Die Neige des Lebens.[569] 1

Im Winter von 1844/45 begann ich Greis zu werden, wie ich denn auch seitdem in dem Greisenthume ganz ansehnliche[570] Fortschritte gemacht habe. Neben allgemeiner Entkräftung, insonderheit neben Abnahme der Muskelkraft so wie der Sinnesschärfe, haben sich die physischen Eigenthümlichkeiten der Alterschwäche eingestellt: Vergeßlichkeit, Zerstreutheit, Zaghaftigkeit, Unentschlossenheit u.s.w.

Als Physiolog hatte ich die Meinung, daß das hohe Alter wesentlich mit einer kindischen Geistesschwäche verbunden sei, bestritten und behauptet, daß es nur ein krankhafter Zustand wäre, wenn die Alten kindisch würden. Mein eigenes Beispiel bestätigt diese Behauptung, denn es entwickelte sich bei mir ein Leiden, wahrscheinlich eine Erweichung in dem oberen Theile des Rückenmarks, welches sich zuerst durch wiederkehrenden Schwindel und durch ein Stumpfwerden der Empfindung in den Ulnarnerven der linken Hand verkündigte und allmälig zur Lähmung des Arms und Beins der linken Seite stieg. Was die Ursache dieser Uebel betrifft, so war die Alterschwäche nicht als eine durch übermäßige Anstrengung bewirkte Erschöpfung zu betrachten: ich hatte namentlich im Jahre 1844 nicht angestrengt gearbeitet und beim Universitäts-Jubiläum nur eine angenehme Aufregung gehabt; es war also wohl die in der Nähe der siebziger Jahre natürliche Aufzehrung des mir ursprünglich zugetheilten, nicht sonderlich großen Maßes von Lebenskraft. Für die Lähmung und das dieselbe bedingende Nervenleiden könnte ich zwar als Grund anführen, daß ich zur Zeit der Huldigung einige Mal erhitzt und in Schweiß gebadet von einem kalten Luftstrome getroffen und dadurch Andrang und Stockung des Blutes im Rückenmarke bewirkt worden war; die Hauptursache möchte aber doch wohl in heftigen und anhaltenden[571] Gemüthsbewegungen zu suchen sein. Zunächst nämlich hatte unstreitig einen vorzüglichen Antheil daran das Mißgeschick, von welchem meine Söhne einerseits in ihren bürgerlichen, anderseits in ihren Familienverhältnissen betroffen wurden. Ich segnete den Tod, welcher meiner geliebten Frau den Schmerz, dies zu erleben, erspart hatte; aber mein eigenes Mitgefühl war nicht in dem Grade abgestumpft, daß diese Ereignisse mich nicht sehr schmerzlich hätten berühren sollen. Auch die betrübende und niederschlagende Wirkung, welche der temporäre Zustand der öffentlichen Angelegenheiten hervorbringen mußte, konnte nicht ohne Einfluß auf meine Gesundheit bleiben, zumal da der Verdruß über die zunehmende Entsittlichung, die immer mehr herrschende Heuchelei oder die politische und religiöse Gedankenlosigkeit mir nicht durch die Freuden glücklicher Häuslichkeit verscheucht wurde.

Mein Gesammtzustand erschien mir von Anfang an um so kläglicher, als er meiner Natur ganz zuwider war und mich unvorbereitet befallen hatte. Es war mir empfindlich, die bisher mit Eifersucht überwachte Selbstständigkeit2, wenn auch nur in ihrer Außenseite, aber hier auf entschiedene Weise eingebüßt zu haben, und beim An- und Auskleiden fremder Hülfe, so wie beim Gehen einer Stütze zu bedürfen. Hierbei ist noch in Betracht zu ziehen die Beschwerde, beim Lesen und Schreiben, so wie beim Hervorholen oder Aufbewahren von Papieren,[572] Acten und Büchern auf den Gebrauch der einen Hand beschränkt zu sein. Ueberhaupt gewinnen durch diese Einarmigkeit die kleinen mechanischen Verrichtungen, die man täglich vollzieht, ohne sich ihrer deutlich bewußt zu werden und während man sich in Gedanken mit andern Gegenständen beschäftigt, eine ihnen nicht zukommende Bedeutung: sie werden aus automatischen Functionen, die nebenbei ausgeführt werden, zu Geschäften, die eine gewisse Aufmerksamkeit erfordern; und hierbei eben komme ich mir recht kleinlich vor. Ich brauche nicht die Entbehrungen zu erwähnen, die mir in Betreff des gesellschaftlichen Lebens und des Naturgenusses durch die halbseitige Lähmung auferlegt sind. Allerdings ist zum Glück die rechte Hand der Herrschaft des Willens gehorsam geblieben, und indem sie das, was in meinem Geiste sich gestaltet hat, in bleibenden äußeren Formen darstellt, könnte ich wissenschaftlich selbstthätig und mich dadurch beglückt, folglich über das körperliche Leiden emporgehoben fühlen; allein die leidende Stelle des Rückenmarks ist dem Gehirne zu nahe, als daß nicht auch die Function dieses letzteren Organs gestört werden sollte. Ein ernstes Nachdenken fällt mir schwer und ermüdet mich sehr bald, ich fühle mich daher auch nicht dazu aufgelegt, und es bedarf eines ernsten Entschlusses, um die Neigung zur Ruhe zu überwinden. Selbst eine nicht streng wissenschaftliche Lectüre fällt mir schwer; ich habe oft Mühe, den Zusammenhang zu fassen und fest zu halten. So bin ich denn nun auch ausgeschlossen von der thätigen Theilnahme an dem, was die Aufgabe der Zeit ist. Von selbst versteht es sich, wie schmerzlich es mir fällt, daß ich meine physiologischen Grundansichten nicht in weiterer Ausführung vertheidigen und den einreißenden groben Materialismus bekämpfen kann. Da gilt es nun standhaft auszuhalten und diese nutzlos scheinende Verlängerung des Lebens mit heiterer Ruhe zu ertragen. Zum Glücke haben meine naturwissenschaftlichen Studien mich zu religiösen Ansichten geführt, welche mir Trost gewähren. Wie Alles in der Natur immer auf einen Zweck gerichtet und für eine Zukunft berechnet ist, so erkenne ich auch in den Beschwerden, welche mich treffen, ein Mittel, mich[573] zu einem künftigen geistigen Zustande vorzubereiten. Aber wie soll ich nun wohl diese Zeit der Vorbereitung benutzen? Etwa zu metaphysischen Untersuchungen? Das würden nur müßige Grübeleien werden. Die allgemeinen Wahrheiten der Vernunftreligion stehen unerschütterlich fest; das Uebersinnliche an sich hat den Charakter der Allgemeinheit, und ist aller Besonderheit fremd, die eben nur dem Sinnlichen zukommt, so wie unsere Vernunft eben auch nur das Allgemeine und nicht ein Besonderes zu erkennen vermag. Wie könnte ich nun wohl glauben, bei meiner Entkräftung tiefer einzudringen, als es bei voller Lebensfrische einer die meinige weit überragenden Geisteskraft jemals möglich gewesen ist? Nein, den Glauben bewahren, d.h. festhalten an den Wahrheiten, zu deren Anerkennung eine umfassende Naturbeobachtung in Verbindung mit den Gesetzen der Vernunft uns führt, und von deren Gewißheit wir überzeugt werden, nicht durch Thatsachen, sondern durch die Befriedigung, welche sie unserm Gemüthe gewähren!

Durch die Erfüllung mancher Wünsche bestraft das Schicksal die Anmaßung, mit welcher wir bei unserer Kurzsichtigkeit haben bestimmen wollen, was für uns gut sein werde. Wie die Thorheit überhaupt ihre reichste Quelle in der Einseitigkeit hat, so beruht die Thorheit der Wünsche vornehmlich darauf, daß man ein Verhältniß nur von der einen, sich empfehlenden Seite betrachtet, und die übrigen, nachtheiligen Seiten erst bei Erfüllung des Wunsches kennen lernt. Wenn von den verschiedenen Todesarten die Rede ist, hört man es nicht selten aussprechen, man würde, wenn die Wahl frei stände, den Tod aus Alterschwäche vorziehen. Mir war dieser Wunsch ganz fremd, da ein möglichst in die Länge gezogenes Leben mir nie wünschenswerth erschienen ist; allein ich wünschte nicht urplötzlich und bewußtlos hinweggerafft zu werden, sondern mit Verstand und Besonnenheit aus der Welt zu gehen. Dies ist nun aber bei der über mich verhängten Alterschwäche ganz vorzüglich der Fall, und gerade dieses unerträglich langsame Erlöschen des Lebens ist es, worüber ich jetzt klage. Was ist ein Leben ohne Kraft, ohne rüstige Thätigkeit? Wer an ein thätiges[574] Leben gewöhnt ist, im Bewußtsein seiner Kräfte sich glücklich gefühlt, und in ihrer Uebung seine größte Freude gefunden hat, für den ist die Entkräftung, wenn sie nicht geraden Weges und schnellen Schrittes zum Grabe führt, ein furchtbares Uebel.

