Achtes Kapitel.
Der internationale Verband der Chemiker.

[261] Eine kleine Internationale. Auf der Naturforscherversammlung in Kassel (III, 224) traf ich mit dem Genfer Kollegen Ph. A. Guye zusammen, den ich schon seit Jahren als selbständigen Mitarbeiter im fruchtbaren Felde der physikalischen Chemie von ferne kennen gelernt hatte. Zur Förderung unserer Wissenschaft im Französischen Sprachgebiet hatte er eine entsprechende Zeitschrift gegründet, die ich seinerzeit mit aufrichtiger Herzlichkeit als Mitarbeiterin am gemeinsamen Bau begrüßte. Guyes persönliche Forschungen zeichneten sich durch Selbständigkeit der Gedanken und Genauigkeit der Ausführung aus und es war mir ein Vergnügen gewesen, auf ihre Bedeutung in der »Zeitschrift« gelegentlich der Berichterstattung hinzuweisen.

Die persönliche Begegnung verstärkte den angenehmen Eindruck. Er war ein langer schlanker, ja magerer Mann mit südlich dunkelbraunem kurzem Haar und Bart, von lebhaftem und gewinnendem Wesen, das den Eindruck größter Aufrichtigkeit machte. Er erzählte mir, wie er zur physikalischen Chemie gekommen war. Seine chemische Erziehung war wie die aller Zeitgenossen eine »organische« gewesen. Damals lehrte in Genf der[262] vorzügliche Chemiker Graebe, der Mitentdecker der künstlichen Krappfarbstoffe, dessen Assistent Guye wurde. In dieser Eigenschaft entdeckte er beim Aufräumen der Bücher ein etwas verstaubtes und gänzlich unaufgeschnittenes Exemplar von Ostwald, Lehrbuch der Allgemeinen Chemie. Der ungewohnte Titel reizte seine Neugier, er nahm das Werk nach Hause, las es fast in einem Zuge durch und war für sein ganzes Leben der neuen Wissenschaft gewonnen, wie er mir mit herzlichem Ausdruck versicherte.

Gleichzeitig befand sich in Kassel William Ramsay, der zu einem der großen Vorträge eingeladen war. Er kannte Guye schon und hatte sich mit ihm nahe befreundet. So waren wir drei viel beisammen und waren egoistisch genug, uns etwas von der großen Menge abzusondern, um ungestörter plaudern zu können.

Zu uns gesellte sich dann van't Hoff, der etwas später eintraf und von uns freudig begrüßt wurde. Er war von seinen zwei eben erwachsenen Töchtern begleitet, ebenso wie Ramsay von der seinen; leider hatte ich die meinen zu Hause gelassen. Wir verabredeten ein gemeinsames Mittagessen; für die Mädchen waren Blumen da und es entwickelte sich eine jener seltenen Stimmungen absoluten Behagens, fröhlichster Hingabe an den Augenblick, die jedem Teilnehmer dauernd im Gedächtnis bleiben. Ramsay, der nüchterne Schotte, erhob begeistert sein Glas und sagte mit schwingender Stimme und glänzenden Augen: es lebe die Freundschaft!

Als ich später an dies kleine lichte Erlebnis zurückdachte, kam mir in den Sinn, daß es wohl symbolisch genommen werden durfte. Jeder von uns vieren gehörte einem anderen Volke an, und dennoch hatte sich unter den Tausenden der Versammelten schwerlich eine Gruppe gebildet, die sich enger verbunden fühlte, als wir. Der[263] Zusammenschluß der Chemiker aller Länder schien mir das natürliche und notwendige Ziel zu sein, dem jeder von uns zustrebte. Und da der Weg von der theoretischen Einsicht zum Versuch der praktischen Gestaltung bei mir nicht weit war, hielt ich Ausschau nach entsprechenden Möglichkeiten.

Ein organisatorischer Hauptgedanke. Hierbei kam mir in den Sinn, was mir vor kurzem der bedeutende Belgische Staatsmann A. Beernaert gesagt hatte. Ich hatte ihn in Brüssel auf einem Kongreß der internationalen Verbände kennen gelernt und wir hatten uns trotz der großen Verschiedenheiten des Alters und der Weltanschauung zueinander hingezogen gefühlt. Er war 1829 geboren, also fast ein Vierteljahrhundert älter als ich und hielt sich politisch zur klerikalen Partei. Da aber zurzeit sein Hauptinteresse sich auf Fragen der Organisation richtete – er war Mitglied der Haager Friedenskonferenz und Inhaber des Nobelpreises für seine internationale Betätigung – so war mir sein freundliches Entgegenkommen nach dem Vortrage, den ich auf jener Brüsseler Versammlung gehalten hatte, in hohem Maße erwünscht. Gelegentlich eines Essens in seinem Hause verwickelte er mich in ein längeres Gespräch und erzählte mir unter anderem folgendes. Er hatte schon vor vielen Jahren sich um die Schaffung irgendeiner auf Seeschifffahrt bezüglichen internationalen Einrichtung bemüht, jedoch ohne Erfolg. Nur war späterhin die Anregung dergestalt wirksam geworden, daß sich in den einzelnen Hafenstädten solche Einrichtungen gebildet hatten, die in den entsprechenden Ländern zu nationalen Verbänden zusammengetreten waren. Als er nun unternahm, diese nationalen Verbände international zu organisieren, war es nach kurzer Frist gelungen. Seitdem, fügte er hinzu, habe ich nie mehr versucht, solche Dinge vom internationalen Ende her anzufangen. Der Anfang muß lokal[264] und dann national entwickelt sein; dann erst kann man an die internationale Zusammenfassung denken.

Auf mich hatte dies kostbare Stück praktischer Organisatorik einen sehr starken Eindruck gemacht und ich hatte mir vorgenommen, es jedenfalls anzuwenden, wenn ich derartige Aufgaben zu lösen haben würde. Eine solche Gelegenheit trat ein, als sich mir jener Gedanke darstellte, eine Gesamtorganisation aller Chemiker der Welt herbeizuführen.

