IV

Ich werde Zirkusdirektor und Dompteur

[66] Auf etwas merkwürdige und doch ganz folgerichtige Weise kam ich dazu, auch in die große Armee des fahrenden Volkes einzutreten – ich wurde Zirkusdirektor. Als die großen Ceylonschauen zu Ende waren, saß ich mit einer ganzen Elefantenherde da, ohne zu wissen, was mit ihr anzufangen sei. Jeden Tag verlangten die Tiere ihr gemessen Teil Nahrung, und nicht zu knapp. Da war es nicht mehr als billig, daß sie es sich selbst erarbeiteten, zumal im Tierhandel flaue Zeiten herrschten und ich auf etwas Neues sinnen mußte, um das fressende Kapital irgendwo nutzbringend anzulegen. Schließlich kam ich auf den Gedanken, einen neuen Zeltzirkus auf amerikanische Art zusammenzustellen und auf die Reise zu schicken. Die Mühe, das Ungemach und die Schwierigkeiten, die mit der Zusammenstellung dieses Unternehmens verbunden waren, will ich mir nicht wieder ins Gedächtnis rufen. Endlich aber war eine gute Gesellschaft von Artisten beisammen, Tierbändiger von Ruf, prachtvolle Kunstreiter-Gesellschaften, und für den Humor war Tom Belling verpflichtet, den die Berliner im Zirkus Renz »August« getauft hatten und der unter diesem Namen zu einem Begriff zu werden versprach. Meine schöne Elefantenherde und verschiedene Gruppen dressierter Tiere konnten sich überall sehen lassen, und in der Seitenschau zeigte ich meine Singhalesenkarawane. Mit diesem Programm wurde »Hagenbecks Internationaler Circus und Singhalesenausstellung« am 2. April 1887 auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg eröffnet.