Was leben will, muß Kraft besitzen, zu wirken und sich zu behaupten. Ein Leben, das bei eingebrochener Kraftlosigkeit noch bestehen will, erklären wir für eine eitle Anmaßung, für eine hohle Larve; und wenn es uns im Alter, wo wir es so gern mit einem verjüngten Dasein vertauschen möchten, noch als Loos beschieden ist, so giebt es eine schwer, ach! sehr schwer zu tragende Bürde ab. Je mehr wir erkennen, was es mit der Kraft auf sich hat, je höher wir sie schätzen, um so tiefer beugt ihr Verlust uns nieder; ja wir sind geneigt zu murren: warum nicht der Tod statt dieses kläglichen Zustandes, dieses Pflanzenlebens, dieses dem Vegetiren eines Schwammes gleichen Daseins?

Die in dem Benehmen hervortretende Aeußerung der Alterschwäche, welche den Mangel an Energie durch eine gewisse Hastigkeit zu ersetzen sucht, dieses Zappeln, diese Geschäftigkeit, die nichts zu Stande bringt, dieses Anlaufnehmen, welches alsbald nachläßt und nichts ausrichtet, hatte immer einen widerlichen Eindruck auf mich gemacht, und ich muß es jetzt an mir selbst wahrnehmen. Es gehört große Geduld dazu, mich selbst zu ertragen! Der lebensmüde, nur noch auf die Beschäftigung mit den Trivialitäten des Lebens hingewiesene Geist sehnt sich statt dieses schadhaften Gehirns nach einer neuen, bessern Unterlage.

Man will lieber schlecht als schwach erscheinen. Ganz richtig: erscheinen. Ob aber auch sein? – Auf diese Frage antwortet eine Stimme in uns auf das Entschiedenste: nein! Unser Gewissen sagt uns: ja wir sind oft sehr schwach gewesen, aber, Gott sei Dank, nicht schlecht; und wenn wir bisweilen nicht ganz so gehandelt haben, wie wir gesollt hätten, und wie wir gehandelt zu haben jetzt wünschen, so entschuldigen wir es mit unverschuldeter Schwäche, mit dem beschränkten Maaße der uns verliehenen Kräfte. Und diese Entschuldigung ist kein ganz leerer Vorwand der Trägheit, sondern hat allerdings einigen Grund.[575] Denn wie gewiß auch unsere Verpflichtung ist, die höheren Kräfte, deren Keim in uns liegt, durch freie, vernunftmäßige Uebung zu entwickeln und auszubilden, daß sie stark und fest werden, so ist doch die Möglichkeit hierzu nicht Jedem von uns in gleichem Maaße gegeben. Die dem Menschengeschlechte im Allgemeinen zukommenden Anlagen und Kräfte sind den Individuen in verschiedenen Graden und Proportionen zugetheilt, so daß dadurch auch gewisse Stufen der Entwickelung bestimmt sind, über welche hinaus diese nicht fortschreiten kann. Ueberdies steht sowohl die Energie der Denkkraft, als auch die Stärke des Charakters mit der organischen Constitution des Individuums und der Stärke seiner Lebenskraft in gar innigem Zusammenhange. Der Stamm unserer Kraft ist also eine Gabe des Himmels, und der von unserem Willen durch ihre Uebung bewirkte Zuwachs bleibt immer nur der geringste Theil derselben. Haben wir sie nun unserer Seits nicht vernachlässigt, so wird der Schmerz über die ohne unsere Schuld erfolgende Abnahme derselben durch das Bewußtsein eines wirklich sittlichen Wollens aufgehoben. Bei der Schwäche unserer Individualität kann eine höhere Kraft, die Kraft des Glaubens, sich behaupten, welche hierbei eben in dem festen Vertrauen auf die Alles umfassende Liebe dessen, von welchem alle Kraft stammt, sich bewährt, und jene Schwäche besiegt. – Der gewöhnliche Trost, mit welchem freundliche Gemüther meinen Klagen über Entkräftung zu begegnen suchen, daß ich nämlich genug gearbeitet hätte und nun nach der Ordnung der Natur die Zeit der Ruhe gekommen wäre, schlägt bei mir nicht an. Denn erstlich bin ich mir wohl bewußt, nicht müssig gewesen zu sein, aber meine Leistungen waren nicht so umfassend und so tief eingreifend, daß sie mir hätten genügen können; ich hätte gern dieses oder jenes Feld der Naturwissenschaft noch weiter bearbeitet. – Sodann fordert der ungestörte Genuß solcher Feierstunden am Ende des Lebens eine größere Gemächlichkeit, und deren Bereitschaft setzt wieder voraus, daß an Stelle der erschöpften persönlichen Kräfte die erforderlichen Geldmittel erworben sind, und hierauf hatte ich nicht gedacht. Durch meinen Gehalt in einen mäßigen[576] Wohlstand versetzt, hatte ich nicht an Sorgen für meine Zukunft gedacht, und war zufrieden gewesen, daß ich, ohne mich bedeutend einschränken zu müssen, in meiner Haushaltung auskam, auch zu meiner und meiner lieben Frau Erholung von Zeit zu Zeit eine Reise unternehmen konnte. Da ich übrigens keinen übermäßigen Aufwand machte, so hatte ich allerdings ein Sümmchen zurückgelegt, um es den Meinigen zu hinterlassen; allein theils war es nicht bedeutend genug, um mir von den Zinsen wesentliche Bequemlichkeiten schaffen zu können, theils traten Verhältnisse ein, welche es mir meinem Gefühle nach zur Pflicht machten, durch diese Ersparniß meinen Verwandten beizustehen. So mußte denn also mancher Wunsch, zu dessen Befriedigung der Gehalt nicht ausreichte, unbefriedigt bleiben. Gegen meine Lähmung hätte ich z.B. gern in einem warmen Bade Hülfe gesucht; aber bei meiner Alterschwäche hatte ich zu wenig Vertrauen darauf, und so hielt ich es für unrecht, für eine ganz unsichere Aussicht die kleine Summe, welche ich den Meinigen hinterlasse, noch mehr zu schmälern. – Endlich sind meine Umgebungen nicht völlig so heiter, wie man wohl sich wünschen muß, um als Greis in Ruhe sich an den Früchten seiner Thätigkeit laben zu können. Man denkt sich den Greis, welcher seine letzten Tage in heiterer Ruhe verlebt, in der Mitte derer, die ihm die Theuersten im Leben waren; und in der That, hätte ich mein theures Weib noch an meiner Seite, so würde ich alle Mühseligkeiten des Alters und der Krankheit viel leichter ertragen. –

Ein mir befreundeter Geistlicher, der während der akademischen Säcularfeier von Königsberg abwesend gewesen war, ließ sich nach seiner Heimkehr von dieser Feier erzählen, und als man ihm die mir zu Theil gewordenen Beehrungen geschildert hatte, rief er aus: was bleibt diesem Manne nun anders noch übrig, als der Tod! – Ja, das wäre das höchste Erdenglück gewesen, wenn mit dem Schlusse des Jahres 1844 auch mein Leben geendet hätte. Ich war dieses Glückes nicht würdig, sondern mußte noch die Prüfung erfahren, wie ich in einem Zustande körperlicher und geistiger Entkräftung, in einem Zustande[577] gezwungener Unthätigkeit ein freudenarmes Dasein ertrüge. So weit bestehe ich hierin, als ich in diesem Geschicke die Vorbereitung für eine weitere Zukunft erkenne. Aber in dem Versuche, die auf dieser Lebensstufe mir gestellte Aufgabe zu lösen, zeige ich mich nur stümperhaft. Das durch die Güte des ewigen Vaters verwöhnte Kind findet die Prüfung hart, und wenn es da oft verzagen will, beweiset es eben, daß es noch eines rauhen Schicksals bedarf, um geläutert zu werden, daß es einen höhern, über die Schwäche des Erdenlebens erhebenden Muth sich aneignen muß. Und dazu helfe mein Gott! Aber er gewährt mir ja auch solche Hülfe. Hat er mir doch liebevolle Kinder und Kindes-Kinder gegeben, hat er mir doch das Herz von Menschen zugewendet, deren Geist und Gesinnung mir Achtung einflößt, deren Wohlwollen mir trübe Stunden erheitert, deren Nachsicht mich ermuthigt, deren Zutrauen mein eigenes Selbstvertrauen stärkt, daß ich nicht murre, noch verzage, sondern mit Heiterkeit dankbar für das genossene, so wie das mir jetzt noch zugetheilte Gute, mein Schicksal ertrage, und in unbedingter Ergebung dennoch mich durchaus frei fühle.

