Das chemische Institut in der Georgenstraße

[181] Mein Einzug in das Institut, die von mir angeregten kleinen baulichen Veränderungen, die Vermehrung der Assistenten und die Verteilung der Arbeit unter die vorhandenen Lehrkräfte sind schon früher geschildert. Alles war von mir nur als Provisorium gedacht, weil ich sicher damit rechnete, daß in wenigen Jahren ein Neubau entstehen werde; denn seine Errichtung war die erste und wichtigste Bedingung, die ich bei der Berufung stellte, und sie war nicht allein von den Räten des Kultusministeriums, sondern auch von dem Minister Dr. Bosse selbst ausdrücklich bewilligt worden. Das Provisorium hat aber schließlich 71/2 Jahre gedauert und bildet so einen ziemlich langen Abschnitt in meiner Berliner Tätigkeit.

Mit Ausnahme der beiden Hörsäle und der beiden von Tiemann als Privatlaboratorium benutzten Zimmer lagen alle benutzbaren Räume im ersten Stock. Zwei gut erleuchtete Unterrichtssäle, getrennt durch einen kleineren Raum, gingen nach der Georgenstraße. Die übrigen Unterrichtszimmer mit Nebenräumen lagen in den korridorähnlichen Seitenflügeln und dienten gleichzeitig als Durchgang. Recht hübsch und auch ziemlich zweckmäßig eingerichtet war das aus zwei Räumen bestehende Privatlaboratorium, das durch den Korridor und zwei Bibliothekszimmer direkt mit dem Wohnhaus in der Dorotheenstraße in Verbindung stand. Hier habe ich mich, unterstützt von dem aus Würzburg mitgekommenen Privatassistenten Dr. Lorenz Ach schnell eingerichtet. Drei junge Chemiker, die ihre Doktorarbeit ausführen wollten – es waren die Herren Haenisch, Kopisch und der von Würzburg mitgenommene Engländer Crossley – wurden als Gäste aufgenommen und schon im ersten Jahr hatte ich das Glück, zwei hübsche Reaktionen, die Bereitung des Amido-Acetaldehyds und ähnlicher Stoffe, ferner die Synthese der Alkoholglucoside aus Zucker und Alkoholen in Gegenwart von Salzsäure zu finden. Gleichzeitig leitete ich mehrere Doktorarbeiten in dem zweiten organischen Unterrichtssaal und überwachte zusammen mit dem hier tätigen Assistenten die präparativen Übungen der organischen Anfänger nach der von mir geschriebenen »Anleitung zur Darstellung organischer Präparate«,[182] die sich schon in Erlangen und Würzburg bewährt hatte. Auch um die analytische Abteilung, in der Dr. Piloty und Dr. Fogh tätig waren, habe ich mich damals, so weit es meine Zeit zuließ, gekümmert.

Die großen Experimental-Vorlesungen hielt ich wie Hofmann im Winter über anorganische und im Sommer über organische Chemie. Aber anstelle des dreimal zweistündigen Vortrages zog ich es vor, 5 Mal je eine Stunde in der Woche zu sprechen, weil dadurch die Vorbereitungen der Experimente viel sorgfältiger werden und deshalb auch recht viel Zeit erspart werden kann. In der Tat zeigte sich denn auch, daß ich in den 5 Wochenstunden ein erheblich größeres Pensum mit einer größeren Anzahl von Experimenten ausführen konnte, als früher in drei Doppelstunden geleistet wurde.

Die Zahl der Zuhörer stieg schon im zweiten und dritten Jahre sehr erheblich und dann wurde der Zugang so groß, daß aller verfügbare Raum von stehenden Personen erfüllt war und meist die Zugangstüren nicht mehr geschlossen werden konnten. Ganz ungenügend war die Kleiderablage, in der häufig am Schluß der Vorlesung große Unordnung herrschte, und leider auch mancher Diebstahl vorkam.

Unter den Zuhörern befanden sich in den letzten Jahren nicht allein Chemiker, Mediziner, Apotheker und Lehramtskandidaten, sondern auch Angehörige der juristischen und sogar der theologischen Fakultät. Das hing wohl damit zusammen, daß ich mich bemühte, gelegentlich die Bedeutung der Chemie für die gesamte menschliche Kultur in philosophischer und wirtschaftlicher Beziehung darzulegen.

Auch das Laboratorium war bald überfüllt, was bei der geringen Anzahl von Arbeitsplätzen (etwa 80) nicht überraschen konnte. Dieser Zudrang war das beste Agitationsmittel für den Neubau des Instituts, und als ich damit drängte, erhielt ich schon im Frühjahr 1893 den Auftrag, ein Programm dafür auszuarbeiten. In freudiger Stimmung habe ich mich dieser Mühe sofort unterzogen, mußte aber zu meiner Enttäuschung bald erkennen, daß der Auftrag nur zum Schein erfolgt und daß es eines viel gröberen Geschützes bedurfte, um das Kultusministerium in dieser allerdings ziemlich schwierigen Frage zu energischer Handlung zu bringen; denn die Entscheidung über alle derartigen Forderungen der Wissenschaft in Preußen, die Geld kosten, hat in letzter Linie der Finanzminister, und wie schwer dessen Zustimmung zu erlangen war, werde ich erst später schildern.

Zuvor war mir vom Kultusministerium ein recht unbequemes Geschäft aufgehalst worden, das mit der Weltausstellung zu Chicago von 1893 zusammenhing. Das Ministerium hatte es übernommen, hier eine Ausstellung des preußischen Unterrichtswesens und der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland zu veranstalten. Dabei sollte die chemische[183] Gesellschaft beteiligt sein, und im Auftrage des Kultusministeriums bemühte ich mich, dafür die Zustimmung des Vorstandes zu gewinnen. Gewünscht wurde vor allen Dingen eine Ausstellung von interessanten, in Deutschland entdeckten Präparaten. Im Vorstand herrschte anfangs keine Neigung, auf die Wünsche des Ministeriums einzugehen. Erst als ich den Herren klar machte, daß die langjährige Benutzung von Institutsräumen für Zwecke der Gesellschaft nur im Einverständnis mit dem Minister möglich gewesen sei und auch in Zukunft davon abhänge, entschloß man sich zur positiven Mitwirkung in Chicago durch Veranstaltung einer Sammlung von interessanten Präparaten und Apparaten und die Vorlage eines Albums mit den Bildern deutscher Chemiker. Ich mußte mich aber verpflichten, die Rundschreiben mit der Aufforderung zur Beteiligung an die Mitglieder der Gesellschaft zu entwerfen und zu versenden, sowie die Präparate in Empfang zu nehmen. Diese Arbeit geschah mit Hilfe des Assistenten Dr. Richter in den Räumen des Instituts. Sie hat viele Wochen ärgerlicher Mühe und manche Sorge gebracht. Ein hübscher Ausstellungsschrank wurde von der Firma Chemische Fabrik auf Actien vormals E. Schering in Berlin kostenlos zur Verfügung gestellt, und das Ganze hat später in Chicago offenbar gefallen; denn die beteiligten deutschen Laboratorien wurden mit Ehrendiplomen belohnt, und außerdem trat an uns der Wunsch der Amerikaner heran, die Sammlung behalten zu dürfen. Darauf konnte sich die Gesellschaft aber nicht einlassen, da die Präparate Privateigentum der einzelnen Mitglieder geblieben waren und diese fast alle den Wunsch äußerten, sie zurückzuerhalten. Sie sind dann auch nach Schluß der Chicagoer Ausstellung unversehrt nach Berlin zurückgekehrt und von hier aus an die einzelnen Besitzer verteilt worden. Ich hatte aber von dem ganzen Geschäft so viel Unbequemlichkeiten, daß ich spätere Zumutungen ähnlicher Art von Seiten des Kultusministeriums energisch ablehnte. Infolgedessen ist die Organisation und Beteiligung der wissenschaftlichen Chemie an der Ausstellung zu Philadelphia vom Kultusministerium Herrn C. Harries übertragen worden.

