2. Gemüthseigenschaften.

[536] Dem berechnenden Verstande, der in unserem Zeitalter vorwaltet, hat sich die moderne Philosophie beigesellt, um das Gefühl zurückzudrängen, indem sie es als etwas schlechthin Niederes, Naturwüchsiges darstellt, was durch die Eigenmacht des Geistes überwunden werden müsse und dessen Macht nur beim Greise als Folge der Alterschwäche zu entschuldigen sei. Mich hat solche Schwachheit durch das ganze Leben begleitet; nicht die Gefühlseite überhaupt, sondern nur die sinnliche Lust ist mir gleich der sinnlichen Erkenntniß als das Niedere erschienen, und die höheren Gefühle habe ich der Vernunfterkenntniß an die Seite gestellt; auch habe ich nie und in keiner Lage meines Lebens einen Anlaß gefunden, das altkluge Geschlecht mit seinem ausgebrannten Herzen, seinen Weisheitsdünkel und seiner Selbstüberschätzung zu beneiden. Ich gehörte also nicht zu den Göthianern, welche bei einer geistreichen Anschauung der Wirklichkeit einen bequemen Genuß des Lebens durch Weltklugheit zu gewinnen und gegen eine von höheren Bestrebungen zu besorgende Störung zu sichern suchen; sondern schloß mich den Verehrern Schillers an, welche nicht das Leben an sich, sondern die Verwirklichung des Ideals als das Höchste erkennen. Da die Anbeter Göthe's den, der nicht mit ihnen übereinstimmt, wegwerfend zu behandeln und dadurch die anders Gesinnten einzuschüchtern pflegen, so bewunderte ich den Muth, mit welchem ein junger Dichter, Theodor Scherer, in seinem Stauf, dem Antipoden des Faust, ein Bild der auf dem Gebiete der Erkenntniß vergeblich gesuchten und nur in der Sphäre des Gemüths gefundenen Befriedigung eines reinen Sinnes aufzustellen gewagt hatte. Die Schmach, die ihm in den deutschen Jahrbüchern und ähnlichen Blättern widerfuhr, war mit Sicherheit vorauszusehen gewesen, und daß er sich derselben ausgesetzt hatte, bewies die Stärke seiner Ueberzeugung[536] und die Festigkeit seines Charakters. Ich benutzte die Reise eines meiner Freunde nach Norwegen, ihm, der damals als Hüttenmeister bei einem Kobaltwerke in Fossum lebte, meine Achtung zu bezeigen, und seine Antwort war von der Art, daß es mich freute, mich ihm genähert zu haben.