Allerdings bin ich noch weit entfernt, mir diese Stimmung völlig zu eigen gemacht zu haben. Ich habe noch keineswegs die Welt überwunden; ja es giebt Stunden, wo meine Phantasie mir Traumbilder äußern Glücks vorgaukelt, die ich als meiner unwürdig verschmähe, was jedoch nicht ohne einige Anstrengung des Willens möglich ist. Bekanntlich sollen auch die tapfersten Kriegshelden nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen gleich tapfer sein; mit dieser Bemerkung suche ich es zu entschuldigen, daß ich, der ich doch keinen äußern, sichtbaren, sondern einen weit gefährlicheren, innern Feind zu bekämpfen habe, keinen ausdauernden Heroismus beweise.

Ich erkenne es mit Dankbarkeit an, daß mein Loos noch um Vieles härter sein könnte, als es wirklich ist. Mein Leiden des Rückenmarks3 scheint, obgleich es nun schon über zwei[578] Jahre dauert, nicht an Umfang zu gewinnen: meine Lähmung ist in dieser Zeit noch nicht zu einer völligen Fühllosigkeit und Unbeweglichkeit der linken Gliedmaßen gestiegen, sondern mehr eine lähmungsartige Schwäche geblieben, so daß ich mit einiger Unterstützung noch, wenn auch langsam, gehen kann, und mein übriges Handtieren zwar mühsam von Statten geht, aber dann doch nicht ganz ungeschickt ausfällt. Für meine Gesundheit habe ich nie der Leibesbewegung bedurft, kann also diese in diätetischer Hinsicht leicht entbehren. Die Geschäftsgänge, welche mir als Beamten obliegen, sind nicht zahlreich, und da ich einen Garten am Hause habe, so kann ich mit aller Bequemlichkeit mir einige Bewegung in freier Luft machen; unangenehm bleibt es dabei allerdings, daß ich, vorzüglich durch eine Verringerung meiner Einnahme bestimmt, im Jahre 1845 das nette einspännige Fuhrwerk, das ich seit 1836 gehalten hatte, und welches mir jetzt erst recht nützlich gewesen wäre, habe abschaffen müssen. Was die Hände betrifft, so vermag die rechte mit Hülfe einiger kleiner Kunstgriffe viele Geschäfte für sich allein zu verrichten, wie denn das Wichtigste, das Schreiben, wenig gehindert ist. Wo endlich meine Bewegungskraft nicht ausreicht, steht mir fremde Hülfe zu Gebote. Im gelähmten Arme[579] habe ich Schmerzen, aber weder anhaltend noch häufig, auch nicht heftig, meine leiblichen Functionen sind im Allgemeinen ganz in Ordnung. So kann ich denn mit meinem Loose noch ganz zufrieden sein und der Ruhe pflegen, die meinem Alter angemessen ist, und mir weder durch Beruf noch durch Gesundheitsrücksichten versagt wird. Aber leugnen kann ich es nicht, daß mir auch diese Beschränkung der Freiheit und Sicherheit meiner Bewegungen sehr empfindlich ist. Für einen Mann, der an Rüstigkeit und vollkommene Beherrschung seiner Gliedmaßen gewöhnt war und fremde Hülfe jederzeit verschmäht hatte, kann es nicht anders als ungemein drückend sein, wenn er bei kleinen Verrichtungen, die den Gebrauch beider Hände voraussetzen, fremder Hülfe bedarf; und wenn auch mein Lage nicht so unglücklich ist, daß ich nicht über fremde Hülfe der Art gebieten könnte, so ist doch schon die Nothwendigkeit solches Gebietens lästig genug. Die gewohnte und mit Bewußtsein gehegte Selbstständigkeit, sei es auch nur im Körperlichen, einzubüßen, ist immer schmerzlich.

Ach, Alles sollte gut sein, könnte ich nur über gewohnter wissenschaftlicher Beschäftigung die körperliche Schwäche vergessen! Solche geistige Thätigkeit hatte meinen Muth aufrecht erhalten in der Jugend, als ich in größter ökonomischer Bedrängniß mich befand, so wie im Alter, als die treue Gefährtin meines Lebens von meiner Seite gerissen wurde; jetzt ist sie durch Alterschwäche und organisches Leiden des Nervensystems unzureichend geworden; die Aufmerksamkeit ist schwach, die Einbildungskraft träge, die Combination schwerfällig, die Productivität erloschen, die Ausdauer gering, und die Arbeit, die sonst meine Freude ausmachte, ist mir unbefriedigend und schaal. Mich reizte der Gedanke, meine Anthropologie, von welcher eine neue Auflage gefordert wurde, umzuarbeiten und zu verbessern, doch nur zu bald überzeugte ich mich, daß meine Kräfte nicht mehr hinreichen, und überließ die Arbeit meinem Sohne; ja selbst den Mittheilungen, welche mir dieser über das, was er gearbeitet hatte, machte, konnte ich nicht auf die Dauer mit Aufmerksamkeit folgen.[580]

So stehe ich denn körperlich wie geistig ermattet in trübseliger Isolirtheit da. Gleichwohl ist dieser Zustand noch zu neu, als daß nicht Reminiscenzen des frühern sich dagegen geltend machen sollten; das Greisenthum ist zu plötzlich über mich gekommen, als daß ich mich recht darein zu schicken vermöchte; und an meine kräftige Gesundheit war ich zu sehr gewöhnt, als daß das Gefühl des damit verbundenen Vermögens so bald hätte erlöschen können. Daher ist es mir denn bisweilen, als ob ein junger, gesunder Kerl in der siechen Maske stäke, und so fehlt es denn auch nicht an mancherlei Widersprüchen mit mir selbst; mich belebt zu Zeiten der Gedanke einer wissenschaftlichen Aufgabe, der Vorsatz einer literarischen Arbeit, und alsbald verscheucht das Bewußtsein meines Zustandes solche Einbildungen.

Habe ich den Tag mit meist einsamer Lectüre verbracht, so ist es mir für den Abend ein Bedürfniß, neben meinen Angehörigen einen Gesellschafter4 bei mir zu sehen, und ich erkenne es dankbar an, wenn sich Jemand aus Wohlwollen dazu versteht. Aber ich begnüge mich, meinen Wunsch solcher Gesellschaft bloß anzudeuten, und mag nicht darum bitten, da ich weder zugestehen will, daß ich mir nicht selbst genug bin und einer Gesellschaft bedarf, noch auch den Gedanken ertragen[581] kann, daß man mir aus Mitleid ein Opfer bringe. Dazu kommt, daß der Geistesarme mich langweilt, und den Geistreichen, dem ich an Gedankenfülle nicht gleich komme, ich zu langweilen fürchte.