Die chemische Reichsanstalt. Auch diese Aufgabe hatte ich aus begrenzteren Problemen entwickelt. Von Amerika war ich 1906 mit dem Gedanken zurückgekehrt, daß auch für die Chemie eine vom Unterricht ganz befreite Forschungsanstalt notwendig ist, ähnlich wie sie die Physik in der physikalisch-technischen Reichsanstalt schon lange besaß. Diese war 1887 durch Werner Siemens gegründet und mit einem reichlichen Vermögen ausgestattet worden; seinen großen Freund Helmholtz hatte er mit der Organisation betraut und zum ersten Präsidenten ernennen lassen. Ich hatte bereits auf meiner ersten Europareise (I, 187) die junge Reichsanstalt besucht und dort einen Kollegen mit der gleichen Aufgabe beschäftigt gefunden, die ich für meine Zwecke bereits gelöst hatte, nämlich einen Thermostaten zu erbauen. Die schnelle und gute Entwicklung der Anstalt hatte ich mit lebhaftestem Interesse verfolgt, da sie die erste und lange die einzige derartige Einrichtung war. Erst lange hernach wurden die entsprechenden Institute in Amerika und England gegründet, die gleichfalls der Physik gewidmet waren.

Die zusammenfassenden und auf allgemeine Begriffe gerichteten Arbeiten, mit denen ich meine chemische Tätigkeit beendete, zeigten mir eine große Anzahl von Aufgaben, deren Bearbeitung durch zufällige Einzelforscher nicht möglich war, denn sie erforderten die[265] organisatorische Anordnung vieler Sonderarbeiten nach vergleichbaren Verfahren. So faßte ich den Gedanken der Gründung einer entsprechenden chemischen Forschungsanstalt. Unter den Fachgenossen fand ich bald Zustimmung, aber keine praktische Hilfe. Sie vom Reich zu erbitten, hätte eine Verzögerung auf unabsehbare Zeiten bedeutet, nachdem uns »wohlwollende Prüfung« von dem zuständigen Geheimrat zugesichert worden wäre.

Gelegentlich des internationalen Chemiker-Kongresses in Rom, von dem hernach einiges zu erzählen sein wird, besprach ich die Frage erneut mit den dort anwesenden Vertretern der Deutschen chemischen Wissenschaft und Industrie, und es stellte sich wieder die Geldfrage als das erste Hindernis heraus, das genommen werden mußte. »Gehen Sie doch zum reichen Dr. Mond, Sie kennen ihn ja näher, rief endlich einer, er wohnt hier in Rom.« Das leuchtete mir ein. Ich erfuhr, daß er leidend war und sich nur schwierig sprechen ließ. Doch gab er mir auf meine schriftliche Anfrage eine zustimmende Antwort, hörte mich an und bewilligte nach kurzer Überlegungsfrist eine beträchtliche Summe, ich glaube 200000 M.

Ludwig Mond. Ich kannte diesen Großindustriellen und vielfachen Millionär seit etwa zwanzig Jahren, und da er eine in manchem Sinne bemerkenswerte Persönlichkeit war, so werden einige Nachrichten über ihn willkommen sein.

Meine erste Begegnung mit Mond geschah 1889 auf der Heidelberger Naturforscherversammlung (II, 111). Es hatte sich bei einem Ausflug zu mir ein stark jüdisch aussehender Herr mit schwarzem Haar und Bart an einem eigentümlich schrägen Kopf, von untersetzter, kräftiger Gestalt und entschiedenem Wesen gesellt, der sich mir als Dr. Mond vorstellte. Er war nach Heidelberg[266] gekommen, weil er dort unter Bunsens Leitung Chemie studiert hatte.

Ich wußte nichts von seinen industriellen Erfolgen und verhielt mich ziemlich kühl gegen ihn. Denn er tat Äußerungen, welche mir eine geringe Achtung vor den Vertretern der Wissenschaft auszudrücken schienen. Ich war in dieser Beziehung eben empfindlich geworden, weil auf derselben Versammlung Edisons Deutsch sprechender Vertreter für die Auszeichnung, in einer Versammlung von Gelehrten reden zu dürfen, durch geschmacklose Witze über diese danken zu sollen glaubte (II, 114).

So meinte ich, daß Mond in dasselbe Horn stoßen wollte, und verhielt mich danach. Mond klärte mich aber bald darüber auf, welchen unbedingten Wert er auf wirkliche wissenschaftliche Arbeit legte, und machte mir Mitteilungen über seine Versuche, elektrische Energie aus brennbaren Gasen, zunächst Wasserstoff, in industriellem Maßstabe zu gewinnen. Hiermit hatte er alsbald meine lebhafte Teilnahme erweckt und seine großzügige Art, die wirtschaftliche Seite der chemischen Vorgänge zu betrachten, ist von Einfluß auf mein eigenes späteres Denken geworden.

Später bin ich wiederholt mit Mond zusammengetroffen, namentlich durch die Vermittlung William Ramsays, der ihm nahe stand. Mond hatte sehr frühzeitig erkannt, daß der unter seinen Augen entstehenden physikalischen Chemie neben ihrer wissenschaftlichen auch eine sehr erhebliche wirtschaftliche Bedeutung zuzuschreiben war. Er war dazu schon als Schüler Bunsens gut vorbereitet und empfing eine weitere wirksame Anregung durch die anerkennende Stellungnahme Victor Meyers auf jener Heidelberger Versammlung. So erklärt sich das Interesse, das er damals an meiner Person nahm.[267] Auch lagen die eben von ihm unternommenen Arbeiten auf dem gleichen Gebiete.