Der erste Winter, den ich in Berlin zubrachte, war ungewöhnlich streng, und da ich damals die Dienstwohnung noch nicht hatte, sondern in der Königin Augustastraße wohnte, so mußte ich den Weg dorthin täglich 4–6 Mal machen, natürlich mit einem Wagen, der aber wegen des hohen Schnees fast 1/2 Stunde fuhr. Bei der starken Kälte war ich dann am Ende der Fahrt ganz erfroren, bis meine Frau auf den glücklichen Gedanken kam, mir einen großen Pelzsack anzuschaffen, in den ich während der Wagenfahrt bis unter die Arme schlüpfte.

Der Frost hatte auch im Laboratorium sehr unangenehme Folgen; denn die Wasserleitung platzte an verschiedenen Stellen, und es entstand[184] eine große Überschwemmung. Da unglücklicherweise alle Röhren in die Wände gelegt waren und von der Leitung kein Plan mehr existierte, so mußten oft die Bauleute tagelang suchen, bis die verletzten Stellen gefunden waren. Dadurch wurde ich in dem schon früher gefaßten Vorsatz bestärkt, beim Neubau alle Rohrleitungen frei zu legen und leicht zugänglich zu machen. Trotz solcher kleinen und unangenehmen Überraschungen gingen übrigens der Unterricht und die wissenschaftliche Arbeit im Institut ungestört vorwärts.

Nachdem Frau von Hofmann im Mai 1893 die Dienstwohnung in der Dorotheenstraße verlassen und diese dann einer sehr notwendigen Reparatur unterzogen war, konnte ich sie im September desselben Jahres in Benutzung nehmen und war von nun an auch imstande, nicht allein die Experimentalarbeit intensiver zu betreiben, sondern auch die Gesamtaufsicht über das Institut sorgfältiger einzurichten. Das führte alsbald zur Entdeckung von Diebstählen, die von dem verkommenen Pförtner des Instituts begangen oder versucht wurden. Er hatte aus der Instrumentensammlung der Akademie, die sich in einem Dachraum des Wohnhauses befand, eine Reihe von Kupferplatten weggenommen und verkauft. Ich wurde darauf aufmerksam, als ich die Aufsicht über die Instrumentensammlung mit dem Einzug in die Dienstwohnung übernahm. Außerdem hatte er während der herrenlosen Zeit den vermauerten Kupferkessel aus der Waschküche der Dienstwohnung entfernt, um ihn zu verkaufen, war aber dabei von dem Baubeamten überrascht worden. Infolgedessen kündigte ich ihm die Stelle und dann hatte der Mensch die Unverschämtheit, sich in einer Eingabe an das Kultusministerium über die Behandlung zu beklagen, die ihm von dem neuen Direktor des Institutes zuteil werde. Diese wurde mir vom Minister zur Berichterstattung übersandt, und als ich darauf erwiderte, daß der Grund der Entlassung in dem dringenden Verdacht der Diebstähle gelegen habe, kam die prompte Anfrage, weshalb keine Strafanzeige erfolgt sei. Ich hatte auf diese Maßregel verzichtet, weil mir der Missetäter leid tat; denn er war zu der ungeordneten Lebensweise und sittlichen Verkommenheit durch den Mangel an Aufsicht und auch durch die schlechte, feuchte und dunkle Kellerwohnung gekommen. Sein Nachfolger, ein Kupferschmied Prisemuth, der durch das Tragen einer Brille ein ganz gelehrtes Aussehen angenommen hatte, war nicht viel besser. Zuerst hatte ich mit ihm einen unangenehmen Auftritt wegen seiner Frau, mit der er häufig in Zwist lebte. An einem Sonnabend Nachmittag wurde ich nämlich aus der ärztlichen Vorprüfung, die im physiologischen Institut der Universität stattfand, nachhause gerufen, weil mit der Frau des Pförtners ein Unglück passiert sei. Als ich im Institut in der Georgenstraße erschien, war der Pförtner ganz ruhig damit beschäftigt, die Korridore[185] zu säubern, und auf meine erregte Frage, wie es mit seiner Frau stehe, erhielt ich die Antwort: »Dumme Eifersucht, Herr Professor, sie hat mir schon öfter blamiert«. In Wirklichkeit hatte die Frau einen Versuch des Selbstmords durch Trinken starker Salzsäure gemacht und dadurch eine schlimme Ätzung von Mund, Kehlkopf und Speiseröhre davongetragen. Der Herr Gemahl zeigte dafür nicht das geringste Mitgefühl, und als die Frau einige Monate später aus dem Krankenhause zu ihm zurückkehrte, war er scheinbar ganz befriedigt davon, daß sie die Stimme verloren hatte und nur noch wispern konnte. Das war eine interne Familienangelegenheit, die mich zu keiner amtlichen Maßregel berechtigte. Als ich aber 11/2 Jahre später erfuhr, daß der Pförtner trotz strengen Verbots Nachschlüssel vom Haupttor des Instituts an Studenten vermietete, blieb mir nichts anderes übrig, als ihn ebenfalls an die Luft zu setzen, obschon er als Handwerker ganz gewandt war. Von Tiemann wurde er als Diener für sein Privatlaboratorium noch geschätzt und gehalten, bis verschiedene Missetaten auch hier seine Entlassung nötig machten.

Ein anderer Diener, der älteste im Hause, erwies sich ebenfalls als wenig zuverlässig. Er log in der unverschämtesten Weise, selbst wenn man ihn direkt überführen konnte und stand auch als Verwalter der Glasapparate und Chemikalien in dem Ruf der Unzuverlässigkeit. Ich habe deshalb, als er 65 Jahre alt war, seine Pensionierung beantragt, aber es war recht schwer, ihn los zu werden, obschon die gesetzliche Handhabe durch das Alter gegeben war. Schließlich ist er durch die Verleihung des allgemeinen Ehrenzeichens beruhigt worden, und ich habe an diesem Beispiel gesehen, welche große Macht den Staatsbehörden ganz besonders auch bei den Subaltern-Beamten in der Verleihung von Ehrenzeichen und Orden zur Verfügung steht. Die Minderwertigkeit der alten Diener glaubte ich wenigstens zum Teil in der schlechten Beschaffenheit ihrer im Institut befindlichen Dienstwohnung suchen zu müssen. Ich habe deshalb beim Neubau dafür gesorgt, daß die Wohnungen aller Unterbeamten hygienisch ganz einwandfrei und auch in bezug auf Bequemlichkeit, Beleuchtung, Heizung und dergl. behaglich eingerichtet wurden. Seitdem habe ich so traurige Dinge, wie die eben geschilderten, nicht mehr erlebt, und erst während des Krieges mit seiner demoralisierenden Wirkung sind im Verhalten der Diener wieder einige unbequeme Züge hervorgetreten. Ich stimme deshalb dem Urteil von einsichtigen Volkswirten, daß eine gute Wohnung die Menschen bessere und eine schlechte sie ethisch niederdrücke, gerne zu.

Mit den Assistenten des Instituts, deren Zahl mit den Hilfsassistenten und Privatassistenten allmählich wuchs, bin ich fast ausnahmslos recht gut ausgekommen. Sie waren vom Minister immer nur auf zwei[186] Jahre angestellt, aber diese Anstellung ist bei den Herren, die sich der wissenschaftlichen Laufbahn widmen wollten, auf meinen Antrag beliebig oft erneuert worden. Den Wunsch auf Wiederholung der Anstellung habe ich meines Wissens nur ein einziges Mal direkt abgeschlagen, weil der Betreffende sich ungebührlich gegen den Minister selbst benommen hatte.