Viel mehr als sonst gebe ich jetzt auf sinnliche Genüsse, ja ich glaube durch dieselben der gesunkenen Kraft zu Hülfe kommen zu müssen. Es scheint nämlich überhaupt, als ob, um mit reger Kraft in das Gebiet des Uebersinnlichen eindringen zu können, man eine tüchtige Sinnlichkeit bedürfe. Unter den Zügen von der Persönlichkeit geistig ausgezeichneter Männer findet man häufig einen guten Magen, eine derbe Sinnlichkeit, starken Knochenbau, ein festes Fleisch u.s.w., und es kann so sein, da das materielle Leben nicht die Verneinung und das Gegentheil des geistigen, sondern nur die Hülle desselben und das Mittel seiner Verwirklichung im Besondern, seines Hervortretens in der Erscheinung ist, das Aeußere aber auf das Innere zurückwirkt. Bei der unerschöpflichen Mannichfaltigkeit der Verhältnisse kommen zwar auch Fälle von hoher Geisteskraft bei körperlicher Schwäche vor, indeß giebt diese doch auch den geistigen Erzeugnissen eine eigene Färbung. Vergleicht man die Werke von Moses Mendelssohn und von Fichte, von Gellert und von Schelling, so zeigt sich die Verschiedenheit auffallend genug; daß aber bei der in Folge des Alters eintretenden Lebensschwäche die geistige Kraft antagonistisch sich steigern könnte, ist nicht denkbar, vielmehr erfahre ich an mir selbst nur ein entsprechendes Sinken derselben. Hatte ich nun früher bei geistiger Regsamkeit auch der Sinnlichkeit ihr Recht widerfahren lassen, und somit ein gewisses Gleichgewicht unter beiden Sphären zu erhalten getrachtet, so ist jetzt die Materialität durch Verminderung des Gegengewichts überwiegend geworden; und da ich an einen gewissen Grad von Wohlleben auch schon früher gewöhnt war, ist jetzt allerdings ein guter Theil meiner Zeit der Auswahl unter den Mitteln der Gemächlichkeit und des materiellen Behagens gewidmet, so daß ich mir bisweilen ein Versinken in gemeine Sinnlichkeit vorwerfe. Allein, was ich derselben eingeräumt habe, ist immer nur mäßig gewesen und[582] auch jetzt nicht übermäßig geworden, sondern erscheint nur breiter, weil es nicht mehr wie zuvor durch Selbstthätigkeit gehörig gedeckt wird. Es würde daher auch ein ganz unverständiges Beginnen sein, wenn ich dieser sinnlichen Richtung Abbruch thun wollte. Wie durch Abstumpfung der Sinnesorgane die Anschauung des Uebersinnlichen nicht gefördert wird, so würde eine Kasteiung nur mein leibliches Leben noch mehr herabsetzen, ohne dem geistigen aufzuhelfen.

Da man Alles nach dem Grade schätzt, in welchem es seiner Bestimmung entspricht, den ihm angewiesenen Platz ausfüllt und in der durch seine Wesenheit bestimmten Weise wirksam ist, so achtet man den mit Aufgaben des Denkens beschäftigten Menschen nach seiner geistigen Kraft, und sonach müßte ich in meinem jetzigen Zustande der Entkräftung meinen Mitbürgern, ja mir selbst verächtlich vorkommen. Doch bei mir wenigstens kann ein solches Urtheil nicht aufkommen. Denn ich habe die geistige Kraft, welche mir so manchen hübschen Erfolg verschaffte, nie als ein erworbenes Gut betrachtet, worauf ich stolz sein dürfte, sondern darin immer nur eine mit freudiger Dankbarkeit anzuerkennende Gabe des Himmels gesehen. Wie mir diese Gabe nun ohne mein Verdienst durch günstiges Geschick zu Theil geworden war, eben so ist sie mir jetzt ohne meine Schuld vom Schicksale entzogen.

Ein unangenehmer Zustand kann uns dadurch erträglicher werden, daß wir ihn unserer Anschauung unterwerfen, ihn zum Gegenstande machen, und dadurch von uns abrücken, uns als selbstständig ihm gegenüber stellen. Dies ist aber natürlich um so schwieriger, je tiefer das Uebel sitzt, je mehr es unser Ich selbst angreift, je weniger wir uns also von ihm zu scheiden im Stande sind. Dies ist nun mit mir der Fall: meine geistige Thätigkeit ist geschmälert, und ich erkenne, daß ihre Gebrechen meist nur die durch Alter und Nervenleiden bewirkten Steigerungen natürlicher Schwächen sind. In diesem schmerzlichen Zustande würde meine Frau mit ihrer unbegrenzten Liebe, mit ihrer gesunden Anschauung der Verhältnisse, mit ihrer Charakterstärke mich getröstet, aufgerichtet und gestützt haben.[583] Wie soll ich nun in meiner Vereinsamung die heitere Ruhe gewinnen und behaupten, mit welcher wir unser Selbst gegen das unvermeidliche Uebel behaupten sollen? Wo soll ich die Kraft hernehmen, um das schwerste Unglück, die Kraftlosigkeit selbst zu ertragen? Der Widerspruch, der in dieser Forderung liegt, wird dadurch gehoben, daß ich der individuellen Kraft, deren Verlust ich beklage, eine höhere Kraft entgegensetze: die religiöse Gesinnung, welche im Anschauen des Unendlichen das Gemüth über die Schmerzen der an der gegenwärtigen Individualität haftenden Unvollkommenheiten erhebt. War ja doch, als ich an der Seite meines geliebten Weibes den ökonomischen Sorgen trotz bot, und den Verlust meiner Tochter, in deren Besitze ich das reinste Lebensglück gefunden hatte, mit Ergebung ertrug, diese religiöse Gesinnung der eigentliche Grund, auf welchem mein Muth beruhte, und die Liebe erleichterte uns nur denselben, indem sie diese Gesinnung theilte. Und als ich wissenschaftlicher Beschäftigung es verdankte, daß ich dem Schmerze über den Tod meines Weibes nicht erlag, so war das eigentliche Wirksame wiederum nur die religiöse Gesinnung.

Die Herolde einer modernen Philosophie haben im Sinne eines krassen Materialismus, in welchen ihre transscendentalen Lehren übergehen, von dem Christenthume wegwerfend geäußert, dasselbe sei eigentlich nur für Schwache und Leidende. Ich gedachte, wenn ich solche Aeußerungen vernahm, der im Specke sitzenden Made, die mit dem Diesseits vollkommen sich begnügt, und nur eine Verlängerung des gegenwärtigen Zustandes begehrt.

Meine innere Erfahrung hat solche Behauptung auf das Entschiedenste widerlegt. Mir war die Religion eine stete Begleiterin im Leben gewesen, und gerade in den Momenten des höchsten Glücks und im Vollgenusse der Kraft hatte ich ihre beseligenden Wirkungen erfahren; daß sie aber auch im Unglücke und im Zustande der Schwäche ihre erhebende Kraft mir bewährt, betrachte ich eben als den vollgültigsten Beweis ihrer Erhabenheit.

Wir dürfen wohl mit Recht vom Christenthume die ihm[584] fremden Zusätze sondern, welche die christliche Mythologie bilden, nämlich die Erzählungen, welche die Kritik als unhistorisch erweiset, und die Dogmen, welche der Vernunft und der Erfahrung widersprechen. Aber auch selbst der Kern des Christenthums behält eine historische Seite, und ist in so fern den Angriffen des Scepticismus ausgesetzt. Denn die Verkündigung seiner Lehren ist das Ereigniß einer vorübergegangenen Zeit, die That einer Person, über welche wir nur Berichte haben, die der Einseitigkeit und Ungenauigkeit beschuldigt werden können, einer Person, deren Glaubwürdigkeit noch bezweifelt werden kann und nicht durch Zeugnisse zu beweisen ist, deren Glaubwürdigkeit selbst wieder erst des Beweises bedarf. – Vermöge unserer Vernunft schließen wir von der sinnlichen Erscheinung auf einen übersinnlichen Grund, und auf diese Weise gelangen wir durch Betrachtung der Natur zur Erkenntniß Gottes. Die so entstandene natürliche Religion hat durchaus nicht den Charakter des Historischen, ist nicht als ein Ereigniß aufgetreten, leitet ihren Ursprung nicht von irgend etwas Einzelnem, von einer einzelnen Zeit und besondern Persönlichkeit ab, sondern ist das Werk des Menschengeistes überhaupt, welcher, wie er seine Gedanken in äußerlichen Anordnungen ausprägt, in der Ordnung der unendlichen Natur das Wirken des unendlichen Geistes und somit diesen selbst erkennt. Sie ist keine vermittelte, an Einzelnheiten geknüpfte, sondern eine unmittelbare, jedem Menschen als solchem zugängliche Erkenntniß. Nur was wir auf diese Weise erkennen, hat für uns unmittelbare und volle Gewißheit, und zu einer solchen Erkenntniß sind wir als mit Vernunft begabte Wesen auch berufen. – Hat sich Gott dem jüdischen Volke durch Jesus Christus geoffenbart, so offenbart er sich der Menschheit und jedem Gliede desselben zu allen Zeiten und an allen Orten unmittelbar. Diese unmittelbare, allgemeine, Jedem von uns zugängliche Offenbarung ist nun auch der Prüfstein der besondern und mittelbaren. Denn die Erkenntniß wird uns nicht als etwas Aeußeres gegeben, sondern von uns, als von Vernunftwesen, nur durch den Gebrauch unserer eigenen Kräfte erworben, und von der Wahrheit der[585] Lehre Christi gewinnen wir nur dann eine wirkliche Ueberzeugung, wenn wir finden, daß sie mit der natürlichen Religion, d.h. mit den Gesetzen unserer Vernunft und den Thatsachen der Erfahrung im Einklange steht. – Es genügt uns zu erkennen, daß die christliche Religion durch die natürliche bestätigt, wie auch, wo die Berichte über die Aussprüche Christi nicht klar oder nicht vollständig genug erscheinen, erläutert und ergänzt wird, und daß beide nur als die verschiedenen, einander parallel laufenden Quellen einer und derselben Religion sich gegenseitig unterstützen. Ja wir dürfen nicht einmal behaupten, daß die natürliche Religion das Christenthum entbehrlich machte, denn unseres Wissens hat Niemand die ewigen Grundwahrheiten der Religion so klar und bestimmt ausgesprochen, als Christus und die, welche von ihm belehrt waren, und wenn wir diese Wahrheiten aus der Vernunft und der Beobachtung der Natur abgeleitet zu haben glauben, so wäre es immer möglich, daß wir in Hinsicht auf die Quelle uns selbst täuschten, von den durch das Christenthum erlangten Ansichten ausgingen, und sie nicht selbst, sondern nur ihre Bestätigung in der natürlichen Religion fanden.