Es kommt vor, daß Unternehmungen, auf die viele Mühe verwendet worden ist, mit einem Krach enden. Mit meinem Zirkus war es umgekehrt. Er begann mit einem Krach, und zwar pünktlich zur Premiere mit einem fürchterlichen Orkan, der innerhalb sechzig Minuten den ganzen Zeltbau völlig zerstörte. Als der Sturm[67] hereinbrach, befand ich mich mitten in der Manege unter der Zirkuskuppel. Plötzlich zerriß eine Bö knatternd die Leinwand, ein klaffender Riß fuhr durch das Zeltdach, und einer der großen Maste knickte zusammen. Ich wäre beinahe erschlagen worden, denn nur drei Fuß von mir entfernt schlug der Mastbaum mit voller Wucht zu Boden. Der Zirkus glich einer Trümmerstätte. Noch benommen von dem Zusammenbruch, wühlte ich mich zwischen Tauwerk und zerrissener Leinwand hervor und sah meine Artisten, die mit Tränen in den Augen fassungslos das vermeintliche Ende des Zirkus Hagenbeck betrachteten. Ich selbst hatte das Gefühl, als seien mir plötzlich alle Felle weggeschwommen. Aber dann raffte ich mich auf. Nur Schnelligkeit und Energie konnten hier helfen. Mit Donnerstimme forderte ich die Leute auf, Hand ans Werk zu legen, und griff selbst mit solchem Feuereifer zu, daß die Bergungsarbeiten mit vereinten Kräften binnen zwei Stunden beendigt waren. Bei einem Erholungstrunk feuerte ich meine Leute nochmals an, mich nach Kräften zu unterstützen, um den Schaden wieder wettzumachen. Die Tiere und die Völkerschau brachte ich inzwischen zu meinem Tierpark am Neuen Pferdemarkt, und in wenigen Tagen hatten wir mit Hilfe von Hamburger Schiffszimmerleuten die Segelschiffsmasten für das Zelt errichtet und alles wieder so weit repariert und geflickt, daß wir zur zweiten Eröffnung fertig waren. Es klappte auch ganz famos, obgleich meine Ausstattung, wie man sich denken kann, im Vergleich zu dem damaligen Zirkus Renz oder gar Barnum & Bailey mehr als bescheiden war. Dagegen konnten sich meine Artisten und besonders die Tiergruppen nebst der Ceylonschau wohl sehen lassen. Die Presse hob immer wieder die junge Rosita de la Plata hervor, die mit ihrer Schwester Dolinda in ihren Pirouetten und im Salto mortale Staunenerregendes leistete. Der Negerdompteur Thompson mit seinen sieben Elefanten, die Singhalesen, darunter ein Liliputanerpaar von unter einem Meter Größe, die vierzehn Arbeitselefanten, die Udaky- und Teufelstänzer – um nur einiges herauszugreifen – erregten immer wieder das Interesse des Publikums, das uns in allen Städten von der[68] Stunde an umlagerte, in welcher der Zirkussonderzug eingetroffen war und die mit Tierköpfen geschmückten roten Raubtierwagen, die farbenprächtigen Kolonnen von Tieren, Menschen und Material zu dem Platz zogen. Fast drei Jahre reiste der Zirkus in Deutschland. Viel Seide wurde bei diesem Unternehmen allerdings nicht gesponnen. Die Anschaffungskosten für das rund 3000 Personen fassende Spielzelt, für die Stallungen und den Wagenpark waren groß gewesen. Es fehlte noch an Erfahrung, und die Motorisierung steckte eben noch in den Kinderschuhen. Wenn ich an die Gas- und Öllampenbeleuchtung denke, an die stets damit verbundene Feuergefahr und an den ständigen Ärger mit den Lokomobilen, dazu die Abhängigkeit von Wind und Wetter und die enormen Unkosten des Sonderzuges von 32 Waggons, so wird man mir glauben, daß die jährlichen Reisen durch vierzig bis sechzig Städte in mir den Wunsch auslösten, diesen Geschäftszweig zunächst wieder aufzugeben, zumal ich mein Ziel erreicht hatte. Ich hatte mich durchgeschlagen, und so verkaufte ich 1889 meinem bisherigen Manager Drexler das Geschäft gegen Abzahlung, während Barnum & Bailey die Dressurgruppen für Nordamerika erwarben. Die Erfahrungen und neuen Kenntnisse, die ich als Zirkusdirektor gesammelt hatte, bekam ich noch in den Kauf. Zwar hatte ich in meinem Schwager Heinrich Mehrmann, dem später bekannt gewordenen Dompteur, eine gute Hilfe, aber ständig mußte ich bei ausgebrochenen Streitigkeiten als Deus ex machina1 erscheinen, um die Geschichte wieder ins Lot zu bringen.

Unter dem Artistenvölkchen, das die Welt umzieht, sind ganz gewiß sehr viele ehrliche und achtbare Leute. Das Leben auf der Landstraße bringt aber auch Leute hervor, die zu regieren nicht immer zu den schönsten Aufgaben gehört. Ich erinnere mich da eines »August«, der ein ganz guter Arbeiter, aber ein furchtbarer Nörgler und Hetzer war. Bei der Auflösung meines Unternehmens kam der Kerl zu mir und flehte mich unter Tränen an, ihm doch das[69] Pony zu schenken, auf dem sein Sohn Kunstsprünge zu zeigen gewohnt war. Nur so würde er wieder ein Engagement bekommen. Er wußte alles so bewegt darzustellen, daß ich ihm auf sein Bitten und Betteln das Pony schenkte ... Stehenden Fußes eilte der gute Mann fort und verkaufte es an einen Grünhöker!

Während meines Zirkuslebens begann ich einen Plan auszuführen, der mir schon seit meinen Knabenjahren vorgeschwebt hatte. Obgleich ich durchaus nicht gesonnen bin, mein Licht als Geschäftsmann unter den Scheffel zu stellen, so muß ich doch bekennen, daß ich in erster Linie Tierliebhaber bin. Es ist unmöglich, ein Unternehmen wie das meinige zu betreiben, ohne ein Tierfreund zu sein. Im stillen hatte ich schon lange den Gedanken erwogen, ob es nicht möglich sei, mit der alten, grausamen Tierdressur zu brechen und an ihrer Stelle eine humane einzuführen. Die Tiere sind Wesen wie wir selbst, und ihre Intelligenz ist nicht der Art, sondern nur dem Grade und der Stärke nach von der unsrigen verschieden. Sie reagieren auf Bosheit mit Bosheit und auf Freundschaft mit Freundschaft. Längst hatte ich gefunden, daß durch Liebe, Güte und Beharrlichkeit, gepaart mit Strenge, auch von einem Tiere mehr zu erreichen ist als durch rohe Gewalt. Zudem war mir durch den jahrelangen intimsten Umgang mit den Tieren bekannt, daß auch bei ihnen die Begabungen, die Charaktere und das Temperament verschieden sind. Nichts ist also verkehrter, als alle über einen Kamm zu scheren. Wie Menschen, wollen auch sie individuell behandelt werden, denn nur so kann man ihr Zutrauen erwerben und ihre Fähigkeiten wecken.

Wer zu dieser Überzeugung gelangt war, den mußte es schmerzen, seine Lieblinge mit Peitsche, Gabeln und glühenden Eisenstangen mißhandelt zu sehen, denn im wesentlichen beschränkte sich die Tierdressur auf diese Hilfsmittel. Während ich mit meinem Zirkus reiste, hielt ich die Zeit für gekommen, um im Ernst an die Einführung der »zahmen Tierdressur« zu gehen. Durch scharfe Auswahl der Intelligentesten sollte geeignetes Material geschaffen werden, die auserwählten Exemplare aber sollten dann durch Rücksichtnahme[70] auf die Eigenart jedes Tieres zu Freunden, nicht zu Feinden gemacht werden.

Zufällig lernte ich Ende der siebziger Jahre in England den hannoverschen Tierdresseur Deyerling kennen. Von einem Löwen böse zugerichtet, war er gerade aus dem Hospital entlassen und stellungslos. Ich verpflichtete ihn unter der Bedingung, daß er die Schulung der Tiere nur nach meiner Angabe ausführen dürfe. Deyerling willigte ein, und die erste Probe wurde an keinem geringeren gemacht als an Seiner Majestät dem Löwen. In den Jahren 1887 bis 1889 schaffte ich zu diesem Zwecke nicht weniger als einundzwanzig Löwen an. Aus dieser großen Zahl erwiesen sich nur vier als brauchbar. Das ist gewiß ein außerordentlicher Beweis für die große individuelle Verschiedenheit gleichartiger Tiere, aber ein Beweis auch, wie man zugeben wird, wie ungeheuer kostspielig ein derartiger Versuch war. Die Löwen, nur mit der Peitsche aufgemuntert, gescholten, wenn sie nachlässig, gelobt und mit Fleischstückchen belohnt, wenn sie gut arbeiteten, bequemten sich zu allen möglichen Tricks: sie nahmen verschiedene Stellungen auf Pyramiden, Stühlen und Böcken ein, und zum Schluß fuhr der Dresseur sogar in einem zweirädrigen, mit drei Löwen bespannten altrömischen Rennwagen viermal in voller Karriere durch den vierzig Fuß im Durchmesser spannenden Zentralkäfig – eine nie gesehene Sensationsnummer!

Drei Monate lang war Deyerling mit seinem Löwengespann das Tagesgespräch von Paris, wo er Abend für Abend im »Neuen Zirkus« seine Dressurnummer mit dieser triumphalen Rundfahrt krönte. Von Paris aus begann er eine Rundreise durch alle europäischen Hauptstädte, und ich selbst schnitt mit dieser Gruppe von 1889, ihrem Erscheinungsjahr, bis 1892 so großartig ab, wie ich es vorher mit irgendwelchen anderen Unternehmungen nie gekannt hatte. Schon sann ich auf die Zusammenstellung weiterer zahmer Tiergruppen, und diesmal galt es einem bedeutenden Zweck. Die große Weltausstellung sollte 1893 in Chikago eröffnet werden. Als ich nun eines Tages den amerikanischen Konsuln von Hamburg und[71] Bremen die Deyerlingsche Löwengruppe vorführen ließ, unterstützten diese Herren meinen Plan, der dahin zielte, in Chikago mit einem ganzen zoologischen Zirkus zu erscheinen. Leicht schreiben sich diese Worte hin, und doch decken sie eine unendliche Summe von Arbeit, Schwierigkeiten und Hindernissen. Wichtiger als alles andere waren zunächst tüchtige Leute, welche zugleich Tierfreunde und mutige Menschen sein mußten. Mein Schwager Heinrich Mehrmann, den ich schon als Leiter meines Zirkus erwähnt habe, schien mir die erforderlichen Qualitäten zum Tierdresseur zu besitzen. Als ich ihm meinen Vorschlag rundheraus mitteilte, machte er ein sehr verblüfftes Gesicht und sprach die klassischen Worte: »Willst du mich uzen?« – »Ich habe dir meine aufrichtige Meinung gesagt«, antwortete ich, »vorausgesetzt, du hast Lust und Courage dazu. Da du ein großer Tierliebhaber bist, so denke ich, die Sache wird sich gut machen lassen.« Mehrmann besann sich nicht lange. – »Wenn du Vertrauen zu diesem Unternehmen hast«, sagte er, »dann können wir es ja probieren.«

Binnen kurzem war alles für den Versuch vorbereitet. Ich hatte eine Anzahl verschiedener junger Tiere zusammengebracht und in meinem Garten provisorisch einen größeren Käfig hergerichtet. Dieser sah Mehrmann zum erstenmal in der Rolle eines Dompteurs. Während der ersten drei Wochen half ich meinem Schwager, um ihm die nötigen Anweisungen zu geben. Allerdings meinte er schon nach zehn Tagen, wenn ich ihm einen guten Wärter an die Hand gäbe, wolle er schon allein fertig werden.

Die Gruppe, die ich zusammengestellt hatte, war nicht klein und besaß wegen der Verschiedenartigkeit der Tiere sogar einen sensationellen Zug. Sie bestand aus zwölf Löwen, zwei Tigern, einigen Jagdleoparden, zwei Kragenbären und einem Eisbär. Alle diese unruhigen Elemente mußten wir erst aneinander gewöhnen, wir mußten sie lehren, sich miteinander zu vertragen – eine schwierige Aufgabe, die wir aber derartig praktisch durchführten, daß die Tiere schon nach vierzehn Tagen friedlich nebeneinander spielten und anfingen, sich zu befreunden. Ein amüsantes und interessantes[72] Bild gewährte es, die Tiere während ihrer Spielstunden in dem großen Käfig herumtoben zu sehen. Mitten in dem Getümmel hielt sich dann der neue Dresseur mit seinem Wärter auf, um hier und da die Grobiane, die aus Scherz Ernst machen wollten, mit einer langen dünnen Peitsche zur Vernunft zu bringen. Im übrigen wurde die Peitsche nie gebraucht, sondern alles Wünschenswerte ausschließlich durch Güte und Belohnung erreicht: Fleischstückchen für die Katzen, Zucker für die Bären!

Schneller als erwartet werden konnte, war die Gruppe im Winter 1890 schon so weit dressiert, daß ich daran denken konnte, Engagements einzugehen. Im Frühling des folgenden Jahres hielten wir unseren Einzug im Londoner Kristallpalast2, wo wir statt in den altertümlichen Tierschauwagen in einem großen, modernen Zentralkäfig unsere Vorstellungen gaben, der einen Durchmesser von vierzig Fuß hatte. Die Londoner waren begeistert, und zwei anwesende Amerikaner boten mir sofort auf den Tisch des Hauses 50000 Dollar. Ich schlug aus, da ich mit dieser Nummer nach Chikago zu gehen gedachte, und ahnte nicht, daß ich in diesem Augenblick 200000 Mark ins Wasser geworfen hatte.

Als meine Tiere nämlich in Hamburg eintrafen, waren sie alle an Rotz erkrankt, und der sofort hinzugezogene Tierarzt, mein Freund Köllisch, wandte alle Hilfe vergeblich an. Wenig half es mir, festzustellen, daß der gewissenlose Schlachter in London den Schaden durch schlechtes Fleisch angerichtet hatte. Meine armen Tiere starben unter schrecklichen Qualen, und ich erwies den unrettbar Verlorenen die Wohltat eines schnellen Gifttodes, denn ich vermochte den Anblick ihrer Leiden nicht länger zu ertragen.

Wie sollte ich eine ähnliche glänzende Gruppe für die Weltausstellung zusammenbringen? Zwar besaß ich noch eine kleine Gruppe von zwei jungen Königstigern, einigen Bären und einem[73] halben Dutzend Löwen. Wie aber dieses Ensemble so schnell vervollständigen, daß es noch für die Weltausstellung in Betracht kommen konnte? Telegraphisch forderte ich von Indien junge Tiger an, die im Frühling 1892 eintrafen. Aber sie brachten kein Glück. Einer hatte den grauen Star, der andere war auf der Überfahrt von den Matrosen so viel gereizt worden, daß mit ihm nichts anzustellen war. Der Rest war fehlerlos, aber noch zu jung. Der Tod schien in meinem Tiergarten sein Standquartier aufschlagen zu wollen. Höchstens zwei Monate blieben die Tiere gesund, dann bekamen sie plötzlich Erbrechen und Durchfall, schließlich Krämpfe und gingen nach einer Krankheit von wenigen Tagen ein. Eine Gruppe nach der anderen verlor ich auf diese Weise, und wie sehr wir auch hin und her sannen und experimentierten – das Sterben nahm seinen Fortgang. Alle Jungtiere gingen ein. Ältere Tiere erkrankten zwar auch, kamen aber mit dem Leben davon. Viel später entschleierte der große Würger sein entsetzliches Gesicht: Im August 1892 brach in Hamburg die Cholera aus, die größte Katastrophe, die meine Heimatstadt seit dem großen Brand Anno 1842 heimsuchte!

Mehr brauche ich kaum zu bemerken. Die Sense, die im Hochsommer in der Menschenwelt Tausende und aber Tausende wie reife Ähren hinmähte, hatte schon mehrere Monate früher meine jungen Tiere gestreift. Eine schlimme Zeit. Die großen Verluste drückten mich sehr nieder. 70000 Mark hatte ich verloren und war am Ende meines flüssigen Kapitals angelangt. Mit Hilfe eines wohlwollenden Bankiers gelang es mir, für das Chikagoer Unternehmen einen Kredit aufzunehmen, und so kaufte ich denn von meinem Bruder Wilhelm drei schöne Dressurgruppen, die gerade »fertiggestellt« worden waren. Auch die kleine Gruppe, die mir selbst übriggeblieben war, hatte in zwischen unter Mehrmanns Händen den nötigen Schliff erhalten. So fuhr ich am 16. August 1892 mit dem Dampfer »Augusta Viktoria« nach New York, wo mir bei meiner Landung in Hoboken die Zeitungsjungen als erstes die Schreckenstelegramme vom Ausbruch der Hamburger Cholera entgegenschrien. Die amerikanische Presse entwarf, an sensationelle[74] Berichterstattung gewöhnt, schon die entsetzlichsten Bilder von dem Massensterben in Hamburg. Zunächst wollte ich sofort zurückkehren, verwarf jedoch bei ruhiger Überlegung diesen Gedanken, da ich ja doch nicht helfen konnte, reiste nach Chikago und kehrte nach Abschluß des Weltausstellungskontraktes am 7. September mit dem Lloyddampfer »Lahn« nach Bremen zurück. Ein Hamburger Schiff stand nicht zur Verfügung, denn die vier Hapagdampfer lagen sämtlich in Quarantäne3. Als wir an diesen Schiffen vorüberfuhren und von den zurückgehaltenen Passagieren durch Tücherschwenken begrüßt wurden, sank eine trübe Stimmung auf mich nieder. Wie würde ich meine Lieben daheim wiederfinden?

Als ich am 16. September in Hamburg eintraf, vernahm ich von meiner Frau zur großen Freude und Beruhigung, daß in der Familie alles wohl und munter sei. Welch ein Anblick aber, als ich durch die Stadt fuhr. Die Straßen menschenleer und tot. Viele Fenster verhängt und die Läden geschlossen, an manchen Türen die dunklen Zeichen der Trauer. So hatte ich meine Vaterstadt nie gesehen. Der Eindruck war erschütternd, und ich schäme mich nicht, es zu gestehen, daß mir während der ganzen Fahrt die Tränen aus den Augen rannen.

Über allem, was mit der Expedition nach Chikago zusammenhing, abgesehen von den unermeßlichen Erfolgen der Schaustellung, schwebte ein Unstern. Kaum befand ich mich drei Wochen in Hamburg, als meine amerikanischen Geschäftsteilhaber mir telegraphierten, ich bekäme nur dann die Erlaubnis zur Einfuhr meiner Tiergruppen, wenn ich sie so schnell wie möglich nach England brächte und das ganze Unternehmen bis zum Frühjahr dort stationierte. Die amerikanische Regierung hielt diese Vorsichtsmaßregel für geboten, um die Einschleppung der Cholera durch mich und meine Tiere zu verhüten. Na, das war ja eine nette Bescherung! Diese neue Hiobspost wirkte wie ein Donnerschlag. Ohne Zeitverlust galt es aber jetzt, in England einen geeigneten Platz für[75] die Überwinterung der Tiere ausfindig zu machen. Da fiel mir die Tower-Gesellschaft in Blackpool ein, mit der ich befreundet war. Ohne Besinnen reiste ich nach Blackpool und erwirkte von der Tower-Gesellschaft die Erlaubnis, auf ihrem Gelände ein provisorisches Gebäude aufzuschlagen, in dem ich die armen Tiere bis zum Frühling lassen konnte. In drei Wochen war der Bau fertiggestellt. Über Grimsby zogen wir dann mit rund 1000 Tieren ins Winterquartier und warteten den Frühling ab. Welche ungeheuren Kosten entstanden aber durch diese erzwungene Quarantäne! – Um dem Leser einen ungefähren Begriff zu geben, will ich nur bemerken, daß der Amerikatransport mit dem Umweg über England allein 100000 Mark Mehrkosten verursachte. Schließlich reiste ich Anfang März 1893 über New York nach Chikago, wo ich am 20. März eintraf.

Unter den großen Weltausstellungen nimmt die von Chikago in vielen Beziehungen den ersten Platz ein. In der großen, brausenden Hauptstadt des Westens herrschte ein richtiges Ausstellungsfieber. Das amerikanische Spekulantentum ist wohl nie so üppig in Blüte geschossen wie hier. Rund um den großen Hydepark, wo sonst der feuerrote Sumach4 im Sonnenbrand träumte, nun aber die vielgestaltige Ausstellung emporwuchs, regten sich tausend Hände. Die Hotels aus Fachwerk, die da emporgehastet wurden, nahmen den Zahlen nach riesige Ausmaße an. In und außerhalb der Ausstellung herrschte eine unbezähmbare Bauwut. Geld schien gar keine Rolle zu spielen. Alles wurde mit den kühnsten Hoffnungen auf die Zukunft honoriert. Vielleicht noch nie war es den Architekten und Künstlern in solchem Maße in die Hand gegeben gewesen, ihre Träume zu verwirklichen. Das Verwaltungsgebäude mit seiner goldenen Kuppel war wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht. In dem langgestreckten »Manufacturers Building« mit dem »größten Dach der Welt« feierte die Expansionslust der Amerikaner, die ja immer nach dem Größten und Gewaltigsten strebten,[76] einen wahren Triumph. Von den blauen Fluten des Michigansees aus gesehen, glich das Ganze einer wunderbaren Zauberlandschaft. Nicht weniger als fünfhundert große Gebäude bedeckten den unermeßlichen Platz. Drüben in der sogenannten »Midway Plaisance«, der Vergnügungsstraße dieser Weltausstellung, reckten sich schon die Eisenteile des Riesenrades in die Luft; das Deutsche Dorf, das Irländische Kastell, die Internationale Schönheitsschau und das Türkische Café waren schon im Bau. Die sensationellste Sehenswürdigkeit war von Anfang an und ward es später in größtem Maßtstabe: Hagenbecks Zoologische Arena.

Als ich vier Wochen vor der Eröffnung in Chikago eintraf, bekam ich jedoch einen gewaltigen Schreck. Ganz im Gegensatz zu den Berichten meiner Partner war das für die Arena bestimmte Gebäude kaum zur Hälfte fertig. Streiks und schlechtes Wetter wurden als die Hauptursachen der Verzögerung angegeben. Mit aller Macht drang ich darauf, daß die Arbeit durch Einstellung weiterer Arbeiter beschleunigt wurde, damit die Tiere, die unter Obhut Heinrich Mehrmanns Mitte April in einem Sonderzug in Chikago eintrafen, wenigstens ein Obdach finden sollten. Leider war es in diesem Frühjahr außerordentlich kalt. Im Innern der halbfertigen Gebäude herrschte eine wahrhaft frostige Temperatur, die vielen Affen und Papageien das Leben kostete. Ehe die Ausstellung noch eröffnet werden konnte, hatte ich durch Tierverluste schon 2000 Dollar Schaden und durfte es als Glück betrachten, daß wenigstens die Dressurtiere gesund blieben.

Wenig ahnte ich, daß die Eröffnung der Weltausstellung für mich noch ein eigenartiges Probestückchen in Bereitschaft hielt. Als wir noch eine Woche vor der Premiere waren, erkrankte mein Schwager Mehrmann plötzlich an Typhus und mußte in ein Krankenhaus gebracht werden. Mir fiel das Herz in die Schuhe! – In zwei Tagen sollte eine große Generalprobe und Pressevorstellung vor der Ausstellungskommission und vor den Vertretern der aus allen Teilen der Staaten herbeigeeilten Zeitungsverlage stattfinden. Hier war nichts zu machen, ich mußte selbst in den Käfig![77]

Schwarz gekleidet, nur mit einem spanischen Rohr versehen, betrat ich den großen Zentralkäfig und hielt zunächst eine Ansprache, in welcher ich die Sachlage erklärte und darauf aufmerksam machte, daß der eigentliche Dresseur krank im Bette läge und ich schon seit fünf Monaten nicht mehr mit den Tieren in Berührung gekommen sei. Ich wolle zwar mein möglichstes tun, sollte jedoch die Vorstellung nicht ganz den gehegten Erwartungen entsprechen, so möge man das in Anbetracht der Umstände verzeihen. Nun öffnete ich die Tür zum Gitterlaufgang, und die Tiere sprangen unter Knurren und Fauchen in den Käfig. Die Löwen, Tiger, Bären nahmen ihre gewohnten Plätze ein. Der Wärter trug die nötigen Requisiten heran, und die Vorstellung begann. Man kann sich denken, daß ich völlig in meiner Aufgabe aufging und alle Energie und Umsicht in die Ausführung der Dressurproben legte. Zu meiner größten Freude wickelte sich eine Nummer noch schöner als die andere ab, unter endlosem Applaus nahm die Vorstellung ihren Fortgang und wurde schließlich zu einem großen Erfolg. Als der letzte Tiger den Zentralkäfig verlassen hatte, brach der Beifallssturm erst recht los. Dreimal wurde ich unter nicht enden wollendem Jubel in die Manege zurückgerufen. Die Ausstellungskommission stattete mir ihre Glückwünsche ab, und von allen Seiten umringten mich die Reporter, bestürmten mich mit Fragen, um am nächsten Tage spaltenlange, bildgeschmückte Sensationsberichte zu bringen.

Mit der Aufnahme meines Zirkusunternehmens konnte ich also zufrieden sein. Es bildete von dem Tage an die hervorragendste Attraktion und das Ziel der Tausende von »Midway Plaisance«. Die große Tiergruppe führte ich nur kurze Zeit vor. Alsbald übernahm Richard Sawade, den ich als bisherigen Hauptwärter inzwischen aufs beste angelernt hatte, die Tiere, und in der fünften Woche war ihr eigentlicher Meister Heinrich Mehrmann glücklicherweise so weit genesen, daß er seine Gruppe selbst vorführen konnte. Nach einigen Wochen steigerten wir den Erfolg durch eine weitere triumphale Dressurleistung. Deyerling war es gelungen, vier Löwen vor seinem römischen Rennwagen zu dressieren, und[78] allabendlich umkreiste dieses königliche Viergespann unter grenzenlosem Beifall der Zuschauer das Manegenrund! Eine Tiernummer, wie sie seitdem nie wieder im Roten Ring gezeigt wurde! Der Dompteur Philadelphia zeigte weiter seinen ersten Löwen zu Pferd, Willie Judge großartige Elefantendressuren, während Clown Beketows dressierte Schweine wahre Lachstürme hervorriefen.

Leider erwiesen sich meine amerikanischen Partner nicht als das, wofür ich sie gehalten hatte.5 Mit diesen Leuten, rein als Unternehmer betrachtet, war auch nicht der geringste Staat zu machen. Wären sie meinen von der Erfahrung diktierten Anweisungen gefolgt, so hätte das Fünffache verdient werden können. Trotzdem schloß das Unternehmen noch ganz zufriedenstellend für mich ab. Daß das verdiente Geld fast bis zum letzten Cent in Amerika blieb, steht auf einem anderen Blatt. Nach Schluß der Ausstellung ließ ich mich nämlich verleiten, eine neue Partnerschaft einzugehen. Diesmal sah ich mich besser vor und glaubte mich durch einen vorsichtigen Vertrag genügend gesichert zu haben. Prosit Mahlzeit! Der Zirkus, der unter meinem Namen eine Rundreise durch die USA machte, geriet, während ich in Europa weilte, durch schlechte Leitung der Geschäfte in Schulden, und es kam zum Krach. Wer darin saß, war ich. Das Geschäft lief unter meinem Namen. Mich machte man verantwortlich. Kurz, die Sache endete damit, daß ich 38000 Dollar los wurde, und das war so annähernd der Betrag, den ich in Chikago verdient hatte.

So endete die amerikanische Rundreise. Im Sommer 1895 kam mein Zirkusmaterial nach Hamburg zurück. Gastspielreisen mit den Dressurgruppen nach Basel, Straßburg, Kopenhagen schlossen sich unter Mehrmanns Leitung an. Nach einem Winterquartier in Nizza gingen wir 1896 wieder auf Deutschlandreise, die in dem großen Erfolg auf der Berliner Gewerbeausstellung gipfelte. Zur zweiten Weltausstellung der USA in St. Louis erbaute ich 1904 in[79] Zusammenarbeit mit einigen amerikanischen Geschäftsfreunden jenes monumentale Gebäude auf dem höchsten Punkte des Weltausstellungsgeländes: »The Zoological Paradise and Trained Animal Circus«6. Gewaltige, zwan zig Meter hohe Portale verkündeten den Namen Hagenbeck, dessen rühriger Vertreter bereits mein jüngster Sohn Lorenz war. Sein Arbeitsfeld war der Zirkus, mit dem wir Nord- und Südamerika bereisten und am Mississippi wie am Rio de la Plata große Erfolge hatten.

Fußnoten

1 Deus ex machina (lat.): plötzlich auftauchender Helfer (eigentlich: »Der Gott aus der Maschine«, Begriff aus der Welt des antiken Theaters)


2 Der Londoner Kristallpalast war das Glanzstück der ersten Weltausstellung von 1851, der erste große Stahlglasbau. Seitdem diente er Ausstellungen und Großveranstaltungen. Er wurde 1940 durch Bombentreffer beschädigt.


3 Quarantäne: Landsperre wegen der Gefahr der Seucheneinschleppung.


4 Sumach: Färberbaum, mit giftigem Saft; die Blätter enthalten Farbstoffe zum Gerben und Färben.


5 Hagenbecks amerikanische Erfahrungen reihen sich würdig an die Schwindeleien Barnums, nur mit dem Unterschied, daß er diesmal selbst der Leidtragende ist. Dementsprechend fällt sein Urteil jetzt schärfer aus.


6 »Zoologisches Paradies und Dressurtierzirkus«


Quelle:
Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen. Leipzig 1967, S. 80.
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