Obwohl aus Deutschland (Kassel) gebürtig und in Deutschland erzogen, hatte Mond wie so viele Deutsche Juden bereitwillig die Nationalität des Landes angenommen, in welchem er seine wirtschaftlichen Erfolge gewonnen hatte und war auch mit dem Herzen Engländer geworden. Darum beunruhigte es ihn, daß der Schwerpunkt der Entwicklung der physikalischen Chemie in Deutschland lag, und er sann über die Mittel nach, sie auch in England heimisch zu machen, wo diese Forschungsrichtung vorzeiten durch Davy und Faraday so erfolgreiche Pflege erfahren hatte. In deren Förderung durch die Gründung eines Lehrstuhls an einer englischen Universität hatte er anscheinend kein Vertrauen. Da in England die wichtigsten Entdeckungen von privaten Forschern ausgegangen waren, so kam er auf den Gedanken, eine private Anstalt zur Pflege der physikalischen Chemie zu stiften, die jedem offen stehen sollte, der den Wunsch und die Fähigkeit hatte, derartige Forschungen auszuführen. Für deren Verwaltung hatte er die »Royal Institution of Great Britain« ausersehen, eine private Gesellschaft, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einigen reichen Männern gegründet war, um sich und den Ihren gediegene wissenschaftliche Unterhaltung zu verschaffen und daneben auch womöglich die Industrie des Landes zu befruchten. Der maßgebende Organisator war der Amerikaner Benjamin Thompson gewesen, der besser unter seinem späteren Namen Graf Rumford bekannt ist. Die Gesellschaft hatte von jeher eine besonders glückliche Hand in der Wahl ihrer wissenschaftlichen Angestellten gehabt, denn der erste war Humphry Davy gewesen, dem nach einem kurzen Interregnum Brande kein geringerer als Michael Faraday gefolgt war. Auch John Tyndall, dessen Name in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts[268] in Deutschland berühmter war, als in seinem Vaterlande – hatte doch sogar Helmholtz eine Deutsche Ausgabe seines bekannten Buches über die Wärme besorgt – gehörte dieser Reihe an.

So kaufte Mond ein Haus, das unmittelbar neben dem der Royal Institution lag und stattete es mit allen Mitteln zu erfolgreicher physiko-chemischer Forschung aus. Er studierte hierfür die entsprechenden Anstalten in Deutschland, Frankreich und England und beschaffte die besten Geräte, die für Geld zu haben waren.

Bei einem meiner häufigen Besuche in London führte er Ramsay und mich in das Haus, dessen Einrichtung noch nicht ganz vollendet war, und zeigte uns die angeschafften Apparate. Ich konnte mit Genugtuung feststellen, daß drei Viertel des Besten, was Mond in der ganzen Welt hatte ausfindig machen können, aus Deutschland stammte. Der Reichtum der Ausstattung trat mir unter anderem durch den Umstand entgegen, daß die Platten der Arbeitstische aus massivem Mahagoniholz hergestellt waren. Mond erklärte, das sei das Solideste, was dafür vorhanden war, und außerdem seien die Kosten dafür verhältnismäßig gar nicht so hoch. Er nannte die Anstalt das Davy-Faraday-Forschungslaboratorium und hatte das Bedürfnis, sie diesen illustren Paten angemessen auszustatten.

Wie die meisten Häuser im mittleren London war auch dieses ziemlich schmal und dafür vielstöckig in die Höhe gebaut. Um die oberen Zimmer zu besichtigen, bestiegen wir den eben eingerichteten elektrischen Fahrstuhl, den Mond bediente. Infolge irgendeines Fehlers in der Schaltung ging der Motor durch und wir flogen mit erheblicher Geschwindigkeit nach oben mit der Aussicht, zuletzt platt gedrückt zu werden. Ramsay als der längste wäre zunächst daran gekommen, dann ich und zuletzt Mond, der breit aber kurz war. Doch[269] wurde glücklicherweise unsere Himmelfahrt vor dem Ziel unterbrochen und wir konnten kurz unter dem Dachboden den Eliaswagen verlassen. Keiner von uns dreien hatte irgendwelche Zeichen von Angst erkennen lassen.

Viel später, 1909, als ich Mond kurz vor seinem Tode in Rom sah, wo er seiner schwankenden Gesundheit wegen die kälteren Monate verbrachte, nahm ich Anlaß, ihn zu fragen, wie er mit dem Erfolg seiner großartigen Stiftung zufrieden sei. Mit einer Offenheit und Unbefangenheit, die mir hohe Achtung abnötigte, gab er mir die Erklärung, daß er sie als ein verfehltes Unternehmen ansehen müsse. Es sei nicht gelungen, dort eine wirkliche Schule oder Tradition physikalisch-chemischer Arbeit zu schaffen. Die Ursache war wohl in erster Linie, daß der Leiter der Anstalt trotz persönlicher Tüchtigkeit nicht die Fähigkeit hatte, eine Schule zu organisieren. Dann aber erklärte Mond, er habe sich inzwischen überzeugt, daß er durch die Schaffung der freien Arbeitsgelegenheit für physikalisch-chemische Forschungen keine wirkliche Lücke ausgefüllt habe, denn solche Arbeitsgelegenheiten seien in London schließlich reichlicher vorhanden, als die Nachfrage danach. Seine Anstalt sei zu einem Klub entartet, wo einige unbeschäftigte ältere Herren mit wissenschaftlichen Neigungen zusammenträfen, um eine Pfeife zu rauchen und daneben etwas chemische Spielereien zu treiben.

Ich erkannte in dieser durch persönliche Wünsche und Hoffnungen nicht beirrbaren Fähigkeit zu objektiver Beurteilung tatsächlicher Verhältnisse eine der wesentlichen Eigenschaften, welchen Mond seine ungewöhnlichen industriellen Erfolge verdankt hatte.

Was das Urteil Monds über seine Schöpfung anlangt, so ist es vielleicht zu hart ausgefallen. Er war damals schon recht krank und daher wohl geneigt, die vorhandenen[270] Schatten dunkler zu sehen und zu beschreiben, als sie einem ganz gesunden Auge erschienen wären.

Am Ende des gleichen Jahres 1909 starb der hervorragende Mann.