Die das Verhältniß Gottes zum Menschen betreffende folgenreiche Grundansicht der Lehre Christi ist übrigens derselben ausschließlich eigen und das gültigste Zeugniß für die Erhabenheit seines Geistes.

Trotz meiner gegenwärtigen Schwäche will ich es versuchen, hier die Grundzüge der Ansichten, welche mich durch's Leben begleiteten und in denen ich jetzt meine Beruhigung finde, in klaren Worten anzugeben.

Eine sinnige Anschauung des organischen Körpers nach seinen Theilen und Thätigkeiten, seiner Entstehung und dem Verlaufe seines Lebens, kurz nach der Gesammtheit seiner Erscheinungen führt zu der Erkenntniß, daß derselbe nichts anderes ist, als die fortwährende Verwirklichung von Gedanken; denn Alles ist hier so geordnet, daß es bestimmten Zwecken entspricht, und so geartet, wie es die Zukunft nöthig macht. Der Gedanke erweist sich als das allein Bleibende und Wesentliche,[586] indem er von Anbeginn immerfort wirkt und die ununterbrochen zerfallenden Gebilde immer wieder von Neuem schafft, während die dazu dienende Materie beständig wechselt, entweicht und durch neue ersetzt wird.

Hierdurch vorbereitet, erkennen wir nun auch das Weltganze als ein Organisches oder vielmehr als das Urbild alles Organischen, als den ursprünglichen und unbedingten Organismus. Die Alles umfassende Macht des unendlichen Geistes bethätigt sich hier darin, daß allen Einrichtungen und Verhältnissen der Welt Zwecke zum Grunde liegen, jedem Dasein also auch eine bestimmte Zukunft vorschwebt. Diese unendliche Weisheit ist zugleich allwaltende Liebe, welche die Erhaltung alles Geschaffenen beabsichtigt, und in den Einrichtungen der Welt, in den Verhältnissen der Dinge einen Einklang setzt, welcher das Bestehen und das Wohl alles Einzelnen möglich macht und dabei auch das Geringste, Kleinste nicht übersieht. Dabei fehlt es im Einzelnen allerdings nicht an Disharmonieen. Wie nämlich die göttliche Idee unendlich ist, so ist auch die aus ihr, als der inneren Einheit, hervortretende Mannichfaltigkeit der Erscheinungen unendlich, und daher der Gang der Welt kein Mechanismus, dessen Räder in strenger Regelmäßigkeit einmal wie allemal in einander greifen, so daß dieselbe Wirkung in trockener Einförmigkeit sich immer nur wiederholt, sondern er ist ein ewig frisches, lebendiges Regen der Kräfte, die in den mannichfaltigsten Verhältnissen zusammenwirken und immerfort neue Erscheinungen darbieten, denn alles Geschaffene soll die ihm verliehene Kraft üben, d.h. das, was der Möglichkeit nach in ihm enthalten ist, zur Wirklichkeit bringen, und was bisher als Inneres bestand, als Aeußeres hervortreten lassen. Indem nun solchergestalt das Einzelne auf das Andere wirkt, kann es bald dasselbe durch sein Uebergewicht unterdrücken, bald unter dessen Uebermacht erliegen, in beiden Fällen aber die Harmonie gestört werden, vermöge deren alles Einzelne besteht. Dieses Mißverhältniß gestaltet sich nun als mannichfaltiges Uebel. Doch die Naturkräfte, die hier in Ungebundenheit ein wüstes Spiel zu treiben scheinen, hören nie auf, Werkzeuge zur Verwirklichung[587] der göttlichen Idee zu sein. Denn zuvörderst ist das Uebel immer nur einseitig und trifft nur Einzelnes, nicht das Ganze, wie denn die Krankheit immer partiell ist und nur einzelne Momente des Lebens ihrer Bestimmung entfremdet. Ein Verhältniß, welches in der einen Beziehung verderblich ist, wirkt in der andern wohlthuend. Sodann werden die Folgen des Uebels durch Wiederherstellung des Gleichgewichts aufgehoben. Wie im organischen Körper die durch den krankhaften Zustand selbst herausgeforderte Heilkraft der Natur die organischen Thätigkeiten zu der Harmonie zurückführt, bei welcher allein das Leben gedeihlich besteht, so gleichen sich in allen Verhältnissen die Disproportionen aus: auf Hungersnoth folgen fruchtbare Jahre, und nach der Entvölkerung eines Landes durch Krieg oder Pest tritt eine größere Fruchtbarkeit im Volke ein. – Vieles geht zwar unter, ohne sich völlig entwickelt und seine Bestimmung erfüllt zu haben; unzählige Keime, der überschwänglichen Schöpfungskraft entsprossen, unterliegen der Uebermacht der in Beziehung auf sie unharmonisch wirkenden Naturkräfte. Aber dieses Loos trifft eben nur Keime, Körper, welche noch ganz dem äußern Dasein angehören und mit der immerfort wechselnden Materie, aus welcher der in fortwährender Zerstörung und Wiederbildung begriffene organische Körper besteht, auf gleicher Linie stehen. Wo dagegen das Dasein zur Wesenheit gediehen ist, wo die in den ewigen Gesetzen der Natur wirksame Vernunft selbst in individuellen Formen und als besondere Lebensthätigkeit auftritt, wo also der Kern des Lebens, der schöpferische Gedanke in reiner Geistigkeit persönlich wird, da ist solcher Untergang nicht möglich. Wie im organischen Körper bei stetem Wechsel der Materie nur der die Verhältnisse der Einzelheiten bestimmende Gedanke des Organismus das Bleibende ist, wie die einzelnen Pflanzen und Thiere entstehen und untergehen, während ihre Gattungen fortdauern, die eben nicht in der sinnlichen Wirklichkeit in einer gegebenen Zeit und an einem gegebenen Orte existiren, sondern nur Gedankenbilder, Begriffe sind, so muß der persönlich gewordene, selbstbewußte Gedanke den organischen Leib überleben. Der Mensch, der[588] durch die Idee des Unendlichen, durch die Ideale des Wahren und Guten über das Gebiet des Sinnlichen sich erhoben hat, kann sich nicht in seiner Individualität auf dies Gebiet beschränkt sehen; der Gedanke: Gott, der in ihm lebendig geworden ist, sichert ihm eine höhere Form des Daseins nach seiner irdischen Laufbahn. Ist dies der Fall, so ist letztere nur ein Abschnitt seines Lebens, eine Alterstufe, auf welche noch eine höhere folgt, mithin eine Vorbereitung auf diese, da überhaupt jedes Lebensalter für das nächste berechnet ist, dasselbe vorbereitet und einleitet. Wenn nun der einzelne Mensch vermöge der in ihm persönlich gewordenen Vernunft, die sonst nur in der Gesammtheit der Einzelheiten, z.B. in einer Gattung von Wesen, als wirkend und bestimmend sich zeigt, einer solchen gleich zu achten ist, so muß auch der Gang seines persönlichen Lebens gleich dem allgemeinen für die Individuen einer ganzen Gattung gültigen Lebenslaufe ein Organismus in der Zeit sein, welchem ein bestimmter Plan zum Grunde liegt. Wer findet nicht, wenn er den Gang seiner Erlebnisse überlegt, eine gewisse Einheit darin, so daß ein ganz unerwartetes Schicksal sich durch die spätern Verhältnisse erklärte, auf welche es vorbereitet und zu denen es uns geschickt gemacht hat? Und wenn hier blos einzelne Stellen im Gewebe unseres Geschickes von einem schwachen Lichtschimmer berührt werden, so gewinnen wir dagegen durch die vernunftgemäße, auf Analogie der Naturerscheinungen, als der ewigen Offenbarung Gottes, sich stützende und in unserm innersten Wesen in der Tiefe unseres Gemüths Bestätigung findende Vorstellung von dem Verhältnisse Gottes zum Menschen die Ueberzeugung, daß auch unser persönliches Schicksal von einem liebevollen Vater geordnet ist. Die Ereignisse in der Welt werden durch Umstände herbeigeführt, welche in einem für das menschliche Auge undurchdringlichen Gewirre von Millionen Fäden bestehen, so daß der Verstand es nicht zu fassen vermag, wie die durch das Zusammentreffen zahlloser, einander ganz fremdartiger, in Hinsicht auf Bedeutung und Gewicht durchaus verschiedener Umstände bewirkten, also den Charakter der Zufälligkeit tragenden Schicksale des einzelnen Menschen[589] von Gott bestimmt sein sollen. In der That muß letztere Ansicht als eitle Einbildung, als leerer Wahn erscheinen, wenn man sich das göttliche Wesen in menschlicher Beschränktheit denkt und ihm eine von uns zu begreifende Handlungsweise zuschreibt, wie dies unsere Altgläubigen in ihren mythologischen Dogmen thun. Aber hier kann eben von einem Begreifen nicht die Rede sein: Die Idee des Unendlichen ist uns nur Gegenstand der Anschauung, nicht der zergliedernden Verstandesthätigkeit und des Begreifens. Die kühnen Bilder, daß die Haare auf unserm Haupte gezählt sind, und daß kein Sperling ohne Gottes Willen vom Dache fällt, bezeichnen auf treffende Weise die Unermeßlichkeit des göttlichen Waltens. Hier ist das Feld des Glaubens. Haben wir nämlich eine solche auf vernunftgemäße Betrachtung der Natur als der ewigen Offenbarung ihres Schöpfers gegründete, in unserem innersten Wesen in der Tiefe des Gemüthes Bestätigung findende Vorstellung von Gott gewonnen, so fühlen wir die Bedürfnisse unseres Herzens befriedigt, und in diesem Gefühle der Seligkeit halten wir daran mit aller Kraft unserer Seele, nehmen die nach den Gesetzen der Vernunft nothwendig daraus sich ergebenden Folgerungen an, auch wo die nähere Erkenntniß unserem Verstande unzugänglich ist, weil eben dessen Ermessen nicht in das Gebiet des Unermeßlichen zu reichen vermag. Diese innerste, dem Gemüthe inwohnende, feste, mit dem Gefühle des eigenen Ichs einige Ueberzeugung ist eben der Glaube, und solcher begreift auch den Gedanken in sich, daß wir, die wir den Unendlichen denken können und deßhalb ihm näher als alle anderen Geschöpfe stehen, eine durch seine väterliche Güte bestimmte Laufbahn vor uns haben, daß unsere Schicksale nicht vom blinden Ungefähr abhängen, sondern einem für die Zukunft berechneten Zwecke entsprechen, einem Zwecke, der kein anderer sein kann, als durch Vorbereitung für einen künftigen vollkommneren Zustand unser wahres Wohl zu fördern, zu unserer Vervollkommnung zu führen.