An der Spitze der Assistenten stand von Anfang an S. Gabriel, der schon unter Hofmann dem Institut 20 Jahre lang erst als Studierender und dann als Assistent angehört hatte. Er ist mir immer ein lieber Kollege und Freund gewesen. Ich benutze deshalb gerne diese Gelegenheit, ihm herzlichen Dank zu sagen für die stets in freundlicher Weise gewährte Hilfe, die er mir so oft bei Erkrankungen oder anderen Verhinderungen sowohl in den Vorlesungen, wie auch in der Verwaltung des Instituts gewährt hat. Da ich auch von seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit überzeugt war, so hätte ich ihm gerne zu einer selbständigen Tätigkeit verholfen, aber allen Empfehlungen zum Trotz ist es nicht gelungen, ihm einen Ruf an eine andere Hochschule zu verschaffen. Erst mit der Entstehung des neuen Instituts war es möglich, ihm eine dauernde Anstellung als Abteilungsvorsteher zu geben, und ich habe später auch dafür gesorgt, daß seine Verdienste um das Institut und den Unterricht durch Verleihung von Orden, des Titels Geheimer Regierungsrat und die Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor in der philosophischen Fakultät anerkannt wurden. Er ist zwar ein Jahr älter, aber mit Rücksicht auf seine gute Gesundheit gebe ich gerne der Hoffnung Ausdruck, daß er mindestens ebenso lange wie ich seine Tätigkeit im Institut beibehalten wird.

Die zwei anderen Assistenten, die ich aus der Hofmann'schen Zeit übernahm, Dr. Richter und Dr. Pulvermacher, sind nach Ablauf von 1–3 Jahren freiwillig aus dieser Stellung geschieden. Vom ersteren habe ich nie mehr etwas gehört. Der zweite war etwa 10 Jahre später Generalsekretär des internationalen Chemikerkongresses zu Berlin. Viel länger ist Dr. C. Harries geblieben. Er war schon bei Hofmann provisorisch Vorlesungsassistent. In der gleichen Eigenschaft erhielt er bei meinem Amtsantritt eine ordentliche Assistentenstelle, wurde später Unterrichtsassistent und im Jahre 1900 bei Eröffnung des neuen Instituts Abteilungsvorsteher für organische Chemie. Nach dem Rücktritt von Claisen folgte er einem Ruf nach Kiel als ordentlicher Professor und Direktor des dortigen Instituts. Vor 11/2 Jahren hat er diese Stellung aufgegeben und sich als Privatgelehrter nach Berlin-Grunewald zurückgezogen. Harries hat seine Doktorarbeit unter Tiemann angefertigt, aber seine selbständigen Versuche begann er zu meiner Zeit, und bei dem dauernden persönlichen und wissenschaftlichen[187] Verkehr, in dem wir jahrelang standen, hat er sicherlich so viel von mir gelernt, daß er wohl auch zu meinen Schülern gezählt werden darf. In der Tat bezog sich auch eine seiner ersten Arbeiten auf das von mir und Besthorn entdeckte sogen. Phenyl-Sulfocarbazin, von dem er nachwies, daß es nicht die von uns vermutete Struktur besitze, sondern den Schwefel im Benzolkern enthalte. Aber die endgültige Erkenntnis seiner Struktur ist ihm auch nicht gelungen. Harries hat im Berliner Institut seine Versuche über die Oxydation von ungesättigten Körpern mit Ozon begonnen, die er später auf den Kautschuk ausdehnte und damit seinen größten wissenschaftlichen Erfolg erzielte.

Die beiden von mir aus Würzburg mitgebrachten Unterrichtsassistenten Dr. Piloty und Dr. Fogh haben verschiedene Schicksale erlebt. Von dem Ersten ist früher schon ausführlich die Rede gewesen. Er hat im Berliner Institut die schönen Versuche über Dioxyaceton, über eine neue Synthese des Glycerins und eine besondere Klasse von Nitrosoverbindungen ausgeführt.

Seine Gattin Eugenie, Tochter von Baeyer, war schon von Würzburg her mit meiner Frau befreundet. Ihr erstes Kind, ein Sohn, wurde in Berlin Weihnachten 1892 geboren, und ich hatte die Ehre, als Pate gewählt zu werden. Er ist leider wie der Vater in dem unseligen Krieg im Westen gefallen.

Dr. Fogh, ein Däne, hat in Berlin wenig Erfolg gehabt. Die in Paris bei Berthelot begonnenen und in Würzburg fortgesetzten thermo-chemischen Versuche ließ er gänzlich liegen. Nach einigen Semestern wurde er auch noch krank, nahm zuerst Urlaub und da es nicht besser wurde, schied er freiwillig aus seiner Stelle. Er ist nach Kopenhagen zurückgekehrt und außer einer Verlobungsanzeige habe ich keine Nachricht mehr von ihm erhalten.

Viel besseren Erfolg hatte der von Würzburg mitgekommene Privatassistent Dr. Lorenz Ach, der mir bei der Untersuchung über Amidoacetaldehyd und die Alkoholglucoside wertvolle Hilfe leistete. Nach Aufgabe dieser Tätigkeit wurde er Unterrichtsassistent in der organischen Abteilung und ich schlug ihm eine gemeinsame Arbeit über die Verwandlung der 1.3-Dimethylpseudoharnsäure, die ich kurz zuvor von einem Studenten hatte darstellen lassen, in die entsprechende Harnsäure vor. In der Tat gelang die Reaktion zuerst durch Schmelzung mit Oxalsäure, die sich auch für die analoge Synthese der Harnsäure als brauchbar erwies. An diese Versuche hat sich später die erste Synthese des Coffeins angereiht. Zuvor aber war Dr. Ach in die Technik übergetreten und zwar in das wissenschaftliche Laboratorium der Firma C.F. Böhringer und Söhne zu Mannheim-Waldhof, dessen Leitung seinem Bruder, dem früher erwähnten Dr. Fritz Ach, anvertraut war. Nach[188] dem frühzeitigen Tode des Bruders ist Lorenz an die Spitze dieses Laboratoriums getreten und hat hier hübsche Erfolge erzielt.

Durch diese persönlichen Beziehungen bin ich auch veranlaßt worden, derselben Firma die technische Ausarbeitung der Coffein-Synthese anzuvertrauen. Die daraus hervorgegangenen Arbeiten werde ich erst später im Zusammenhang mit den allgemeinen Untersuchungen über Purine besprechen.