Die Kaiser-Wilhelm-Institute. Nachdem die Gründung einer chemischen Reichsanstalt durch Monds Stiftung wenn auch nicht gesichert, so doch sehr erleichtert war, bildete sich in Berlin ein Gründungsausschuß, zu dem ich auch eingeladen war. Er veranstaltete eine entsprechende Versammlung, in welcher ich einen Vortrag zur Sache hielt. Als aber die Organisation des Arbeitsausschusses durchgeführt wurde, fanden sich so viele Berliner, welchen notwendig eine leitende Stellung gegeben werden mußte, daß für mich nur ein subalterner Platz übrig blieb, auf den ich verzichtete.

Zu einer chemischen Reichsanstalt, wie sie damals geplant war, kam es indessen nicht. Der Gedanke diffundierte in die höfischen Gebiete und brachte dort eine neue Kristallisation von wesentlich anderer Art hervor. Nicht nur die Chemie, sondern noch eine Anzahl anderer Wissenschaften sollten mit Forschungsanstalten bedacht werden und so ein ganzer Komplex solcher Gebilde mit gemeinsamer Oberverwaltung aber selbständigen Direktoren entstehen. Kaiser Wilhelm II. nahm den Gedanken persönlich auf und es wurden die »Kaiser-Wilhelm-Institute« gegründet. Die nötigen Gelder gingen in Fülle ein, da der Kaiser gewissermaßen selbst mit dem Klingelbeutel bei der Großindustrie herumging und über die Gaben reichlich mit Orden und Titeln quittierte. Dies ist beiläufig ein überzeugendes Beispiel für den großen Nutzen dieser Einrichtungen, auf welche unsere Republik sehr zu ihrem Nachteil so unbedacht verzichtet hat.

Ich empfand diese Entwicklung ein wenig wie einen »unlauteren Wettbewerb«, weil durch die starke Hand[271] des Kaisers in Deutschland alle für solche ideal-wissenschaftlichen Zwecke verfügbaren Schenkgelder in diesen einzigen Kanal gelenkt wurden, so daß die Aussicht, für andere soziale Zwecke derartige Mittel flüssig zu machen, so gut wie völlig vernichtet war. Und ich hatte noch eine ganze Anzahl solcher Zwecke im Sinne, die keinenfalls im Rahmen jener Forchungsinstitute verwirklicht werden konnten.

Der internationale Chemikerverband. Zu diesen Dingen gehörten jene organisatorischen Arbeiten im chemischen Felde auf welche oben (III, 263) hingedeutet worden ist. Da es sich hier um Angelegenheiten handelte, welche alle Chemiker der Welt angehen, so lag der Gedanke nahe, diese ganze Chemikerschaft zu einer Einheit zu verbinden und von dort aus an jene Fragen heranzutreten.

Gegenständlich wurde diese Sache für mich bei einem Besuche der schweizerischen Naturforscherversammlung in Basel. Sie hatte mir die Auszeichnung der Ernennung zum Ehrenmitgliede erwiesen und ich versuchte meinen Dank zu bezeigen, indem ich die Gründung einer Professur für Naturphilosophie an der dortigen Universität anregte. Sie wäre die erste ihrer Art gewesen und Basel hätte die Führung dieser Bewegung an sich nehmen können. Doch erschien wohl den nüchternen Schweizern der Gedanke zu phantastisch und sie ließen ihn zu Boden fallen. Inzwischen ist er an anderen Stellen ausgeführt worden.

An jener Versammlung nahm auch der Pariser Chemiker A. Haller teil, mit dem ich längst in briefliche Beziehungen getreten war. Er hatte sich mit Erfolg bemüht, an der Universität Nancy, an der er zunächst wirkte, etwas von dem Deutschen Unterrichtswesen heimisch zu machen, dem er mit Recht die Hauptursache des märchenhaften Aufschwunges der Deutschen chemischen Industrie zuschrieb. Inzwischen war er nach[272] Paris berufen worden und wirkte dort in gleichem Sinne. Er gehörte zu jenen hervorragenden Elsässern, welche einen großen Teil der Französischen wissenschaftlichen Chemie geliefert haben. Gemeinsame organisatorische Interessen brachten uns bald persönlich nahe und wir heckten zusammen den Plan eines internationalen Chemikerverbandes aus. Eingedenk der Lehre, die ich von dem weisen Beernaert (III, 264) erhalten hatte, fragte ich mich, ob lokale und nationale Gebilde vorhanden waren, die international organisiert werden konnten und fand in den chemischen Gesellschaften der verschiedenen Länder den richtigen Urstoff. Um alle Chemiker zu organisieren, genügte es, die zehn bis zwanzig nationalen chemischen Gesellschaften zu verbinden. Die anfangs unmöglich aussehende Aufgabe gelangte dadurch in das Gebiet des leicht Erreichbaren und ich war in meinem Herzen dem alten Beernaert aufrichtig dankbar für seine wirksame Führung.

Haller schlug mir vor, daß er in der Französischen, ich in der Deutschen chemischen Gesellschaft gleichzeitig den Gedanken des Verbandes anregen sollte, worauf wir uns an alle anderen Schwestergesellschaften wenden wollten. Ich mußte ihm antworten, daß ich in Berlin mit meinem Antrag sicher einstimmig und rettungslos durchfallen würde. Dagegen würde eine von der Französischen Gesellschaft nach Berlin geschickte Einladung ebenso sicher begeistert angenommen werden. Haller schüttelte den Kopf, handelte aber nach meinem Vorschlag; natürlich trat der vorausgesehene Erfolg ein.

Wir verständigten uns noch mit der Englischen Gesellschaft und jede ernannte drei Abgeordnete, die sich im Frühling 1911 in Paris als der einladenden Stadt versammelten, um die Gesamtorganisation zu beraten.

Von Deutscher Seite waren aus Berlin die Kollegen Jacobson und Wichelhaus abgeordnet worden. Mich[273] hätte man lieber übergangen, doch hatte Haller dafür gesorgt, daß dies nicht angängig war. Jakobson war der Generalsekretär der Deutschen chemischen Gesellschaft, also ihr berufener geschäftlicher Vertreter. Wichelhaus war Mitbegründer der Gesellschaft und schien als solcher bestens geeignet, diese Körperschaft darzustellen. England war durch Ramsay, Frankland und Meldola vertreten (doch war dieser wegen Erkrankung nicht gekommen), Frankreich durch Haller, Hanriot und Béhal. Beim Zusammentreffen mit den Deutschen Kollegen konnte insbesondere Jakobson sein Mißvergnügen über meine Anwesenheit nicht verbergen.

Die Beratungen waren durch einen Ausschuß der Französischen Gesellschaft, dem außer den genannten noch Gautier, Maquenne, Le Chatelier, Lindet, Bertrand, Urbain angehörten, gut vorbereitet worden, denn diese hatten die Grundlinien der künftigen Organisation so festgestellt, wie sie hernach auch angenommen wurden.

Als Arbeitsgebiete ergaben sich: Benennung der Stoffe in der anorganischen wie organischen Chemie. Atomgewichte. Vereinheitlichung der Formelzeichen. Anordnung der Literaturregister. Berichterstattung über die erscheinenden Arbeiten. Allgemeine Sprache. Gleichheit der Formate für die Drucksachen. Vermeidung mehrfacher Veröffentlichungen derselben Arbeit. Vollständiges Verzeichnis der gesamten chemischen Literatur.

Nachdem grundsätzlich die Bildung des Verbandes unter dem Namen: Assoziation der chemischen Gesellschaften beschlossen war, legten die Französischen Kollegen einen Satzungsentwurf vor, der ohne viel Änderungen Annahme fand.

Nationale Wissenschaft. Schwierigkeiten machte nur die Frage, ob als Mitglieder des Verbandes die einzelnen chemischen Gesellschaften eintreten, oder jedes Land,[274] das mehrere Gesellschaften besaß, diese zusammenfassend einmalig vertreten sollte. Gegen den ersten Vorschlag, den ich für den richtigen hielt, wurde geltend gemacht, daß dann kleine unbedeutende Vereine den gleichen Einfluß haben würden, wie die großen mehrtausendköpfigen chemischen Gesellschaften; dies ließ sich durch die Forderung einer selbständigen Zeitschrift und einer Mindestzahl der Mitglieder verbessern, bei deren Erreichung der Verein erst vertretungsfähig würde. Gegen die nationale Einteilung machte ich geltend, daß der nationale Gesichtspunkt für die Wissenschaft möglichst in den Hintergrund gerückt werden muß, da die Wissenschaft das übernationalste ist, was es gibt. Es sei also widersinnig, umgekehrt die Nation als organisatorische Grundlage anzunehmen. Auch führt es alsbald auf Schwierigkeiten: hat Österreich-Ungarn Anspruch auf einen Vertreter oder zwei? Soll Kanada neben England als selbständiges Land angesehen werden?

Es gelang mir nicht, für meine Auffassung eine Mehrheit zu finden. Die Engländer und Franzosen sprachen es zwar nicht deutlich aus, waren aber erkennbar beeinflußt durch den Gedanken, daß in Deutschland erheblich mehr chemische Vereinigungen bestehen, als in ihren Ländern, so daß bei der Zählung nach Vereinen sie als Nation zu kurz kommen würden. Meinen Deutschen Kollegen wird aber die Erwägung nicht fern geblieben sein, daß bei der Zählung nach Nationen der Berliner Chemischen Gesellschaft die Vertretung aller Vereine zufallen würde, während sie im anderen Falle in die Reihe der anderen zurücktreten müßte. So blieb ich mit meinem Vorschlag allein, ohne von seiner Unzweckmäßigkeit überzeugt zu sein. Ich erwähne die Angelegenheit, weil doch früher oder später wieder eine ähnliche Verbandbildung sich als notwendig erweisen wird.

[275] Wahlsorgen. Nachdem dergestalt die Konstituierung vollzogen war, wurde der Paragraph betätigt, daß der Vorsitz alljährlich von einer Gesellschaft zur anderen nach dem ABC wechseln sollte. Nach diplomatischem Gebrauch waren die Französischen Ländernamen maßgebend und Deutschland hatte als »Allemagne« den ersten Vorsitzenden zu stellen.

Es konnte mir nicht entgehen, daß mein Berliner Kollege Jakobson meine Wahl keineswegs gern sehen würde; es wurde Stimmung für Wichelhaus gemacht. Die Vorbesprechungen hatten bis zur Mittagspause gedauert. Am Nachmittag sollte die Wahl getätigt werden, und es war nicht ausgeschlossen, daß jene Ernennung erfolgen würde, wenn auch mit knappster Mehrheit, falls auch ich, wie man hoffte, für Wichelhaus stimmen würde, da ich nicht wohl für mich selbst stimmen durfte.

Mit sehr gemischten Gefühlen machte ich vor der Sitzung einen einsamen Spaziergang. Zuerst war ich höchst ärgerlich, daß mir auf diese Weise meine persönliche Arbeit entwendet werden sollte. Doch wollte ich mir solche Gefühle nicht gestatten, da sie zu nahe an den Neid grenzten, den ich als das niederträchtigste und dabei dümmste Laster verabscheute, da der davon Besessene sich selbst das größte Übel damit zufügt. Ich bearbeitete mich also innerlich, bis ich eine gefühlsfreie, objektive Einstellung zur Sache erreicht hatte, was ich daran erkannte, daß ich ohne Erregung die Möglichkeit erwägen konnte, die Wahl würde wie erwartet ausfallen.

Wenn ich aber diese Möglichkeit als wirklich dachte, so sah ich das ganze Werk gefährdet. Denn dann würde voraussichtlich die Sache ohne Initiative äußerlichformell betrieben werden. Die laufenden Geschäfte würden in Berlin erledigt werden, da dort die Mehrheit war und ich würde wie immer von dort ausgeschaltet[276] und an der Ausführung meiner organisatorischen Pläne verhindert werden. So hatte ich objektiv die Pflicht, dafür zu sorgen, daß ich selbst Vorsitzender wurde.

Mir selbst meine Stimme zu geben, wäre mir allerdings peinlich gewesen, da ich meine Gründe dafür nicht wohl mitteilen konnte. Noch weniger konnte ich mich der Stimme enthalten. Da kam mir ein erlösender Gedanke. Ich brauchte meine Stimme nur Jakobson zu geben, der außerdem schwerlich eine Stimme erhalten würde und die Möglichkeit meiner Wahl war zwar nicht gesichert, wohl aber näher gerückt.

Unter großer Spannung wurden die Wahlzettel geöffnet und die Stimmen gezählt, Es waren acht Vertreter anwesend, die Mehrheit betrug also fünf Stimmen. Ich hatte fünf Stimmen erhalten, Wichelhaus zwei, Jakobson eine. Meine Sorge war überflüssig gewesen, denn die absolute Mehrheit hatte für mich gestimmt.

Ermüdet, aber befriedigt gingen wir auseinander, nachdem noch die Pariser Chemische Gesellschaft uns ein Festessen gegeben hatte. In einer zusammenfassenden Tischrede kennzeichnete ich das soeben getaufte Kind (es wurde Assoziation der chemischen Gesellschaften genannt) als ein höchst modernes Erzeugnis, insofern es zwei Väter hatte, die nicht einmal aufeinander eifersüchtig waren. Auch die Mutterpflichten seien geteilt. Im Schoße der Französischen Gesellschaft war es geboren, die Deutsche hatte die unmittelbare Pflege überkommen und die Englische stand als bedachtsame Nurse dabei, die zwar nicht recht einsieht, wozu sich die Leute mit Kinderkriegen belasten, aber entschlossen ist, das vorhandene Kind nach bestem Können zu betreuen.

Das internationale Institut für Chemie. In einigen schlaflosen Stunden während der Nacht nach dem Abschluß unserer Beratungen hatte ich darüber nachgedacht, wie ich dem jungen Verbande eine möglichst gedeihliche[277] Entwicklung sichern könnte. Dabei fielen mir Gespräche ein, die ich mit Ernest Solvay über Organisation der Wissenschaft gehabt hatte und ich beschloß, mich an ihn zwecks Befestigung des Verbandes zu wenden. Eine telegraphische Anfrage, ob mein Besuch willkommen sei, wurde umgehend bejaht und ich fuhr, nicht ohne Herzklopfen, von Paris nach Brüssel in der Absicht, Solvay um tätige Hilfe zu bitten.

Ich hatte mich nicht getäuscht. Er war grundsätzlich bereit, erhebliche Mittel (zunächst eine Viertelmillion) an die Entwicklung des Gedankens zu wenden, vorausgesetzt, daß hierdurch eine etwas engere Verbindung des Verbandes mit Brüssel entstand, etwa indem dort zunächst ein ständiges Büro, später vielleicht auch ein Institut unterhalten wurde. Mir schien dies unbedenklich, da in Brüssel bereits eine Anzahl internationaler Anstalten tätig waren. Internationalismus wurde in Belgien als eine Art dort heimischer Industrie angesehen und gepflegt. In dem bereits bestehenden physiologischen Institut im Park Leopold (III, 322) waren reichlich Räume vorhanden, die sich nach Bedarf vermehren ließen. So war in solcher Beziehung die Zukunft des Verbandes gesichert.

Organisationsarbeit. Die nächste Aufgabe war die Entwicklung des Verbandes zu einer wirklichen Weltorganisation. Es waren ja zunächst nur die drei Gesellschaften zusammengetreten. Die Amerikanische Gesellschaft, die den unseren gleichwertig war, hatten wir nicht eingeladen, weil keine Aussicht bestand, daß von dort drei führende Kollegen die Reise über den Ozean machen würden, solange es sich nur um Pläne handelte.

Ich hatte mich unmittelbar nach den Pariser Beschlüssen auftragsgemäß an die Amerikanische, Italienische und Russische chemische Gesellschaft gewendet; sie hatten sich alle zum Beitritt gemeldet. Ferner hatte[278] ich allen chemischen Gesellschaften anderer Länder Nachricht von der Gründung des Verbandes geschickt und ihnen anheimgestellt, sich um den Anschluß zu bewerben. Dies geschah von folgen den Ländern: Niederlande, Schweiz, Österreich, Norwegen, Dänemark, Japan, Spanien, die sämtlich aufgenommen wurden. Derart war die große Mehrheit aller Chemiker der Welt im Verbande zusammengeschlossen. Für die wenigen noch ausstehenden Völker konnte man mit Sicherheit den baldigen Anschluß erwarten, denn einige hatten nur gezögert, weil sie noch an dem Zustandekommen des Verbandes zweifelten. So durfte ich mit dem Ergebnis dieses Teils meiner Arbeit zufrieden sein.

Die Berliner Tagung. Damit ging das erste Bundesjahr hin und im Frühling 1912 wurden die Vertreter der angeschlossenen Gesellschaften nach Berlin zur zweiten Hauptversammlung eingeladen. Es kamen rund 20 Kollegen zusammen.

Die Arbeit erledigte sich in sehr glatter Weise; erhebliche Meinungsverschiedenheiten traten nicht auf oder ließen sich durch Erörterung auflösen. Wieder gelang es mir, wie bei der Weltspracheversammlung in Paris, so gut wie alle Beschlüsse einstimmig fassen zu lassen.

Unter den Hauptergebnissen ist die Organisation der Namenfragen zu nennen, eine bei den nach Hunderttausenden zählenden Stoffen ebenso wichtige wie schwierige Aufgabe. Es wurden für die verschiedenen Sprachen Sonderausschüsse gebildet, welche die Angelegenheit unter beständiger Fühlungnahme zu bearbeiten hatten, so daß eine genügende Gleichförmigkeit der Namen gesichert wurde, soweit die sprachlichen Unterschiede dies erlaubten.