Sonach beruht denn die Erhebung und der Trost, welche mir die Religion gewährt, auf zwei Grundgedanken, welche sich[590] aus einer vernunftgemäßen Anschauung der Natur ergeben und in Christi Lehre klar und einfach ausgesprochen sind. Erstlich: in der Ordnung der Welt sind die Verhältnisse so eingerichtet, daß sie das Bestehen aller Wesen gestatten und ihre Entwickelung begünstigen; es ist für das Wohl eines jeglichen Wesens gesorgt, daß es sich ausbilden, den Zweck seines Daseins erreichen und, in sofern es der Empfindung fähig ist, die Lust des Daseins genießen kann. Sinniger und treffender ist dies nicht ausgesprochen worden, als von Christo, indem er den Schöpfer der Welt unter dem Bilde eines liebenden Vaters aller seiner Geschöpfe darstellt. Allerdings gehen unzählige Individuen wieder unter, wie sie aus der überschwänglichen Productionskraft der Natur hervorgebracht sind, ohne ihre Bestimmung erfüllt, ihr Dasein genossen zu haben; aber dies trifft eben nur Individuen: die Gattung besteht, weil sie nichts Einzelnes, Besonderes, sondern etwas Allgemeines, Ideelles, ein Gedanke ist. Im Menschen nun ist die Individualität durch die ihm inwohnende Vernunft zur Persönlichkeit erhoben, indem sie das Allgemeine, Umfassende, Ideelle anschaut. Dadurch wird denn das menschliche Individuum auf die Stufe gestellt, auf welcher von andern organischen Wesen nur die ganze Gattung steht: es hat vermöge seiner Vernunft Antheil an der schöpferischen Kraft, und kann demnach nicht untergehen wie die lebenden Körper.

Der zweite Grundgedanke ist der, daß die Gegenwart überall auf eine Zukunft abzweckt. Was die Natur in der Metamorphose der Insecten mit Fracturschrift aufgezeichnet hat, daß der jedesmalige Zustand nicht um seinetwillen gegeben ist, sondern seine Bedeutung nur darin findet, daß er für einen folgenden Zustand vorbereitet, dieselbe Wahrheit finden wir auch in dem menschlichen Leben, wenn wir es recht betrachten, ausgesprochen. Ja, wer mit reinem Sinne den Zusammenhang seiner Schicksale erwägt, überzeugt sich, daß manches Erlebniß ihn offenbar vorbereitet hat für eine Lage, in welche er späterhin gerathen ist; und er versöhnt sich in dieser Ueberzeugung mit seinem Geschicke, und preiset als wohlthätig in ihren Folgen eine Begebenheit, welche ihn bei ihrem Eintreten schmerzlich[591] berührt und nur verderblich geschienen hat. Auf solcher Grundlage erhebt sich der Glaube an eine väterlich gütige Vorsehung. Wenn aber die Befangenheit in der sinnlichen Sphäre meint, Gott könne nicht so für jeden einzelnen Menschen sorgen und die Schicksale zu dessen Wohle ordnen, so hat das Christenthum dies Bedenken beseitigt, indem es auf die Unendlichkeit Gottes auch in dieser Hinsicht, vor welcher nichts klein und nichts groß ist, hinweist. –

Welcher Mensch hätte nicht schon die Erfahrung gemacht, daß er aus jedem glücklich bestandenen Kampfe gegen ein Ungemach mit gesteigertem Bewußtsein seiner Kraft, mit lebendigerem Selbstgefühle, mit freudigerem Lebensmuthe hervorgegangen ist? Wenn nun dies Unglück über uns einbricht, und die Freuden unseres Lebens immer mehr schwinden, so muß dies auch einen in unserer Zukunft nach dem Tode liegenden Zweck haben. Diese unsere Zukunft kann nur in einer höheren Entwickelung unserer geistigen Natur, also in einer innigeren Vereinigung mit der Gottheit bestehen. Wie nun schon die normalen Zufälle des hohen Alters durch fortschreitende Ablösung von dem Sinnlichen als Vorbereitung zu einem solchen Zustande dienen, so wird auch die, mir allerdings schmerzliche Lage, in welche ich, während mein Leben sich zum Ende neigt, gerathe, die Vorbereitung zu einem neuen Leben sein, sie wird mich zu diesem geschickter machen, meine Vervollkommnung fördern. Dadurch, daß ich in dieser trüben Zeit mit heiterem Vertrauen auf die auch mich umfassende Vaterliebe Gottes das Uebel ertrage und ohne Ungeduld den Ausgang aus diesem Leben abwarte, werde ich ja von der Kraft Gottes immer mehr durchdrungen, selbst dem Unendlichen immer mehr genähert, mit ihm immer inniger verbunden; und in diesem Bewußtsein liegt eine Seligkeit, welche alle Schmerzen der Erde überwindet! –[592]


Karl Friedrich Burdach ist am 16. Juli 1847 gestorben. Während seines letzten Lebensjahres war er in Zwischenräumen von fünf bis acht Wochen durch Anfälle gesteigerter Schwäche heimgesucht worden, welche, den Charakter der passiven Hirncongestion an sich tragend, ihn in dem Zustande eines unruhigen aber schmerzlosen Halbschlafes auf dem Lager zurückhielten. Nach der Anwendung ableitender Mittel pflegten solche Anfälle in zwei bis drei Tagen vorüberzugehen und einem erfrischten Lebenszustande Platz zu machen. Ein ähnlicher, am 10. Juli eingetretener Anfall ließ durch seine Intensität sehr bald die Befürchtung Raum gewinnen, daß er der letzte sein werde. Nachdem der verehrte Greis bis zum 15. Juli seine Umgebungen und die ihn besuchenden Freunde bei einigem Zureden noch erkannt, im Uebrigen aber sich ganz passiv verhalten hatte, trat am 16. um 5 Uhr Morgens Agonie ein, und gegen 11 Uhr entschwand ohne alle Zeichen eines Schmerzenskampfes der letzte Athem aus der oft bewegten Brust.