Eine starke Persönlichkeit, die in jeder Lage des Lebens sich selbst genügt, die auch ohne Familie, ohne Vaterland, ohne Glauben an Gott in hohem Selbstgefühle der Individualität glücklich sein kann, war mir durchaus nicht eigen. – Ein Hauptzug in meinem Charakter war das Bedürfniß der Liebe, nicht jener Alltagsliebe, die auf ein persönliches Wohlgefallen und Gernhaben sich beschränkt, sondern die unbedingte, volle Liebe, die sich mit ihrem Gegenstande völlig eins fühlt. Das Leben, dachte ich mir, geht zunächst auf Selbstbehauptung aus, und das Individuum ist von der Natur darauf hingewiesen, zuvörderst für sich zu sorgen. Indeß ist der Mensch von Anderen abhängig, und damit seine Sorge für sich selbst nicht vereitelt werde, bedarf er auch fremden Wohlwollens, mindestens der Sicherheit vor fremder Störung seines Wohlseins; auf diese Weise gewinnen denn andere Individuen als Mittel seines eigenen Wohlbefindens Werth für ihn, und schon aus gemeiner Klugheit bezeigt er sich freundlich gegen sie. Dann erkennt er die Andern ja auch als Wesen seiner Art, und indem er in ihnen ein ungefähres Bild von sich selbst sieht, verbreitet sich seine Selbstliebe einigermaßen auch über sie: er stellt sich unwillkürlich vor, wie es ihm sein würde, wenn er in der Lage wäre, in welcher er Andere erblickt, und je nachdem diese Vorstellung mehr oder weniger lebhaft ist, drängt sich ihm ein stärkeres oder schwächeres Mitgefühl auf. So wird er denn wohlwollend, jedoch mit Maßen, je nachdem der Andere ihm näher oder entfernter steht; er unterstützt gern, jedoch nur, in soweit er selbst dadurch nichts einbüßt; er weint wohl mit den Leidenden, jedoch ohne übrigens in seinen Freuden sich stören zu lassen, und freut sich sogar über das fremde Glück, jedoch mit philosophischer Fassung und ohne den eigenen Vortheil aus den Augen zu setzen. Solcher Art ist die von einer[537] gerechten Selbstliebe ausgehende, ganz ehrenhafte Gesinnung der gewöhnlichen Humanität, Freundschaft und Liebe, und wir können es nur mit Dank aufnehmen, wenn Die, mit denen wir verkehren, uns solche Gesinnungen zuwenden. Wie sehr ich aber auch ein Verhältniß der Art schätzte, so genügte es mir doch nicht: meinem weichen Herzen war diese natürliche Temperatur der Gewogenheit zu kühl; es verlangte nach einem innigeren Bunde, in welchem zwei Seelen sich als eins fühlen. Meine Ansichten des Lebens stimmten damit überein. Nach ihnen ist die Individualität das Erscheinen des Geistes in den Schranken der Endlichkeit. Der individuelle Geist findet im Durchbrechen dieser Schranken, in der Rückkehr zum Unendlichen, aus welchem er stammt, seine Seligkeit, und dies geschieht auf ideelle Weise in der Wissenschaft, wo das Denken das dem Sinnlichen zum Grunde liegende Uebersinnliche im Zusammenhange erfaßt; auf intuitive Weise in der Religion, wo das Gemüth seinen Urquell im Unendlichen anschaut und seine Einheit mit demselben herstellt; auf reale Weise endlich in der Liebe, wo zwei Seelen vermöge ihres Ursprunges aus dem All-Einen sich als einig erweisen. – Indem das Bedürfniß der Liebe zu meinem ganzen Wesen gehörte, schwebte mir schon in meiner Jugend das Ideal der Ehe vor, wo es keine getrennten Interessen giebt, sondern, wie in einem organischen Ganzen, nur die Stellungen vertheilt sind, mithin nur ein gemeinsames Glück und ein gemeinsames Wehe möglich ist. Dahin wollte ich mich retten vor dem Froste der Selbstsucht, wie vor der Kühle der Freundschaft. Ich erinnere mich sehr wohl, als Student in mein Tagebuch geschrieben zu haben, daß ich eher auf das Leben selbst, als auf Familienglück verzichten wollte. Wohl mir, daß ich es fand! Begleitet es mich nicht bis zum Grabe, so muß der Schmerz seines Entbehrens durch die dankbare Erinnerung, daß ich es vierzig Jahre lang genossen habe, gemildert werden.

Die Liebe, die in der Anschauung des Ewigen wurzelt, führt zum Gedanken der Unsterblichkeit, der sie bei den Schmerzen der Trennung aufrecht erhält. Da mir das Gefühl als[538] gleich wesentlich mit der Erkenntniß und als ergänzendes Glied derselben galt, so achtete ich auf seine Stimme auch in Betreff einer persönlichen Fortdauer nach dem Tode (S. 146), und da der Verstand nach der Analogie die Möglichkeit derselben erwies, so befestigte sich meine Ueberzeugung davon immer mehr. Den starken Geistern, welche den Glauben an ein Jenseits als ein egoistisches Raffinement und als ein Verzichten auf das Diesseits verspotten, muß ich übrigens versichern, daß meine Ueberzeugung mich eben so wenig Gutes aus Speculation auf den Himmel zu üben bestimmt, als für das Leben unthätig gemacht, wohl aber gestützt hat, wo jede andere Stütze fehlte.

Meine Religiosität beruhte auf der Uebereinstimmung meines Denkens und meines Gefühls. Schon beim Uebergange aus dem Alter des Knaben in das des Jünglings kritisirte ich die kirchlichen Dogmen, und überwand auf diese Weise frühzeitig den Skepticismus, indem ich das fest hielt, was eben so wohl den Forderungen der Vernunft als denen des Herzens entsprach. Bald trat das Studium der Natur hinzu, meine Glaubensansichten zu befestigen; in den Naturerscheinungen trat mir ein geistiges Walten entgegen; das Weltganze zeigte sich mir als das Offenbarwerden des unendlichen Geistes, und Gott wurde mir das höchste Princip der Wissenschaft, so daß bei den mich beseelenden religiösen Gesinnungen ein Einklang von Leben und Wissen mich beglückte.

Nur die auf Eigennutz gegründete Alltagsliebe und die in vernunftwidrigen Glaubensartikeln ihr Heil suchende Frömmigkeit kann ohne allgemeine Menschenliebe bestehen. Wahre, ihrer eigenthümlichen Bedeutung entsprechende Liebe hat immer Humanität an ihrer Seite, da sie nur concentrirte und dadurch gesteigerte Humanität ist; diese aber ist nichts Anderes als Bethätigung religiöser Gesinnung, deshalb auch dieser unzertrennlich beigesellt. Dem, was ich in jener Hinsicht über mich ausgesagt habe, darf ich daher ohne Bedenken hinzufügen, daß Humanität einen Hauptzug meines Charakters ausmachte. Wo ich in irgend einer Beziehung ein Uebergewicht über Andere zu haben glaubte, ließ ich es sie nie fühlen, sondern schonte ihre[539] Schwächen; ich theilte gern mit, war offenherzig und freigebig, und freute mich, wenn ich meinen Einfluß zu Gunsten eines Andern geltend machen konnte, ohne zu berechnen, ob ich nicht dadurch diesen Einfluß so abnutzte, daß er für Fälle, wo ich seiner zu meinem eigenen Vortheile bedürfte, mir fehlen könnte. Ich folgte hierin der Stimme meines Gefühls; recht zu thun ist mir daher eigentlich nicht schwer geworden: hatte ich z.B. Gelegenheit, auf das Schicksal eines Mannes einzuwirken, der mir wehe gethan hatte, so fiel es mir gar nicht ein, daß ich mich rächen könnte, und so übte ich eine Großmuth, die kein eigentliches Verdienst war, da sie keinen Kampf kostete; oft habe ich gewünscht, daß das Geld mir mehr am Herzen liegen möchte, damit die Ausgaben, die ich zur Freude Anderer machte, mehr Verdienstliches hätten. Eben weil ich dabei dem natürlichen Zuge folgte, ging ich darin oftmals zu weit, und sah meine Bemühung für fremdes Wohl vereitelt oder mit Undank belohnt, ohne daß dergleichen bittere Erfahrungen meine Bereitwilligkeit zu helfen geschwächt hätten. Indessen kann ich mich einer zu großen Leichtgläubigkeit und Weichherzigkeit nicht zeihen: nur so lange keine Thatsachen vorlagen, welche die Menschen meiner Theilnahme unwürdig machten, traute ich ihnen das Beste zu; wie ich in meinen gerichtlichen Gutachten die falsche Humanität bekämpfte, welche Alles entschuldigt und den Schuldigen auf Kosten der Wahrheit in Schutz nimmt, so bestimmte mich das Gefühl der Gerechtigkeit, auch in andern Lebensverhältnissen streng zu sein, wo ich mich überzeugt hatte, daß die Ungunst des Schicksals verdient war.

Wer dem natürlichen Gefühle allgemeinen Wohlwollens zu folgen gewohnt ist, übt sich zu wenig in der Selbstbeherrschung, als daß er Aufwallungen des verletzten Gefühls so leicht zu unterdrücken vermöchte, und kann im Widerspruche mit seinem sonstigen milden und sanften Betragen hart und heftig werden. Das war mit mir der Fall, und so wurde denn auch meine glückliche Ehe, namentlich in den ersten Jahren, zuweilen, wenn auch nur selten und nur auf Stunden, durch Mißverständnisse getrübt. Meine Frau war verheirathet gewesen;[540] ihr Herz hatte bereits vor mir einem Manne geschlagen, auch war sie einige Jahre älter und überhaupt weniger leidenschaftlich als ich; demungeachtet verlangte ich ein dem meinigen gleiches Feuer von ihr, und verkannte auf Augenblicke ihre nicht minder innige, aber ruhigere Liebe. Sodann hatte sie bei dem Bewußtsein ihrer Bemühung, Alles aufs Beste einzurichten, die bei Frauen nicht seltene Schwäche, in keinem Falle an irgend etwas Schuld sein zu wollen, und im Eifer einer ganz unnöthigen Rechtfertigung unklar zu werden und sich in Widersprüche zu verwickeln; ich aber hatte die noch größere Schwäche, mit pedantischer Strenge Alles geregelt zu verlangen und mich über den Mangel an logischem Zusammenhange zu ereifern. Scham und Reue waren die Folgen solcher Unterbrechungen des liebevollsten Einverständnisses, und auch die Erinnerung daran übt noch ihre strafende Gewalt.

Meine Persönlichkeit stellt sich in der Erscheinung unbedeutend dar, und, wie mich dünkt, noch unbedeutender, als sie im Grunde ist. Ich habe öfters beobachtet, daß ich bei der ersten Bekanntschaft, besonders mit Personen, die im bürgerlichen Leben hochgestellt sind, keinen Eindruck machte und kein Interesse für mich erregte; ja selbst Männer, die mich achteten, pflegten meiner Rede ungleich weniger Aufmerksamkeit zu schenken, als der gehaltlosern Anderer. Seitdem ich dies als Thatsache anerkannte, verletzte es mich nicht mehr, doch machte es mich in größern Gesellschaften schweigsamer. Mit der Gabe zu imponiren fehlte mir auch das Glück zu gefallen. Um geliebt zu werden, muß man lieben; um also der Menge liebenswürdig zu erscheinen, muß man die Menge seiner Liebe werth halten; gefällt sie uns nicht, so gefallen wir ihr auch nicht. Ich haßte den Zwang, und fand es unter der Würde des Mannes, scheinen zu wollen; ich war kalt und zurückhaltend gegen die, welche ich nicht achtete, und bildete mir zu viel ein, um Andern das, was Gutes an mir ist, absichtlich vor Augen zu stellen, vielmehr überließ ich ihnen, es selbst zu finden, und glaubte Alles gethan zu haben, wenn ich es nicht verbarg; das war eben mein Stolz, daß ich nicht zu gefallen suchte, sondern mich[541] zeigte, wie ich war. Auf diese Weise büßte ich durch meinen Trotz manche Annehmlichkeit ein. Ob es übrigens einzig und allein daran lag, daß ich mich nicht geltend machen wollte, weil ich ohnedies gelten zu können glaubte, und daß ich liebenswürdig zu scheinen verschmähte, weil ich der Liebe werth zu sein meinte, muß ich selbst bezweifeln. Der Mangel an Willen läuft dem Mangel an Vermögen parallel, und kann letztern zwar zur Folge haben, aber auch davon herrühren. Also mochte auch eine Schwäche des Selbstgefühls, vermöge deren fremde Eindrücke die freie Bewegung des Geistes hemmen, und eine Unbeholfenheit des Benehmens, die ich nicht zu überwinden vermochte, wesentlichen Antheil haben, so daß ich einen Versuch nur darum aufgab, weil ich mich ihm nicht gewachsen fühlte. Mancher, den ich achtete, und dessen Freundschaft mir sehr werth gewesen wäre, blieb lau, und wurde nicht geneigt, sich mir näher anzuschließen, wie offen ich auch meine Gesinnungen ihm darlegte; ich mußte glauben, daß ich ihm nicht interessant genug war.

Im Fache der Lebensklugheit habe ich es auch nicht weit gebracht. Bei Kleinigkeiten konnte ich lange schwanken, ehe ich zu einem Entschlusse kam, der doch ganz gleichgültig war; und dagegen war ich in wichtigeren Dingen, namentlich wo das Gefühl auf das Urtheil einwirkte, oft zu schnell entschlossen und handelte unüberlegt, indem ich die Rücksichten nicht zu nehmen pflegte, welche der Behutsame für nöthig erachtet; ich habe manches gränzenlos Unbedachtsame zu bereuen, aber auch ungleich mehr Gutes ohne Bedenken vollbracht. Indem ich die Menschen mehr nach ihrem sittlichen Charakter schätzte, gegen Geistesschwache leutselig war, den gemeinen Egoisten verachtete und den, der aus Selbstsucht unrecht thut, von Herzen haßte, vermochte ich meine Gesinnungen zu wenig zu verbergen, und stieß häufig durch freimüthige Aeußerungen an. – Ich war nicht gewohnt, fremde Meinungen zu bekämpfen, sondern mochte zunächst gern ihnen beitreten, so weit es bei meiner Ueberzeugung möglich war, und dann hatte ich nicht die nöthige Gewandtheit, um die Gründe, die ich hätte entgegensetzen können, augenblicklich[542] zu übersehen und zu ordnen; war mir aber eine Behauptung in zu hohem Grade zuwider, so fiel mein Widerspruch nicht selten zu derb aus. Den gleichen Fehler beging ich in Betreff der Handlungsweise: anstatt von Anfang an den Willen Anderer auf glimpfliche Weise meinen Wünschen gemäß zu lenken, gab ich aus Weichheit nach, und ließ mir bis zu einem gewissen Puncte Manches gefallen, griff aber dann mit leidenschaftlicher Rücksichtslosigkeit und Härte ein; erst vergab ich meinem Rechte etwas, und sodann maßte ich mir ein Recht an, das mir nicht zustand.

Indem ich meine schwachen Seiten sehr wohl erkannte, war das Bewußtsein meiner Kräfte, so wie dessen, worauf sie sich stützten, nicht täuschend, und in dessen Umkreise fehlte es mir auch nicht an Selbstvertrauen. Mein körperlicher Muth hat freilich nur in jüngern Jahren Gelegenheit gehabt, sich durch die That zu bewähren; indessen ist mir doch auch für das Alter ein gewisser Grad von Furchtlosigkeit geblieben, der hin und wieder als Unbedachtsamkeit bezeichnet werden konnte. Auf geistigem Gebiete aber habe ich mich durch Gefahren nie von dem abschrecken lassen, was ich für gut und recht hielt. Es gehörte gewiß ein festes Vertrauen auf meine Kräfte und meine Thätigkeit dazu, um mich zu verheirathen, ehe meine bürgerliche Stellung gesichert war, so wie zu einer Zeit, wo ich noch keine hinreichende feste Besoldung bezog, mit meiner Familie ein halbes Jahr in Wien zu leben. Ich habe den Streit nicht gesucht, bin ihm aber auch nicht ausgewichen; außer Parrot habe ich auch mehrere Königsberger Collegen einige Zeit zu Gegnern gehabt, und mich durch ihre Autorität nicht abschrecken lassen, sie ernstlich zu bekämpfen. Ich habe mich nie gescheut, mein Urtheil, auch über den Angesehensten, unverhohlen zu äußern, gegen die vorgesetzten Behörden mein Recht zu vertheidigen, so wie an Remonstrationen gegen den Mißbrauch der Staatsgewalt Theil zu nehmen. Auch hat es meiner Charakterstärke nicht an Prüfungen gefehlt: ich habe nicht gezittert, als auf der Fahrt von Kronstadt die Wellen mich sammt den Meinigen zu begraben drohten; als mein Untergang[543] im bürgerlichen Leben gewiß schien, ließ ich mich von der Noth nicht niederbeugen, sondern that getrost und unverzagt das Mögliche, um in eine günstigere Lage zu kommen; und – was mehr als Alles ist, – ich habe mich durch den Schmerz über den Verlust meiner Tochter und meines Weibes, des Schmuckes und der Stütze meines Lebens, nicht zu Boden werfen lassen, und noch in der Vereinsamung und bei den Gebrechen des Alters den heitern Sinn nicht ganz verloren. Ja, ich sage es mit einigem Stolze, ich habe mich im Unglücke bewährt, und im Glücke mich nicht überhoben.

Gemeinsinn war überhaupt ein hervorstechender Zug in meinem Charakter. So fühlte und betrug ich mich im Gebiete der Literatur immer als ächten Republikaner. Alles Neue, was mir als eine wirkliche Bereicherung der Wissenschaft erschien, nahm ich mit wahrhafter, inniger Freude auf, als ob ich selbst die Eroberung gemacht hätte; und wenn ich dann über mich reflectirte, war ich wieder zufrieden mit mir, daß mir meine Individualität in der Wissenschaft aufging. Freilich galt dies nur von solchen Entdeckungen, die zu allgemeinen Ansichten führen konnten; ein neuer Fund, der bloß eine isolirte Thatsache betraf, wobei ich mir nichts denken konnte, ließ mich allerdings kalt, oder spannte bloß meine Neugierde auf die zu erwartende weitere Entwickelung; auch gestehe ich, daß eine mit Pomp angekündigte Entdeckung einen minder freudigen Eindruck auf mich machte. So betrachtete ich nun auch die wissenschaftliche Thätigkeit aus dem Gesichtspuncte eines literarischen Republikaners. Wie Jeder in der durch seine Individualität bezeichneten Weise mitwirken soll, so fühlte ich mich ungeachtet der Einsicht, daß ich nur eine untergeordnete Stellung dabei einnahm doch glücklich in dem Bewußtsein, nach dem Maaße und der Richtung meiner Kräfte, so wie nach der durch das Schicksal gegebenen Möglichkeit das Meinige zum organischen Aufbaue der Wissenschaft beizutragen. Bei dieser Sinnesweise war ich in meiner Bearbeitung der Physiologie weniger darauf bedacht, zu polemisiren, als vielmehr bei jeder meiner Ansichten diejenigen Schriftsteller anzuführen, welche dieselbe schon ausgesprochen[544] oder auch nur angedeutet und eine Meinung selbst von bloß entfernter Aehnlichkeit aufgestellt hatten. So bildete ich denn einen starken Contrast gegen diejenigen jungen Physiologen, die mich bloß anführten, wenn sie mich widerlegen zu können glaubten, aber mich nicht erwähnten, wo sie meine Ansichten vortrugen. Durch mein Verfahren habe ich das, was mir eigenthümlich ist, allerdings unkenntlicher gemacht.

Wie meine Persönlichkeit nicht dazu angethan war, sich in der Gesellschaft breit zu machen, so waren auch meine Ansprüche in der literarischen Welt nicht übertrieben. Ich verlangte allerdings Anerkennung meiner wissenschaftlichen Bestrebungen, war mir aber auch meiner Schwächen bewußt und hätte gewünscht, Größeres leisten zu können. Ich arbeitete, um mir selbst Genüge zu leisten, und that nichts, um Ruhm zu erlangen. Ein zu lautes, besonders ein übertriebenes Lob war mir zuwider, und wenn ich es recht überlegte, so fand ich dies Gefühl auch mit der Klugheit ganz übereinstimmend; denn unverdientes Lob reizt den Widerspruch, und giebt nur Anlaß, daß das Gerühmte niedriger gestellt wird, als es in der That verdient. Eine einfache, geräuschlose Aeußerung von Beifall war mir am liebsten, und besonders that es mir wohl, zu erfahren, daß meine Schriften zum Herzen gedrungen waren, und beruhigend, stärkend, erhebend auf eine Seele gewirkt hatten.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 536-545.
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