Nachfolger von Dr. Ach im Privatlaboratorium wurde Dr. Rehländer, ein ebenfalls sehr tüchtiger, gewissenhafter und fleißiger Chemiker. Er hat nicht allein an der Ausarbeitung der Glucosidsynthese, sondern auch an den umfangreichen Enzymversuchen, welche mit dem charakteristischen Verhalten der α-und β-Glucoside gegen Emulsin begannen, regen Anteil gehabt. Er ist später in die Fabrik von Schering eingetreten. Gleichzeitig mit ihm fungierte Dr. Beensch als Privatassistent und ging dann wie die Brüder Ach zu der Firma Böhringer & Söhne. Er wurde im Privatlaboratorium durch P. Hunsalz abgelöst, der länger als gewöhnlich bei mir blieb und namentlich an den Purinsynthesen in hervorragendem Maße beteiligt gewesen ist. Er war in Memel zuhause, stammte aus bescheidenen Verhältnissen und war körperlich ein unansehnlicher Mann, aber klug und außerordentlich fleißig. Seine Neigung, zu hasten und die Versuche zu überstürzen, habe ich schon bei seiner Doktorarbeit über den Hydrazinoaldehyd energisch und auch erfolgreich bekämpft, denn er war später ein recht geschickter Experimentator, der besonders die Kunst sehr schnellen Arbeitens beherrschte. Er war der erste Privatassistent, dem ich mit Rücksicht auf seine Leistungen einen recht erheblichen Zuschuß zum staatlichen Gehalt gewährte. Schließlich kam er auch in das Laboratorium von Böhringer & Söhne, hat sich aber hier anscheinend wegen des Übergewichts der beiden Brüder Ach nicht wohl gefühlt und ist deshalb nach einigen Jahren zur Firma Schering in Berlin gegangen. Hinterher ist mir dieser Entschluß pathologisch vorgekommen; denn er war in Mannheim-Waldhof gut gestellt. In der Tat hat sich auch nicht lange nachher eine Geisteskrankheit entwickelt, die mit körperlichem Zerfall Hand in Hand ging und ihn schließlich in einen freiwilligen Tod geführt hat. Sein trauriges Schicksal ist mir sehr nahe gegangen, weil ich ihn gern hatte. Er selbst war aber durch die Krankheit so scheu geworden, daß er mich während seiner Anstellung bei Schering niemals mehr besuchte, sondern im Gegenteil jeder Begegnung auswich. Alles das war offenbar der Vorbote der schweren Krankheit.

Ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so schweres Schicksal hatte Dr. Giebe, der mehrere Jahre Assistent in der Vorlesung war und mit dem ich eine ziemlich ausgedehnte Untersuchung über die Bildung der[189] Acetale aus Aldehyd und Alkohol bei Gegenwart von Salzsäure ausgeführt habe. Er war damals schon herzkrank, hätte aber mit dem Leiden sicherlich noch sehr lange leben können. Unglücklicherweise besaß er den Ehrgeiz, Soldat zu werden und trat deshalb gegen den Willen der Ärzte als Freiwilliger in ein Jägerbataillon ein. Infolge des anstrengenden Dienstes mußte er aber schon nach mehreren Monaten entlassen werden, und er ist etwa 1/2 Jahr später fast gleichzeitig mit seinem Vater gestorben. Er war ein sehr tüchtiger, strebsamer und hoffnungsvoller junger Mann, dessen frühzeitiges Ende mir auch sehr leid getan hat.

Viel besser hat sich der Privatassistent Dr. Pinkus gehalten, der anfangs Hilfsassistent, aber von 1897/98 ab ordentlicher Assistent im Privatlaboratorium war. Er hat die Versuche über die verschiedenen isomeren Formen des Acetaldehyd-Phenylhydrazons ausgeführt und war mir eine besonders treffliche Hilfe in der Verwaltung des Instituts. Als ich ihm diese anbot, erklärte er mir, daß er nicht die geringste kaufmännische Erfahrung besitze und niemals ein Buch geführt habe. Ich vertraute aber doch seiner Veranlagung und es zeigte sich in der Tat, daß er all diese Dinge, man könnte sagen, instinktiv vernünftig und zweckmäßig besorgte. Er hat das Laboratorium geradezu vor manchen unnützen Ausgaben geschützt. Später ist er zu Nölting nach Mühlhausen gegangen, um sich in der Farbenchemie umzusehen und dann als Chemiker in die Actiengesellschaft für Anilinfabrikation zu Berlin eingetreten. Er hat diese später wieder verlassen, um sich selbständig zu machen.

Einen sehr tüchtigen Nachfolger für Hunsalz erhielt ich 1897 in Dr. Hübner, gebürtig aus Kreuznach, ein sehr verständiger ruhiger und gewissenhafter Chemiker. Er hat bei mir die schwierigen Versuche über das freie Purin und seine Methylderivate durchgeführt und mir auch bei der Abfassung der Biographie von A.W. von Hofmann, von der ich den wissenschaftlichen Teil übernommen hatte, in den Herbstferien 1898 während 3 Wochen stenographische Hilfe geleistet. Er bekleidet jetzt bei den Farbwerken zu Höchst eine angesehene Stellung.

Außer den Assistenten fanden immer einige Studierende, die ihre Doktorarbeit ausführten, im Privatlaboratorium Platz. Ich erwähne davon den späteren Direktor einer Schwefelsäurefabrik zu Duisburg Dr. Haenisch, den späteren technischen Direktor der Zellstoffabrik zu Waldhof Dr. Hans Clemm, den späteren Landwirt Dr. Kopisch, den jetzigen Professor der Pharmazie zu London Dr. Crossley.

Als besondere Gäste des Privatlaboratoriums sind zu verzeichnen Dr. Robert Pschorr und Fräulein Hertha von Siemens. Der erste hatte sich schon im Jahre 1892 bei mir in Würzburg als Student[190] angemeldet, änderte aber seinen Entschluß, als er hörte, daß ich im Oktober nach Berlin übersiedle, weil München und Berlin diejenigen Städte seien, die er während der Studienzeit vermeiden müsse. Statt dessen ging er zu Knorr nach Jena und promovierte auch dort. Im Herbst 1895 kam er aber zu mir nach Berlin, und ich konnte ihm einen gerade frei gewordenen Platz im Privatlaboratorium überlassen. Er hat hier nach eigenen Plänen über Synthese von Phenanthrenderivaten gearbeitet, aber von mir doch manchen guten Rat empfangen. Nach 11/2 jähriger eifriger und erfolgreicher Arbeit kündigte er mir an, daß er jetzt zusammen mit dem jungen Dr. Meister eine Weltreise unternehmen wolle. Ich riet davon ab mit der Begründung, daß man solche langen Reisen wohl zu ernsten Zwecken, aber nicht nur zur Unterhaltung als sogen. Globetrotter unternehmen solle. Da aber alle Vorbereitungen schon getroffen waren, so ließ er sich nicht abhalten und kehrte auch glücklicherweise unbeschädigt an Körper, Geist und Arbeitslust nach etwa 2/3 Jahren zurück, um seine chemischen Untersuchungen zunächst wieder im Privatlaboratorium fortzusetzen. Bald nachher heiratete er ein Fräulein aus Frankfurt a.M. Durch den täglichen und vertrauten Verkehr im Laboratorium habe ich ihn rasch lieb gewonnen; denn er ist ein feiner, gut gebildeter Mann, musikalisch, auch zu hübschen Gelegenheitsgedichten in bayerischer Mundart befähigt und sehr bereit, anderen Leuten Hilfe zu gewähren oder eine Freude zu machen. Bei der Übersiedlung ins neue Institut konnte ich ihm eine Assistentenstelle anbieten, und als Harries nach Kiel berufen wurde, übernahm er die Stelle eines Abteilungsvorstehers, bis er im Frühjahr 1914 als Nachfolger von Liebermann an die technische Hochschule zu Charlottenburg kam. Seit Ausbruch des Krieges steht er im Felde, z. Zt. als Major im bayerischen Heere, und bei der Jubiläumsfeier der chemischen Gesellschaft erhielt er als früherer Redakteur der Berichte auf meinen Antrag den Titel Geheimer Regierungsrat.