Schon lange auf den Tod vorbereitet, hatte der Verewigte seinen letzten Willen schriftlich an seine Söhne hinterlassen. Ein solches hinterlassenes Schreiben war folgenden Inhalts:


In Betreff meiner Bestattung und dessen, was sonst meine Persönlichkeit betrifft, setze ich Folgendes fest, in der Erwartung, daß Ihr, meine lieben Söhne, meinen Willen gewissenhaft befolgen werdet.

1) Die Anzeige von meinem Tode in den hiesigen Zeitungen sei so kurz und einfach als möglich, nur von Euch unterschrieben und nur in Eurem Namen. Leichenreden sind als Lügenreden berüchtigt; eben so zweideutig sind die[593] officiellen Todesanzeigen, deren Verfasser, wenn sie aufrichtig sein wollten, oft vorzüglich nur das an dem Verstorbenen loben würden, daß er endlich Platz gemacht hat. Aehnliches zu vermeiden und überhaupt Niemandem das Recht einzuräumen, daß er mir einige schaale und zweideutige Lobsprüche in den Zeitungen nachschickt, ist mein Wille. Es wird angemessener sein, daß ein Freund deshalb die nöthigen Schritte thut, als daß Ihr Euch damit befaßt; auf beiliegendem Blatte habe ich Herrn Professor Hayn ersucht, durch Uebernahme dieses Geschäfts mir den letzten Freundschaftsdienst zu erweisen.

2) Ich will einen einfachen, schmalen Sarg von gewöhnlichem Holze, in der ursprünglichen einfachen Form eines Sarges, ohne Untersatz, Hohlkehle u. dgl.; schwarz angestrichen oder mit schwarzem Wollenzeuge überzogen, ohne Handhaben, Schild oder irgend eine Verzierung,

3) Ich wünsche bei frühem Morgen, wo noch Alles still ist, begraben zu werden. Nur Ihr mit Euren Kindern sollt mich zum Grabe begleiten; andere Begleitung sollt Ihr nicht bloß verbitten, sondern auch ernstlich abwehren. Wer es für werth hält, mein Andenken in Sinn und Herzen zu bewahren, wird eben dadurch mich ehren und belohnen; eine Leichenbegleitung ist durch Standesverhältnisse, Rücksichten, Eitelkeit und gedankenlose Schaulust überall zu Stande zu bringen, und kann keine Ehre machen.

4) Aus mehreren Gründen, namentlich weil ich im Leben nicht mit vier Pferden gefahren bin, auch kein Pferd meinetwegen Trauer anlegen soll, verlange ich getragen, nicht gefahren zu werden. Damit die Träger den weiten Weg rasch zurücklegen können, kann ihre Zahl vermehrt werden. Daß der Sarg auf der Bahre ohne Schilder und ähnlicher Firlefanz bleibt, brauche ich nicht zu erinnern.

5) Mein Sarg kommt in das Grab meiner lieben Frau, und auf deren Sarg. Der Grabhügel wird dann wieder[594] eben so aufgeführt, wie er jetzt ist; der aus Leipzig (von dem Grabe der Tochter) erhaltene Epheu daran gepflanzt, wozu aber gute Erde eingegraben sein muß. Die Gedächtnißtafel ist gleich der meiner Frau einzurichten und natürlich ohne Titel; sie wird über der meiner Frau befestigt, wozu sie Raum genug findet, da sie nur zwei Zeilen enthält, also nicht so hoch zu sein braucht.


In dem Schreiben an den Herrn Professor Hayn, welcher ihm nicht nur als Freund und Arzt, sondern auch in seinem Verhältnisse zur Universität, zum Medicinal-Collegium und zur Freimaurerloge nahe gestanden hatte, spricht sich der Verewigte in folgender Weise aus:


»Es ist eine schöne Sitte, den letzten Willen eines Menschen zu ehren. Es liegt darin die Anerkennung, daß der Verstorbene aus der Reihe der geistigen Wesen nicht ausgestrichen ist: man räumt ihm noch die Rechte ein, welche ihm während seines Lebens zugekommen waren; ja man geht weiter, und ist geneigt, etwas ihm zu Liebe zu thun, indem man seine Wünsche in gleichgültigen Dingen, wo er kein Recht zu Forderungen hatte, erfüllt.

In der Meinung, einer gleichen Gunst nicht unwerth zu sein, verbitte ich mir alle und jede Ehrenbezeigungen nach meinem Tode, weil sie meiner Natur ganz zuwider sind. Der äußere Schein hat bei mir seit jeher wenig gegolten, und die Eitelkeit hat nur wenig Herrschaft über mich gehabt. Oeffentliche Auszeichnungen haben auf doppelte Weise mich unangenehm berührt: das eine Mal vergegenwärtigten sie mir meine Schwächen, indem sie mich veranlaßten, meine Leistungen mit dem, was ich eigentlich zu leisten strebte, zu vergleichen; ein anderes Mal drängte sich mir der Gedanke auf, daß ich solche Auszeichnungen dem Zufalle zu verdanken und mit Personen, die ich nicht achten konnte, zu theilen hatte. In beiden Fällen war es Stolz, dort auf mein Streben, hier auf meine Wirksamkeit, was mir jene Aeußerlichkeiten lästig machte. Der schönste Lohn, der mir von außen her kommen konnte, war[595] der stille Händedruck eines Mannes, der mit meinem Wirken zufrieden war, und die aus der Ferne kommende vertrauliche Aeußerung der Zustimmung.

Dem gemäß wünsche ich nun auch, daß von Seiten des Medicinal-Collegiums, des akademischen Senats und deren Vorständen keine Anzeige meines Todes in den Zeitungen erscheine. Solche Belobungen sind zu abgenutzt, als daß ich nicht gern darauf Verzicht leisten sollte. Wenn die Behörden bei solchen Gelegenheiten sich mit schönen Redensarten in Unkosten stecken, so ist dies eitle Verschwendung; denn sie finden als eingeführte Formalitäten keinen Glauben, dafür aber desto mehr Kritiker und Krittler, bei welchen der Belobte wie der Belobende schlecht zu stehen kommt.

Desgleichen bitte ich die Loge inständigst, mein Andenken mit einer Trauerfeierlichkeit zu verschonen, indem ich nur wünsche, daß es im Herzen der Brüder sich erhalten möge. Haben die Brüder meinen Sinn erkannt, so werden sie den Gedanken aufgeben, mich durch solche Ceremonie ehren zu wollen.

Gemeiniglich findet man sich mit den Todten durch eine Ehrenbezeigung ab: durch Belobung, oder Ceremonie, oder Begleitung zum Grabe. Auch letztere verbitte ich mir; es hat keinen Werth für mich, daß man mich einscharren sieht, denn solche Gunst versagt man auch dem nicht, der uns sehr gleichgültig gewesen ist; vielleicht kommt späterhin Jemand auf den Gedanken, in wohlwollender Erinnerung meinen und meiner Frauen Grabhügel einmal zu besuchen.

Herrn Professor Hayn bitte ich, den genannten Behörden so wie der Loge meinen Wunsch vorzutragen, und dieselben zu dessen Gewährung zu bestimmen. Im Voraus sage ich Ihm für diesen letzten Freundschaftsdienst herzlichen Dank.«


Dem Wunsche des Verewigten entsprechend, ist jede öffentliche Anzeige hinsichtlich seines Todes von Seiten der Behörden[596] unterblieben; privatim aber hat der Regierungsbevollmächtigte und Curator der Universität die Hinterbliebenen mit folgender, an den Professor Burdach gerichteten Zuschrift beehrt:


Ew. Wohlgeboren gütige Mittheilung über das Absterben Ihres um die Universität und die Wissenschaft hochverdienten Herrn Vaters hat mich mit tiefem Schmerze erfüllt, nicht nur, weil die Universität eine ihrer ersten Zierden in Ihm verloren, sondern auch, weil ich in Ihm stets einen Freund verehrt habe. Ich erfahre durch eine Zuschrift des Herrn Professor Hayn, daß der Verewigte öffentliche, behördenmäßige Bekanntmachungen seines Absterbens nicht gewünscht habe, daher entspreche ich seinem Willen, indem ich das volle Anerkenntniß seiner erfolgreichen Leistungen und den Dank der von mir im Allerhöchsten Auftrage verwalteten Universitäts-Behörde in den Schooß seiner Familie niederlege.


gez. Reusch.