Ein von mir eingebrachter Antrag, für die Zukunft die Vereinigung der ganzen chemischen Literatur durch Benutzung einer künstlichen Weltsprache anzustreben, fand zu meiner großen Freude Zustimmung.[279]

Dasselbe gilt für einen Antrag, übereinstimmende Papierformate anzustreben, zunächst für die Veröffentlichungen der Gesellschaften, sodann aber für alle chemischen Veröffentlichungen überhaupt. Denn eben hatte ich die Grundlagen der Formatnormung durch meine der »Brücke« gewidmeten Arbeiten festgestellt, über welche alsbald berichtet werden soll. Der Verband entschied sich für das »Weltformat« 160 x 223 mm und trat korporativ der »Brücke« bei.

Man wird es verständlich finden, daß ich mit sehr vergnügten Gefühlen zu dem abschließenden Festessen ging, welches den Mitgliedern von der Chemischen Gesellschaft gegeben wurde. Die Berliner Kollegen, welche mich nicht gern an meiner Stelle gesehen hatten, verschwanden hinter der großen Zahl der Auswärtigen, welche mit meiner Geschäftsleitung zufrieden waren. Zwar war die Begrüßungsrede beim Festessen seitens der Berliner etwas auf den Gedanken gestellt, daß A.W.v. Hofmann, falls er noch lebte, sicherlich selbst den Verband gegründet haben würde, daß also das Verdienst daran eigentlich ihm zukäme. Aber das steigerte nur meine Heiterkeit und ich leitete in übermütiger Stimmung meinen Trinkspruch auf die Zukunft des Verbandes mit der Erinnerung an das Arabische Märchen ein, nach welchem der kranke König nur geheilt werden konnte, wenn er mit dem Hemde eines Glücklichen bekleidet wurde. Nach vielem Suchen fand man einen restlos Glücklichen, der aber hatte überhaupt kein Hemd. Heute würde der kranke König geheilt werden können, fuhr ich fort, denn ich sei restlos glücklich und hätte auch ein Hemd, wenn man es auch nicht deutlich sehen konnte (der Westenausschnitt war mit Orden ausgefüllt, die ich zur Feier der Stunde angelegt hatte). Der Spruch wurde so heiter aufgenommen, wie er gemeint war, und ich konnte zufrieden das Amt meinem Freunde Ramsay[280] übergeben, denn das nächstfolgende Vorsitzland war England.

Ein neuer organisatorischer Gedanke. Die nächste Sitzung im Herbst 1913 fand indessen nicht in London statt, sondern in Brüssel. Die Verhandlungen mit E. Solvay hatten dahin geführt, daß dieser dem Verbande außer der Viertelmillion noch eine ganze Million und eine Unterkunft zur Verfügung stellte, wenn dieser beschloß, womöglich jedes zweite Jahr in Brüssel zu tagen und dort auch seine ständigen Anstalten zu errichten. Denn es lag Solvay sehr viel daran, die wissenschaftliche Arbeit in seinem Vaterlande zu beleben. Dies war sehr nötig. Unter den Schriften der nationalen Akademien der Wissenschaften, welche ein annäherndes Maß für die Leistungen der entsprechenden Völker abgeben, gehören die der Belgischen Akademie zu den allermagersten, sowohl dem Umfange wie dem Inhalte nach.

Ich habe oft darüber nachgedacht, durch welche Ursache zwei unmittelbar benachbarte, unter ganz ähnlichem Klima lebende und auch wenigstens teilweise nahe stammverwandte Völker, wie die Belgier und die Holländer, so ungeheure Unterschiede in ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit aufweisen. Wählt man beispielsweise die Nobelpreise zum Maßstab, so steht Holland zwar nicht nach der absoluten Zahl an der Spitze, wohl aber, wenn man diese mit der Bevölkerungszahl vergleicht, während Belgien bis vor einigen Jahren überhaupt nicht (wissenschaftlich) vertreten war. Die einzige Erklärung, die ich fand, ist, daß Holland protestantisch, Belgien katholisch ist. Demgemäß hat Holland keine Analphabeten, Belgien einen erheblichen Prozentsatz. Und da sich die Höhe der Spitzenleistungen nach der der Grundfläche richtet, von der sie aufsteigen, so ist es natürlich, daß von der Holländischen Höhenlage aus ein viel größerer Anteil ausgezeichneter Leistungen erreicht[281] werden kann, als von der Belgischen Tiefenlage. Hiernach müssen in Holland die Schulen auch merklich besser sein, als in Deutschland. Ich kenne das dortige Schulwesen nicht genauer, weiß aber, daß es sich seit einem Menschenalter von der Bedrückung durch die Altphilologen frei gemacht hat und daß daher seine Jugend sich günstiger entwickeln kann, als bei uns. Beispielsweise hat van't Hoff niemals an sich den »Segen der klassischen Bildung« erfahren (was er gelegentlich kräftig betonte), und das trägt einiges zur Erklärung der erstaunlichen Leistungen bei, die er in ganz jungen Jahren vollbracht hat.

Für die Art, in welcher seine Stiftung betätigt werden sollte, hatte Solvay eine höchst liberale Satzung entworfen, welche sachlich die Gestaltung dem Verbande überließ und nur verwaltungstechnisch die Teilnahme Belgischer Vertreter sicherte. Die wichtigste und neuartigste Bestimmung war, daß das Geld jedenfalls nach 28 Jahren verbraucht sein mußte. Denn, sagte er mir später, Wohltäterhilfe ist zwar nötig beim Entstehen von etwas Neuem, aber wenn das Gebilde dauernden Bestand haben soll, so muß es nach angemessener Zeit gelernt haben, auf eigenen Füßen zu stehen. Und um dies zu erzwingen, habe ich bestimmt, daß das Kapital verbraucht werden muß. Die Zeit von 28 Jahren ist für den Zweck sehr reichlich bemessen. Außerdem wird bewirkt, daß von vornherein viel mehr Mittel jährlich verfügbar sind, als wenn der Verband nur auf die Zinsen angewiesen wäre, wie das üblich ist, oder gar noch einen Teil davon zur Vermehrung des Kapitals zurücklegen müßte.