Fräulein von Siemens war die erste Frau, die als Praktikantin in das chemische Institut aufgenommen wurde. Sie war mir von Anton Dohrn, dem Schöpfer der zoologischen Station zu Neapel, mit dem sie befreundet war, warm empfohlen. Sie hatte schon verschiedene naturwissenschaftliche Fächer studiert und wollte sich nun in Chemie, besonders dem organischen Teil, unterrichten, um später in Neapel biologische Studien anstellen zu können. Sie war damals schon 29 Jahre alt, und da sie wohl keine Zeit gehabt hatte, die Chemie von Grund aus zu betreiben, so nahm ich sie für ein Wintersemester ins Privatlaboratorium, wo sie organische Präparate und einige Analysen ausführte und der speziellen Fürsorge von Dr. Hübner anvertraut war. Sie nahm die Sache recht ernst, aber natürlich war es auch ihr nicht möglich, im[191] Fluge eine so schwierige Wissenschaft wie die Chemie zu bewältigen, zumal ich sie wegen Platzmangel nicht länger wie ein Semester im Privatlaboratorium behalten konnte. Ihren Dank für den genossenen Unterricht brachte sie dadurch zum Ausdruck, daß sie mehrere jüngere, unverheiratete Assistenten wiederholt in die von ihr und ihrer Mutter bewohnte prächtige Villa zu Charlottenburg einlud. Auf diese Weise machte sie auch die Bekanntschaft von Dr. Harries, der sie im Herbst 1899 heiratete. So ist sie der Chemie dauernd treu geblieben und hat ihr Interesse an unserer Wissenschaft später durch reichliche Gaben insbesondere auch zugunsten des Kaiser Wilhelm-Instituts für Chemie bekundet. Sie ist eine vornehme Frau, die vielleicht Gutes geleistet hätte, wenn sie früher in die Wissenschaft gekommen und dauernd dabei geblieben wäre.

Seitdem sind viele Frauen in unser Institut gekommen und während des Krieges haben sie sogar die Mehrheit unter den Praktikanten erreicht. Genau so wie bei den jungen Männern sind ihre Leistungen außerordentlich verschieden. Es gibt darunter oberflächliche, auch leichtfertige Elemente, die sich mehr zur Schau oder zur Unterhaltung in die Hörsäle und Institute drängen. Aber die Mehrzahl, besonders von den deutschen Frauen denken doch ernster, und unter den Mädchen, die in den letzten Jahren das Institut besuchten, habe ich 2 oder 3 kennen gelernt, die guten Chemikern an Leistungen ganz gleich zu stellen waren. Trotzdem habe ich mich von der Zweckmäßigkeit des Frauenstudiums in der Chemie nicht überzeugen können, weil die Erfahrung lehrt, daß die Mehrzahl der studierten Frauen und gerade die besten später heiraten und dann gewöhnlich nicht mehr imstande sind, ihren Beruf auszuüben. Sobald das eintritt, sind Geld und Arbeit, die für das Studium aufgewandt wurden, verloren, und dasselbe gilt für die große Mühe, welche die Dozenten der Chemie in den Laboratorien für den Unterricht aufwenden müssen. Für die Zeit des Krieges und vielleicht auch noch für einige Jahre des Friedens mag ja wohl die Hilfe der Frau in der Chemie unentbehrlich sein, weil die Männer fehlen. Auch die Gefahr der Verheiratung ist augenblicklich geringer geworden, aber sobald wieder normale Verhältnisse eintreten, wird voraussichtlich meine obige Ansicht von neuem zu Recht kommen. Ich hoffe deshalb, daß in Zukunft das Studium der Frau sich mehr auf die Fächer beschränkt, wo weibliche Gelehrte ein wirkliches Bedürfnis decken können. Das ist der Fall in gewissen Zweigen der Medizin und vor allen Dingen in dem Lehrberuf; denn ich erwarte, daß auch bei uns die Zeit kommen wird, wo man den Unterricht in der Volksschule und Mittelschule, auch für die Knaben bis etwa zum Alter von 11–12 Jahren, vorzugsweise der Frau anvertraut, ohne dabei Gefahr zu laufen, eine zu feminine männliche Jugend heranzuziehen.[192]

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten zwei Männer in die Reihe der Assistenten ein, die sich zu meiner Freude der anorganischen Chemie widmen wollten, und die auch später auf diesem Gebiete die schönsten Erfolge erzielt haben. Sie waren beide in unserem Institut herangebildet. Der eine war der Schwabe Otto Ruff, absolvierter Apotheker, aber im Besitz des Abituriums und bei uns vollständig als Chemiker ausgebildet. Seine Dissertation führte er als Organiker unter Piloty aus, fand dann selbständig einen Abbau der Zucker, der einfacher als das ältere Wohlsche Verfahren ist. Etwas später habe ich mit ihm noch eine kleine Arbeit über die Konfiguration der Xylose und den synthetischen Übergang von der Mannit- zur Dulcitreihe publiziert. Dann hat er sich fast ausschließlich mit anorganischen Aufgaben beschäftigt, wozu ich ihn auch gewissermaßen verpflichtet hatte, als er im Oktober 1897 eine Unterrichtsstelle in der analytischen Abteilung übernahm. Er ist hier 1900 Oberassistent und im Frühjahr 1903 Abteilungsvorsteher geworden. 11/2 Jahre später wurde er ordentlicher Professor der anorganischen Chemie an der neugegründeten Hochschule zu Danzig und ist jetzt in gleicher Eigenschaft an der technischen Hochschule zu Breslau tätig. Ruff ist ein begabter, sehr fleißiger und energischer Chemiker, der keine Mühe scheut, schwierige experimentelle Arbeiten zu unternehmen und durchzuführen. Auch als Lehrer genießt er guten Ruf. Von seiner Neigung, für seine Überzeugung zu kämpfen, habe ich einmal im Interesse des Instituts Nutzen gezogen. Bei dem Neubau war nämlich bei Bestellung von kleinen Rollwagen zum Transport von Chemikalien innerhalb des Instituts versäumt worden, einen Kostenanschlag einzufordern. Infolgedessen lieferte die betreffende Firma zwei für uns unbrauchbare Wagen und stellte dafür eine übertrieben hohe Rechnung aus. Dadurch entstand ein Prozeß, den Ruff mit Vergnügen und komischer Tatkraft für das Institut führte und auch glänzend gewann. Seine Freude am Disput hat ihn auch hier und da in Streit mit den Altersgenossen gebracht. Ich selbst habe in ihm aber stets einen verständnisvollen und zu jeder nützlichen Tätigkeit bereiten Mitarbeiter gefunden. In Anerkennung seiner eifrigen experimentellen Forschung hat es mir Freude gemacht, ihm wiederholt Geldunterstützungen für seine Arbeiten von Seiten der Akademie der Wissenschaften oder aus anderen Quellen zu verschaffen.

Der zweite Anorganiker war Alfred Stock, der im Oktober 1898 zunächst Vorlesungsassistent wurde. Auch er hat als Organiker promoviert, was seiner experimentellen Ausbildung nicht schädlich gewesen ist. Stock ist ein Berliner Kind und hatte sich schon im Friedrich Werderschen Gymnasium sehr ausgezeichnet, so daß ihm von dort ein dreijähriges Stipendium für die Studienzeit gewährt wurde. Er war[193] auch als Vorlesungsassistent sehr brauchbar und darauf bedacht, neue Experimente zu finden oder die alten zu verbessern, bezw. zu verschönern. Als seine Neigung zur anorganischen Chemie sicher war, riet ich ihm im Herbst 99, zu Moissan nach Paris zu gehen und verschaffte ihm für diesen Zweck vom Kultusministerium ein Reisestipendium. Er hat auch Moissan so gut gefallen, daß er mich im Frühjahr 1900 ersuchte, Stock ein weiteres halbes Jahr bei ihm zu lassen. Im Spätsommer 1900 kam dann Stock von Paris zurück, dankerfüllt gegen Mois san, der ihn so freundlich aufgenommen und belehrt hatte, auch als Kenner von einzelnen Methoden und Apparaten, die in Frankreich üblich und in Deutschland kaum bekannt waren. Z.B. sind wir so in den Besitz der so bequemen Quecksilberwanne gekommen, die von Berthelot, Moissan und anderen französischen Gelehrten benutzt wurde und wegen ihrer Größe ein recht bequemes Arbeiten mit Gasen gestattet. Leider verlangt sie auch eine ziemlich kostspielige Quecksilberfüllung.

Nach seiner Rückkehr hat sich Stock ausschließlich der anorganischen Chemie gewidmet, durchlief die übliche Stufenleiter im Institut als Unterrichtsassistent und Abteilungsvorsteher und wurde 1909 als ordentlicher Professor der anorganischen Chemie an die technische Hochschule zu Breslau versetzt. Einige Jahre später erhielt er die Ernennung zum ordentlichen Professor und Direktor des chemischen Instituts an der Universität zu Münster. Damit wurde nach langen Jahren zum ersten Mal wieder eine ordentliche Professur der Chemie einem Anorganiker anvertraut und zwar ohne die Verpflichtung, die Elementarvorlesung über organische Chemie mitzulesen. Bevor aber Stock das neue Amt antrat, gab Willstätter seine Stellung am Kaiser Wilhelm-Institut für Chemie auf, um als Nachfolger von Baeyer nach München zu gehen. Stock bewarb sich nun um diese Stelle und wurde von dem Verwaltungsrat unter denselben Bedingungen wie Willstätter ernannt. Inzwischen war der Krieg ausgebrochen und Stock, der noch im wehrpflichtigen Alter stand, übernahm alsbald kriegswissenschaftliche Arbeiten. Auch die Räume im Kaiser Wilhelm-Institut mußte er abtreten, da sie für den Gaskampf in Anspruch genommen wurden, und so kehrte er denn für die Dauer des Krieges in unser Institut zurück. Stock ist ein sehr geschickter Experimentator und im Bau von wissenschaftlichen Apparaten dürfte er die erste Stelle unter den jüngeren Chemikern Deutschlands einnehmen. Den Beweis dafür liefert die glänzende Untersuchung über die Verbindungen des Wasserstoffes mit Silizium und Bor. Zudem ist er ein ausgezeichneter Redner und ich glaube nicht, das irgend ein anderer deutscher Chemiker ihm in der Gestaltung der anorganischen Experimentalvorlesung gleichkommt. Es ist mir deshalb eine große Beruhigung, daß er mich jetzt in dieser Vorlesung[194] vertritt und dadurch den chemischen Unterricht in Berlin vor weiterem Niedergang schützt. Wenn Stock im zukünftigen Frieden so weiter arbeitet wie bisher, so wird er vermutlich einer der hervorragendsten Vertreter der anorganischen Chemie in der Welt werden.

Im Wintersemester 1899/1900, dem letzten im alten Institut, erhielt noch Otto Diels eine Assistentenstelle. Er hatte zuvor seine Doktorarbeit unter meiner Leitung ausgeführt und wurde Nachfolger von Stock, zunächst als Vorlesungsassistent. Von ihm stammt die neue Fassung des Vorlesungsbuches, die er als gewandter Zeichner mit vielen hübschen Illustrationen geschmückt hat. Er ist der Sohn des klassischen Philologen und jetzigen Sekretärs der Akademie der Wissenschaften, und war ebenso wie seine Brüder von vornherein entschlossen, wenn irgend möglich, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Er ist später Unterrichtsassistent in der organischen Abteilung und nach dem Weggang von Pschorr dessen Nachfolger als Abteilungsvorsteher geworden. Inzwischen hat er sich in der Wissenschaft einen geschätzten Namen durch die Entdeckung und systematische Untersuchung des Kohlensuboxyds gemacht. Während des Krieges wurde er Nachfolger von Harries in Kiel, nachdem W. Traube den zuvor an ihn ergangenen Ruf abgelehnt hatte. Diels ist ein guter Experimentator und auch als Lehrer recht beliebt. Er hat mehrere Jahre für mich die Vorlesung über anorganische Chemie gehalten und auch einen in Berlin viel gebrauchten Grundriß der organischen Chemie geschrieben. Mir war er alle Zeit ein lieber Schüler und Kollege.

Mit der Eröffnung des neuen Instituts in der Hessischen Straße, das ungefähr dreimal so viel Arbeitsplätze hatte, wie das alte Haus und in technischer Beziehung viel vollkommener ausgestattet ist, wuchs natürlich die Zahl der Assistenten und gleichzeitig wurden drei Abteilungsvorsteherstellen geschaffen. Zwei davon fielen den beiden Leitern der analytischen Abteilung zu und die dritte wurde für die organische Chemie bestimmt. Das entsprach der räumlichen Einteilung des Instituts in vier gleich große Unterrichtssäle, von denen einer gleichsam als Abteilung von mir selbst besorgt worden ist.

Die ersten Abteilungsvorsteher waren Gabriel und Harries. Die dritte Stelle wurde provisorisch von Ruff verwaltet, der zu dem Zweck die Stelle eines Oberassistenten erhielt und 1903 zum Abteilungsvorsteher aufstieg. Unter den neuen Assistenten befanden sich auch der früher schon erwähnte R. Pschorr, ferner Dr. Lehmann, der sich namentlich um den Neubau Verdienste erwarb und später in die Farbenfabriken vorm. F. Bayer & Co. zu Elberfeld eintrat, endlich Dr. A. Wolfes und Dr. Poppenberg. Wolfes hat als mein Privatassistent bei den Arbeiten über Aminosäuren und Polypeptide vortreffliche Dienste geleistet.[195] Er nahm auch teil an den Versuchen über Veronal, und das war wohl der Grund, weshalb er im Jahre 1903 von der Firma E. Merck in Darmstadt für das wissenschaftliche Laboratorium angeworben wurde, nachdem er zuvor sein militärisches Dienstjahr abgeleistet hatte. In dieser Stellung hat er sich sehr bewährt und wird von der Firma als treuer und tüchtiger Mitarbeiter ebenso sehr geschätzt, wie das von mir geschehen.

Während des Krieges ist er Leutnant in einem Infanterieregiment geworden und trotz seines anscheinend nicht starken Körpers hat er die großen Strapazen des Feldzuges an der Westfront gut vertragen.

Poppenberg war Unterrichtsassistent in der analytischen Abteilung. Er ist später Lehrer und Professor an der Artillerieschule zu Charlottenburg geworden, hat sich auch wissenschaftlich mit Erfolg auf artilleristischem Gebiet betätigt und während des Krieges mehrere in sein Fach einschlagende Erfindungen gemacht. Leider verlor er in der jetzigen Stellung bei der Ausführung einer Stickstoffanalyse durch einen Tropfen Kalilauge ein Auge.

Im Winter 1900/01 trat auch Dr. Rohmer in die Reihe der Assistenten ein und blieb einige Jahre in der analytischen Abteilung, wo er verschiedene kleine Erfindungen, z.B. Verbesserung der Arsenbestimmung durch Destillation als Arsen-Trichlorid machte. Er ist dann in den Dienst der Höchster Farbwerke getreten und hat hier als technischer Erfinder schöne Erfolge gehabt.

Zur selben Zeit war Dr. Franz, Sohn des Wirten vom Siechenbierhause, mein Vorlesungsassistent.

Ein Mann von besonderem Typ war Dr. Wolf von Loeben, Sprosse einer adeligen Offiziersfamilie in Sachsen. Er hatte sein Doktorexamen bei Behrend in Hannover über die γ-Methylharnsäure ausgeführt und war dann kurze Zeit Mitarbeiter bei den thermo-chemischen Untersuchungen von Stohmann in Leipzig gewesen. Er hat bei mir zunächst eine kleine Arbeit in der Harnsäuregruppe ausgeführt und wurde dann zunächst Hilfsassistent in der thermo-chemischen Abteilung, die ich im neuen Institut eingerichtet hatte. Es war mir sehr bequem, daß er hierfür die Erfahrungen aus dem Stohmann'schen Laboratorium mitbrachte. Die Resultate unserer gemeinsamen Versuche sind in einigen Abhandlungen in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie niedergelegt. Loeben war ein behaglicher Sachse, der sich persönlich allgemeiner Beliebtheit erfreute, aber übermäßige Arbeit nicht liebte und deshalb auch vor der chemischen Industrie zurückscheute. Statt dessen bekam er die Stelle eines Assistenten in einer wissenschaftlichen Versuchsanstalt des Reichsschatzamtes, die unter Leitung des Professors K. von Buchka stand. Hier ist er kurz vor dem Kriege infolge[196] einer Pyämie an einer kleinen Wunde gestorben. Trotz seiner persönlichen Gutmütigkeit war er politisch ein ausgesprochener Chauvinist und stellte sich als solcher an die Spitze einer Opposition in der chemischen Gesellschaft, welche die Wahl von Sabatier zum Ehrenmitglied aus politischen Gründen bekämpfte. Ich mußte ihm damals ziemlich scharf entgegentreten, was aber ohne Einfluß auf unser freundschaftliches persönliches Verhältnis geblieben ist.

Neben den ordentlichen Assistenten haben im neuen Hause immer einige Hilfsassistenten, teils besoldet, teils unbesoldet an meinen Arbeiten im Privatlaboratorium teilgenommen. Dahin gehören die Herren Dr. Bethmann und Dr. Hagenbach, ein Sohn des bekannten Professors der Physik an der Universität Basel. Sie sind beide später in die Höchster Farbwerke eingetreten und Dr. Hagenbach hat sich hier durch gute Leistungen eine recht geachtete Stellung geschaffen.

In derselben Eigenschaft war Dr. E. Frankland Armstrong, Sohn des Professors Henry Armstrong in London, mehrere Jahre bei mir tätig, nachdem er zuvor eine Untersuchung in der Puringruppe ausgeführt hatte, und daraufhin von der Berliner Fakultät zum Dr. phil. promoviert worden war. Er ist ein spekulativer und auch experimentell gut veranlagter Chemiker, der bei mir ziemlich schwere Versuche über die Synthese von Disacchariden und die Bereitung von Acetohalogen-Glucose durchgeführt hat. Leider ist die Existenz der isomeren als α- und β-Verbindung bezeichneten Acetochlor-Glucosen durch meine späteren Beobachtungen sehr zweifelhaft geworden und bei der Überführung unserer ursprünglichen Präparate in α-Methylglucosid, die als Beweis für die Struktur des vermeintlichen α-Halogenkörpers gedient hatte, muß entweder ein Irrtum passiert oder eine zufällige Änderung der Konfiguration eingetreten sein.

Armstrong hat später ein hübsches Büchlein über die einfachen Kohlenhydrate geschrieben, das von Dr. Eugen Unna ins Deutsche übersetzt wurde. Er hat ferner in London interessante Versuche über die Spaltung der α- und β-Glucoside mit Enzymen angestellt, mußte aber, weil er früh heiratete, wahrscheinlich aus materiellen Gründen eine Stellung in der Industrie annehmen, was seinen rein wissenschaftlichen Arbeiten natürlich Abbruch tat.

Von den neuen Assistenten des Wintersemesters 1901/02 sind Dr. Georg Röder und Dr. Alfred Dilthey besonders zu nennen. Ersterer hat bei mir die Synthese des Uracils, Thymins und ähnlicher Verbindungen nach neuen Methoden ausgeführt. Er ist ein begabter und auch theoretisch gut unterrichteter Chemiker, der sicherlich sehr hübsche Sachen hätte machen können, wenn er die nötige Ausdauer besessen hätte. Er hat es aber vorgezogen, nach einigen Semestern das Laboratorium[197] zu verlassen und auf Reisen zu gehen. Von Zeit zu Zeit tauchte er wieder in Berlin auf und wußte dann Interessantes über seine Erlebnisse zu berichten. Wenn ich nicht irre, hat er mehrere fremde Kontinente kennen gelernt und zuletzt war er im Laboratorium von Piutty in Neapel als Unterrichtsassistent tätig. Hier wurde er durch den Krieg verscheucht, kehrte nach Berlin zurück und wurde dann bald Soldat. Wie ich höre, hat er durch Vermittlung seiner chemischen Freunde bald bei einem A.O.K. eine Anstellung gefunden, wo er trotz seines niedrigen militärischen Ranges seine vielfachen chemischen und technischen Kenntnisse glücklich verwerten konnte.

Alfred Dilthey war der jüngste Sohn meiner verstorbenen Schwester Mathilde, schon als Knabe bildhübsch und aufgeweckt. Nachdem er ein Semester in Genf studiert hatte, kam er im Herbst 1895 nach Berlin und blieb hier mehrere Jahre. Da er nur das Abiturium von einer Oberrealschule hatte und die Berliner Fakultät in solchen Fällen geneigt war, Schwierigkeiten zu machen, so ging er auf meinen Rat zur Promotion zu Hantzsch nach Würzburg. Dann diente er als Einjährig-Freiwilliger in Düsseldorf in einem Ulanenregiment und kehrte 1901 nach Berlin zurück. Hier nahm er im Privatlaboratorium teil an meinen Arbeiten über die Amidbildung bei alkylierten Malonestern und an den Synthesen von alkylierten Barbitursäuren, von denen das Veronal ein bekanntes Schlafmittel geworden ist. Da er zur wissenschaftlichen Laufbahn keine Lust hatte, so machte er 1902 eine Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika und kehrte von dort 3/4 Jahre später, leider ziemlich heftig an Malaria erkrankt, zurück.

Er hat lange gebraucht, um sich zu erholen und ließ sich später in Berlin nieder, um ein eigenes Geschäft zu gründen. Meinen Rat, in eine der bestehenden chemischen Fabriken einzutreten oder sich an der blühenden Baumwollspinnerei seines Vaters und Bruders in Rheydt zu beteiligen, lehnte er ab, und bei den eigenen Geschäftsunternehmungen blieb er ohne Erfolg. So ist es gekommen, daß dem talentvollen, klugen und auch fleißigen jungen Mann eine richtige Lebensstellung, die seinen Fähigkeiten und seinen materiellen Mitteln entsprochen hätte, unerreichbar blieb. Er ist in dieser Beziehung, wenn man will, ein Opfer seiner Vorliebe für die Großstadt geworden. Beim Ausbruch des Krieges zog er ins Feld. Hier ist er als Offizierstellvertreter mit seiner Kolonne im Sommer 1915 von Kosaken überfallen und niedergemacht worden. Er ruht in polnischer Erde.

Solange er in Berlin weilte, war er regelmäßig an Sonn- und Festtagen mein Gast und bemühte sich, die jüngeren Vettern, meine Söhne, in allen Künsten männlicher Jugend, wie Kartenspiel, Weintrinken, Sportgeschichten, studentische Angelegenheiten, Tanzfragen, Verkehr[198] mit Damen und dergl. heranzubilden. Die Jungen lauschten, besonders solange sie noch auf der Schule waren, mit Staunen und Hochachtung seinen Lehren und die vier jungen Leute bildeten ein durch Lustigkeit und Eintracht ausgezeichnetes Quartett. Es kam mir manchmal so vor, als wenn Alfred Dilthey mit zu meinen Söhnen gehörte. Von diesen vier prächtigen Menschen ist infolge des unseligen Krieges nur einer übrig geblieben.

Gleichzeitig mit Dilthey waren im Privatlaboratorium drei Herren, die trotz der Verschiedenheit ihres Wesens gute Freundschaft miteinander hielten und auch zu ausgelassenen Streichen sich öfters vereinten. Der unternehmendste davon war Dr. Theodor Dörpinghaus aus Elberfeld, ein schöner, durch körperliche Kraft ausgezeichneter Mann, in mancherlei Sport geübt und zu abenteuerlichem Leben geneigt. In der Chemie zeichnete er sich weniger durch Feinheit der Beobachtung, als durch schnelles, energisches Anfassen der experimentellen Aufgaben aus. Er hat die erste ziemlich mühsame Hydrolyse von Horn und ähnlichen Proteinen durchgeführt. Später ist er auf Reisen gegangen und hat sich nicht allein in Amerika und Asien, sondern auch ziemlich lange in Zentral-Afrika und Marokko aufgehalten. Die Frucht der letzten Reisen war eine Anklageschrift gegen die Verwaltung des belgischen Kongostaates, die einiges Aufsehen erregte. Seit Ausbruch des Krieges habe ich nichts mehr von ihm gehört, vermute aber, daß er tätigen Anteil genommen hat und ohne Schaden davon gekommen ist; denn in Überwindung von Gefahren hat er immer Geschick gezeigt und Glück gehabt. In der letzten Zeit seines Berliner Aufenthaltes war er zusammen mit seinen Freunden Dr. Ernst Königs und Eduard Andreae Besitzer eines alten Segelbootes, auf dem er alle freien Tage des Sommers zubrachte und uns auch zuweilen auf dem Wannsee seine Wasserkünste vorführte.

Dr. Peter Bergell, der Sohn eines mecklenburgischen Landwirten, ist Mediziner. Bevor er zu mir kam, war er Assistent an der Klinik der inneren Medizin zu Breslau. Infolge guter Vorstudien fand er sich rasch in unsere Arbeitsweise und hat bei mir die Isolierung der Aminosäuren als Derivate der β-Naphtalinsulfosäure bearbeitet. Mit Hilfe dieses Reagens gelang uns zum ersten Mal schon 1902 der Nachweis, daß bei gemäßigter Hydrolyse des Seidenfibroins ein Dipeptid, das Glycylalanin, entsteht. Nach dem Verlassen unseres Instituts wurde Bergell zuerst der medizinische Berater einer Fabrik für pharmazeutisch-chemische Präparate in Berlin. Später ist er zur reinen Medizin zurückgekehrt und hat augenblicklich eine umfangreiche Praxis als Spezialist für Stoffwechselkrankheiten. Seine Freunde rühmten ihm große Gewandtheit in geschäftlichen Dingen nach.[199]

Neuerdings ist er unter die Schriftsteller gegangen und hat ein viel gelesenes Buch »Die linke Landgräfin« herausgegeben, in dem er das Problem der Bigamie behandelt.

Ganz anders geartet war Dr. Hermann Leuchs, eine stille Gelehrtennatur, ausgezeichnet durch Schweigsamkeit, Ruhe und Ernst. Er stammt aus einer Fabrikantenfamilie zu Nürnberg, kam anfangs des Jahrhunderts nach Berlin und führte unter meiner Leitung eine Doktorarbeit über die Synthese von Oxyaminosäuren aus. Ihre schönste Frucht war die künstliche Bereitung des Serins und Glucosamins. Die Geschicklichkeit und Sorgfalt, die er dabei bewies, war für mich die Veranlassung, ihn als Privatassistenten bei den schwierigen Arbeiten über Polypeptide zu wählen. Nachdem er hier zwei Jahre lang vortreffliche Dienste geleistet hatte, wurde er Unterrichtsassistent in der organischen Abteilung und schließlich nach dem Weggang von Diels dessen Nachfolger als Abteilungsvorsteher.

Leuchs ist ein grundgescheiter Chemiker und sehr geschickter Experimentator. Das beweisen seine späteren Untersuchungen besonders über den Abbau der Strychnosalkaloide. Ich hoffe, daß sie ihm in nicht allzu langer Zeit eine selbständige Stellung bringen werden.

Zusammen mit Dr. Dilthey haben diese drei jungen Männer im Privatlaboratorium trotz eifriger und auch erfolgreicher Arbeit ein vergnügtes Leben geführt, das sich zuweilen bis zu ausgelassenen Streichen steigerte. Besonders war das der Fall, als ich im Winter 1903/04 wegen Schlaflosigkeit Berlin für mehrere Monate verließ und mich in den Alpen herumtrieb. Da erwachte bei der Jugend ein starkes Selbständigkeitsgefühl, das sich zuerst in Erfindungen und Patentanmeldungen äußerte, die aber hinterher alle als wertlos erkannt wurden. Daneben kam es zu allem möglichen Schabernack. So wurde dem Dr. Bergell ein ganzer Waschkorb frischer Eier, die er für einen wissenschaftlichen Versuch benutzen wollte, heimlich gekocht und dadurch natürlich ihrem ursprünglichen Zweck entzogen. Ferner gab es eine freundschaftliche Rauferei unter den großen, meist sehr starken Herren, bei der Dr. Bergell einen Teil seines Bartes verlor und Dörpinghaus durch einen Fußtritt ins Gesicht beinahe ein Auge verloren hätte. Man wird daraus den Schluß ziehen, daß es im Privatlaboratorium auch andere Dinge als reine Wissenschaft gab, besonders wenn meine Abwesenheit von Berlin die Gefahr der Überraschung ausschloß. Glücklicherweise war damals das weibliche Element noch nicht bei uns eingedrungen. Sonst hätten schwierige Komplikationen entstehen können.

Gleichzeitig mit den eben genannten Herren waren in der anorganischen Abteilung zwei neue Assistenten ernannt worden, Dr. Blix, ein Schwede, und Dr. Arthur Stähler, ein Berliner. Blix hatte[200] zuvor mit mäßigem Erfolg in Berlin promoviert, aber es wurde ihm experimentelle Geschicklichkeit von dem Leiter der Abteilung nachgerühmt. Dazu kam seine stattliche Persönlichkeit und sein gewinnendes Wesen. Aber spätere Schwierigkeiten mit anderen Assistenten zeigten doch, daß er nicht aus lauter Sanftmut zusammengesetzt war, und er hat die Assistentenstelle vor Ablauf der üblichen zwei Jahre wieder aufgegeben. Er ist dann nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika gegangen und hat dort, wie ich indirekt erfuhr, in der Zuckerindustrie eine glänzende Stellung erworben.

Dr. Stähler ist als Anorganiker bei der Wissenschaft geblieben. Auf meinen Vorschlag wurde er vom Kultusminister 1906 zu Th. W. Richards an die Harvard-University in Cambridge (Mass.) geschickt und hat dort ungefähr ein Jahr an den bekannten Atomgewichtsbestimmungen teilgenommen. Infolgedessen wurde er der vertraute Helfer von Richards, als dieser im Sommer 1907 als Austauschprofessor nach Berlin kam. Aus diesem Verkehr sind verschiedene gemeinsame Publikationen von Ri chards und Stähler über Atomgewichte hervorgegangen, und Stähler hat die Versuche später allein fortgesetzt, sich außerdem aber mit präparativen Aufgaben der Mineralchemie beschäftigt. Nach Ausbruch des Krieges ist er in die Dienste der Kriegsmetall-Gesellschaft getreten und leitet seit mehreren Jahren ein analytisches Laboratorium in Brüssel und zuletzt in Cöln a. Rh.[201]

Quelle:
Fischer, Emil: Aus meinem Leben. Berlin 1922, S. 181-202.
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