Die Beerdigung wurde natürlich ganz dem Willen des Verewigten gemäß eingerichtet, doch konnte sich's eine große Anzahl von Freunden und Verehrern desselben nicht versagen, am 21. Juli Morgens 6 Uhr sich auf dem altstädtischen Kirchhofe einzufinden, um seiner Bestattung beizuwohnen. Von einem Sängerchore maurerischer Brüder wurde vor, während und nach der Einsenkung ein Choral ausgeführt und ein befreundeter Prediger sprach in wenigen Worten den Segen über den Entschlafenen.

Auch zu der Lebensgeschichte und Charakteristik des Würdigen soll hier nichts mehr hinzugefügt werden.


Sanft ruhe seine Asche!

Fußnoten

1 Der Verfasser dieser Selbstbiographie hatte in dem Gefühle seiner hohen geistigen Kraft nicht nur dem Tode mit seltener Ruhe entgegengesehen, sondern auch die Ueberzeugung gewonnen, daß ihn die letzte Lebensstunde noch bei vollem Bewußtsein finde, er mithin auch bis zu dieser seine Lebensbeschreibung selbst fortzuführen im Stande sein werde. So hinterließ er seinen Söhnen in einem, wahrscheinlich schon im Jahre 1845 aufgesetzten Schreiben die Weisung: »Ihr findet das Manuscript meiner Biographie in zwei versiegelten Paketen, und bitte ich Euch, dieselben uneröffnet an Freund Boß abzuschicken und auszubedingen, daß der Druck alsbald beginne.« – Leider aber hatte der sonst so kräftige und klare Geist, dem Leiden seines Organs zu widerstehen und die letzte selbstgestellte literarische Aufgabe vollständig zu lösen, nicht vermocht: nur der erste Theil der Biographie fand sich vollständig zur Absendung verpackt und versiegelt vor; ein zweiter Theil war zwar auch schon in der Reinschrift vollendet, ließ aber erkennen, daß der Autor noch in seinen letzten Tagen den unglücklichen Versuch gemacht hatte, das früher Niedergeschriebene durchzusehen und zu ordnen; für den dritten, als Neige des Lebens bezeichneten Theil end lich wurden nur einzelne zerstreute Blätter vorgefunden. Diese letzteren zeigten deutlich, wie eifrig der Verfasser gegen die durch Alter und Krankheit bedingte Schwäche gekämpft und wie sehr ihm die Vollendung seines Werkes am Herzen gelegen hatte; wie er nämlich überhaupt gewohnt war, streng nach einer vorher entworfenen Disposition zu arbeiten, so hatte er auch über die in dem letzten Abschnitte seiner Biographie abzuhandelnden Gegenstände ein systematisches Verzeichniß (in drei nicht ganz übereinstimmenden Exemplaren) aufgesetzt, und so oft er sich an einem heitern Tage seines Lebensrestes körperlich wohler und geistig kräftiger gefühlt hatte, war er mit Eifer an die Bearbeitung eines solchen Gegenstandes gegangen, bis er ermattet die Arbeit hatte aufgeben müssen, um sie an dem nächsten günstigen Tage von Neuem zu beginnen. So enthielten denn diese zurückgelassenen Blätter viel wiederholt Angefangenes und nur Bruchstücke. Diese sind hier zu einem Capitel zusammengefügt. Die redigirende Hand hat, um die Aechtheit zu bewahren, nichts hinzugethan, als einzelne verbindende Worte, sie hat aber auch außer ganz offenbaren Wiederholungen nicht weggelassen zu dürfen geglaubt, weil all diese aus der Feder des schon im allmäligen Hinscheiden begriffenen Verfassers hervorgegangenen Mittheilungen und Betrachtungen trotz ihrer Mangelhaftigkeit ganz geeignet scheinen, einen richtigen Blick in dessen Charakter und Denkungsweise werfen zu lassen und darnach demselben auch die Herzen derjenigen Leser zu gewinnen, welche bis dahin vielleicht noch kein lebhaftes Interesse für ihn gefaßt haben möchten.

Dies zur Entschuldigung, wenn der Zusammenhang des in diesem Capitel Enthaltenen etwas locker erscheint und Wiederholungen nicht ganz vermieden worden sind.


2 Diese dem Autor eigen Liebe zur Selbstständigkeit war so groß, daß er nach dem Tode der Gattin durch alles Bitten und Zureden von Seiten seiner Freunde und Verwandten nicht vermocht werden konnte, Jemanden zur Führung der Wirthschaft und zu seiner besondern Pflege ins Haus zu nehmen, vielmehr bis an sein Lebensende sich mit der niedern Dienerschaft behalf, was freilich in den Tagen der Schwäche ihm seine Vereinsamung um Vieles fühlbarer machen mußte. So hatte er auch die ersten Anfänge seines Nervenleidens längere Zeit verborgen gehalten; und bei schon weit vorgeschrittener Lähmung nahm er die angebotene Unterstützung nur nothgedrungen und mit einigem Widerwillen an, ganz besonders unangenehm aber waren ihm immer die sorgliche Aufmerksamkeit und die Hülfsleistungen von Fremden.


3 Das Leiden hatte wohl nicht ursprünglich in dem Rückenmarke seinen Sitz, bestand vielmehr wahrscheinlich in einer örtlichen Hirnerweichung. Dasselbe äußerte sich zuerst durch wiederholte Anfälle von Schwindel mit momentanem Schwinden des Bewußtseins, welche, ohne besondere Veranlassung bei ganz ruhigem Verhalten eintretend und nicht bis zu wirklicher Ohnmacht sich steigernd, von dem Patienten um so leichter vor seiner Umgebung verborgen werden konnten, als Bekannte ihn auch bei der lebhaftestes Conversation zu Zeiten ganz schweigsam zu sehen gewohnt waren. Er selbst hatte lange bevor die unvollkommene halbseitige Lähmung eintrat, gegen seine Angehörigen die Befürchtung ausgesprochen, daß sich eine Hirnerweichung bei ihm entwickele; nachdem aber jene eingetreten war, hatte er diese Meinung aufgegeben, und ein Rückenmarksleiden diagnosticirt. Für die Annahme einer organischen Affection des Gehirns spricht unter andern der Umstand, daß eine mäßige Erschütterung des Körpers beim Fahren auf schlechtem Steinpflaster oder sonst holperigem Wege sich dem Patienten besonders im Gehirne fühlbar machte, er auch öfter einen dumpfen Kopfschmerz bekam, von dem er seit seiner Jugend durchaus frei gewesen war. – Eine Section ist nach dem Tode nicht vorgenommen worden, da kein die practische Heilwissenschaft förderndes Resultat zu erwarten stand.


4 Dank der treuen Anhänglichkeit mehrerer Freunde und Verehrer hat es unserm Autobiographen bis zu seinem letzten Lebenstage nur selten an solcher Gesellschaft gefehlt. Uebrigens werden die gesellschaftlichen Abende in seinem Hause, wenn auch von einer gewissen Seite her öffentlich begeifert, gewiß den Theilnehmern noch lange in lebendiger Erinnerung bleiben; denn sie waren, so lange der von Allen geliebte und dabei doch mit einer, gewisse Schranken aufrecht erhaltenden Ehrfurcht betrachtete Greis noch selbst lebhaften Antheil nahm, die Conversation leitete oder durch einzelne hingeworfene Lichtfunken des Geistes erhellte, wahrhaft genußreich, und auch noch, als die gesteigerte Alterschwäche ihn dabei mehr theilnahmlos erscheinen ließ, konnte wohl der Hinblick auf das, herzliches Wohlwollen und innige Freude über die heitere Umgebung aussprechende, ehrwürdige Antlitz, so wie der ungeheuchelt ausgedrückte Dank beim Abschiede für etwanige Mängel hinlänglich entschädigen.


Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 597.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Reuter, Christian

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.

46 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon