdrucke wissenschaftlichen Geistes: meine Arbeiten sollten sich charakterisiren durch streng logische Form, scharf aufgefaßte Begriffe, klare Ansichten, zusammenhängende Gedanken, durchgreifende Ordnung und systematische Gliederung. Solches Gestalten hatte hohen Reiz für mich, und es war vornehmlich die Aufstellung von dergleichen Bauen, was mich noch aufrecht erhielt, als mir die Welt verödet erschien; wenigstens glaube ich nicht, daß das Amtsgeschäft, das immer in gleicher Weise wiederkehrt und sich nie als völlig abgeschlossen zeigt, eben so gewirkt haben würde.

Vermöge meiner geistigen Constitution ging ich nur darauf aus, eine schlichte Anschauung der Natur dadurch zu gewinnen, daß ich ihre Erscheinungen nach dem Gebote der Vernunft im Zusammenhange betrachtete; und man kann mich der Flachheit zeihen, indem ich von spitzfindigen Erörterungen einzelner Gegenstände, so wie von tiefsinnigen Forschungen fern blieb. Ich habe mich mit Kant, Fichte, Schelling, Hegel bekannt gemacht, aber Keinem, und Letzterem am Wenigsten, in die Tiefe der Speculation ganz folgen können; ich eignete mir von ihnen nur das an, was ich verstand und wovon sie mich überzeugten, so daß ich denn auch kein Nachbeter von ihnen geworden bin; zum Beispiel die Kategorieen von Quantität und Qualität, Relation und Modalität habe ich nicht etwa angewendet, weil ich Kanten folgte, sondern ich bin im Laufe meiner Studien und auf empirischem Wege dazu gekommen. Als ich nämlich die Sinne unter einander verglich, um sie als ein Ganzes und dessen Gliederung zu erkennen, überzeugte ich mich, daß sie nicht nach einem einfachen Maßstabe beurtheilt werden dürften, sondern aus verschiedenen Gesichtspuncten zu betrachten wären, und fand nun, daß es solcher Gesichtspuncte nur vier gäbe, diese aber den Kantschen Kategorieen entsprächen (vom Baue und Leben des Gehirns, Bd. III., S. 215-222). Dasselbe bestätigte sich mir in Betreff der Verhältnisse der Befruchtung (Physiologie, Bd. I., S. 286 296) und der Lebensalter (ebendas., Bd. III., S. 644 650). Ueber den Grund der Kategorieen wollte ich eine ausführliche Untersuchung bekannt[532] machen; indeß habe ich nur eine Andeutung davon gegeben (Blicke in's Leben, Bd. II., S. 174 flgg.).

Sich mit speciellen Untersuchungen beschäftigen, ist eben so angenehm und lohnend: man wählt sich den Gegenstand, der gerade interessirt oder über welchen der Zufall besondere Aufschlüsse gewährt hat, und läßt liegen, was gleichgültig oder unbequem ist; man bewegt sich mit völliger Freiheit, und bei nöthiger Aufmerksamkeit und Ausdauer bleibt es nicht leicht ohne Ausbeute: ut enim naturam novi, vix unquam eum dimittit, a quo consulitur, quin aliquod laboris praemium reddat (Haller opp. min. Tom. II p. 185); das dabei erworbene Verdienst wird endlich von den Zeitgenossen allgemein anerkannt und bleibt als Thatsache auch bei den kommenden Generationen in Ehren. Wer dagegen sich mit Zusammenstellung des Beobachteten beschäftigt, um Resultate daraus zu ziehen, ist mehr gebunden, und seine Arbeit wird, wenn auch gar wohl benutzt, doch verhältnißmäßig gering geschätzt, zumal bei einer erwerbsüchtigen und materialistischen Richtung des Zeitalters. Den Einzelheiten nachjagend, legt man oft nur auf diese einen Werth, indem man meint, denken könne Jeder, und dies sei im Grunde nur eine Art des Müßiggehens, ungefähr wie der Tagelöhner sich nicht davon überzeugt, daß man ruhig am Tische sitzend arbeiten kann. Man will immer mehr Stoff für die Wissenschaft gewinnen und kommt darüber am Ende gar nicht zum Denken, da man es stets verschiebt. Indem man dies nicht achtet, macht man auch keinen Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Combination und einer geistlosen Compilation. Wie eine Opernsängerin es unter ihrer Würde hält, im Schauspiele aufzutreten, weil das Sprechen keine Kunst ist, so fürchtet der wissenschaftliche Detaillist, durch eine systematische Arbeit seinem Rufe zu schaden; wie denn ein geachteter Naturforscher vor Kurzem den Ausspruch that: ein tüchtiger Mann schreibt jetzt kein Buch, sondern nur Abhandlungen. Man bedenkt nicht, daß die Disciplinen auf solche Weise in Gefahr kommen würden, unter der Last des Stoffes zu erliegen; daß eine noch so große Menge vereinzelter Kenntnisse immer noch[533] keine wirkliche Wissenschaft giebt; daß es nöthig ist, von Zeit zu Zeit in der empirischen Forschung anzuhalten und im Ueberblicke des gegenwärtigen Zustandes der Wissenschaft zu erkennen, was nun noch zu thun ist. – In dem Urtheile über meine Leistungen hat sich jene Einseitigkeit der Detaillisten öfters gezeigt. Ich bin im Gebiete specieller Forschung keineswegs ganz unthätig gewesen. Ich habe die Resultate meiner Untersuchungen über die Formen der Verzweigung der Haargefäße und über den Mechanismus der Herzklappen bekannt gemacht und in Betreff der Centraltheile des Nervensystems Manches entdeckt, z.B. die Textur des Rückenmarkzapfens und seines Endfadens, die Verhältnisse der doppelten Fasern der Pyramiden und des Hülsenstranges, den Zusammenhang der Oliven, die Art, wie die einzelnen Schichten des kleinen Hirns in die verschiedenen Theile des großen Hirns sich fortsetzen, die Vormauer, die Linsenkerne, die Zwingen u.s.w. Auch habe ich über manche meiner physiologischen Experimente berichtet, namentlich über die Bildung der Stimme, über den Herzschlag, über die Bewegung des Gehirns, über den Einfluß des sympathischen Nerven auf die Eingeweide, über die Function des fünften und siebenten Hirnnerven; auch habe ich nicht unterlassen, mich über andere Lebenserscheinungen durch eigene Beobachtung zu unterrichten. Daß ich auf dem Gebiete der empirischen Forschung nicht mehr geleistet habe, hat seinen Grund zum Theil allerdings in der vorwaltenden Neigung zur Theorie; zum Theil aber auch darin, daß meine Lage erst spät mir gestattete, mich eigenen Beobachtungen hinzugeben (S. 161, 229): als ich einmal an einem alphabetischen Register, um bald fertig zu werden, mit großer Emsigkeit gearbeitet hatte, konnte ich mir anfangs zwei Dinge nicht zusammen denken, ohne zugleich der Reihenfolge ihrer Namen im Alphabete mich zu erinnern, – und so mag die Gewöhnung auch in Betreff systematischer Arbeiten ihre Macht über mich bewiesen haben. Nach der Regel: a potiori fit denominatio mußte ich es mir gefallen lassen, daß man mich als Systematiker bezeichnete, wiewohl ich mich nicht überzeugen konnte, daß man darum meine speciellen Untersuchungen,[534] z.B. über die Halsrippen, über die zweileibigen Mißgeburten u.s.w., ganz übersehen mußte. Wie man aber, um Menschenkenntniß zu erlangen, nicht gerade weit zu reisen braucht, so schien mir eine mäßige Reihe eigener Beobachtungen über die wichtigsten Lebenserscheinungen hinreichend, um unter fleißiger Benutzung fremder Erfahrungen die Physiologie gründlich bearbeiten zu können.

In der zeitgemäßen Bearbeitung der Physiologie fand ich zunächst zwei große Nebenbuhler, die durch Umfang und Gehalt ihrer speciellen Forschungen ohne allen Vergleich größere Verdienste sich erworben hatten, als ich, in wissenschaftlicher Hinsicht aber nach entgegengesetzten Richtungen hin von mir abwichen: den geistreichen Carus, der mit poetischem Sinne die Idee des Lebens auffaßte, der oft unklar und phantastisch erschien; und den unermüdlichen Johannes Müller, der bei empirischem Reichthume und philosophischem Raffinement in vereinzelten materialistischen Theorieen sich verlor. Ich aber stand zwischen ihnen, indem ich im Geiste wirklicher Erfahrungswissenschaft mich treu an die Erscheinungen hielt, sie jedoch im Zusammenhange betrachtete und dadurch allein die Anschauung derselben nach ihrem Wesen erstrebte. Daß mich frühzeitig die Naturphilosophen als bloßen Empiriker verrufen (S. 162 flg.) und die Empiriker als philosophischen Träumer verdächtigt hatten, habe ich bereits angeführt. Ich ging unbekümmert auf meiner Bahn fort. In der alten Schule erzogen, hindurchgegangen durch die Stadien der Nervenpathologie, des Brownianismus, der Naturphilosophie und der Chemiatrie schien ich mir zu einem unbefangenen Urtheile über die Ereignisse der neuesten Zeit herangereift zu sein. Ich folgte nicht dem Beispiele der Greise, welche das Treiben der neuen Generation, weil es ihnen fremd ist, verdammen, und, wenn sie zu vorsichtig sind, um in offene Opposition zu treten, mit der Gegenwart grollen; vielmehr achtete ich die Bereicherung unserer Kenntnisse, die wir der nach Besiegung der naturphilosophischen Revolution erfolgten Restauration des Empirismus verdanken, konnte mich aber nicht für alle geringfügige Einzelheiten, auf[535] welche die jüngern Forscher großes Gewicht legen, interessiren, da ich über das Ganze meine Ansicht ausgebildet hatte.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 529-536.
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