Auch dieses Stück praktischer Organisatorenweisheit habe ich mir eingeprägt, um es gegebenenfalls als Führer benutzen zu können. Denn als Leipziger Professor hatte ich zuweilen über die Verwendung wohltätiger Stiftungen mit zu bestimmen, welche längst unsinnig geworden waren,[282] da die Voraussetzungen der Stifter nicht mehr zutrafen. Dies hatte in mir die Frage hervorgerufen, mit welchem Rechte jene längst verstorbenen Menschen über das Verhalten der Nachfahren bis in unbestimmte Zeiten hinaus hatten verfügen dürfen. Das persönliche Anrecht der Erben an geistigen Kapitalien, nämlich Büchern, erlischt nach gutem Recht in 30, in anderen Ländern in 50 Jahren nach dem Tode des Schöpfers. Welchen Vorzug haben denn Kapitalien in Geld gegenüber diesen höchst persönlichen Leistungen ausgezeichneter Menschen, zumal niemand prüft, auf welche Weise das Geld in die Hand des Erblassers gelangt ist!

Es müßten also grundsätzlich alle Stiftungen auf ewige Zeit unmöglich gemacht werden. Vielmehr sollten Stiftungen nur unter der Voraussetzung errichtet werden können, daß alle 30 oder 50 Jahre eine Prüfung erfolgt, ob sie noch fortgesetzt werden sollen oder was sonst mit dem Stiftungsvermögen zu geschehen hat.

Brüssel. Mit großer Befriedigung und noch größeren Hoffnungen ging ich zur folgenden Jahresversammlung nach Brüssel. Ich konnte dort feststellen, daß die verschiedenen Ausschüsse für die chemischen Namen gute und gewissenhafte Arbeit getan hatten und daß der Gedanke, die allgemeinen oder gemeinsamen Aufgaben gemeinsam zu organisieren, erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Ich selbst hatte mich eingehend mit den hier entstehenden Aufgaben beschäftigt und insbesondere die Frage bearbeitet, wie man zu einer vollständigen Ausschöpfung und Bereithaltung des sehr ausgedehnten chemischen Schriftwesens gelangen konnte. Nach den Grundgedanken, welche in der »Brücke« entwickelt waren, plante ich eine große chemische Kartei, welche unter methodisch geordneten Stichworten alles enthielt, was über einen bestimmten Stoff, Vorgang, Begriff veröffentlicht war und so das vollständige Handbuch unserer[283] Wissenschaft darstellte. Durch ein wohlfeiles Vervielfältigungsverfahren sollte jedem Nachsuchenden ein Abdruck jedes gewünschten Bruchteils aus dem Handbuch zugänglich gemacht werden. Neben diesem vollständigen oder großen Handbuch war ein mittleres geplant, das aus dem Material des großen unter Abstoßen der veralteten, zweifelhaften oder sonst entbehrlich erscheinenden Anteile gebildet war. Das dritte oder kleine Handbuch sollte nur die Titel des zweiten, vielleicht mit kurzen Stichworten bezüglich des Inhaltes bringen. Durch die Karteiform war es möglich, den täglichen Einlauf neuer Schriften nach der Bearbeitung dem Werk alsbald einzordnen.

Dies erschien mir zwar als die erste und dringendste Aufgabe, aber nicht als die einzige. Wegen der Sprachverschiedenheiten war auch das fertig gewordene Handbuch den Meisten teilweise verschlossen. Indem zunächst das mittlere Handbuch in die Hilfssprache, z.B. Ido, übersetzt wird, kann man die gesamte Weltliteratur jedem zugänglich machen. Denn das Erlernen der Hilfssprache kostet kaum so viel Zeit, wie die Herstellung eines chemischen Präparates. Schon nach halbstündiger Beschäftigung kann der Anfänger Ido zu lesen wagen, und er wird damit schneller vorankommen, als der Gymnasiast nach fünf Jahren Lernens an einem lateinischen Text. Beschränkt man sich auf das für den Chemiker Notwendige, so kann auch das Wörterbuch sehr klein bleiben.

Dies sind nur einige von den Plänen, die ich für den Verband im Auge hatte. Solvay zeigte ein volles Verständnis für sie, denn er war ja auch Energetiker.

Von größter Wichtigkeit für die Zukunft des zu schaffenden Instituts war die Wahl seines obersten Leiters. Da es in Brüssel beheimatet sein sollte, war die französische Muttersprache für ihn erwünscht. Von allen, die ich kannte, erschien mir keiner geeigneter, als der Genfer Ph. A. Guye. Ich besprach die Sache mit[284] ihm, doch er sagte nein, weil er Genf nicht verlassen wollte. Noch vor kurzem hatte er von Paris eine Berufung gehabt, an die Stelle des berühmten Moissan, und hatte auch diese abgelehnt, trotzdem seine Frau eine geborene Pariserin war. Es tat mir sehr leid, aber schließlich konnte ich ihm seine Gründe nachfühlen.

Die auf das künftige internationale Institut gerichteten Arbeiten hatten die Durchführung der bereits übernommenen nicht gestört. Insbesondere waren über die Frage der Namen der chemischen Stoffe von allen Seiten sorgfältig und eingehend bearbeitete Berichte eingelaufen, welche bereits die Linien erkennen ließen, nach denen das Gemeinsame entwickelt werden konnte. Der Englische Vorstand hatte insgesamt 18 Beratungspunkte aufgestellt, um die bevorstehenden Verhandlungen übersichtlich zu gestalten. Gemeinsame Sprache und Formate befanden sich darunter und wurden zu weiterer Bearbeitung an Ausschüsse verwiesen, ebenso der Vorschlag eines Weltadreßbuches aller angeschlossenen Chemiker.

Die Verhandlungen vollzogen sich wieder in freundschaftlichster Form; Deutsch, Englisch und Französisch wurde nebeneinander gesprochen. Dabei stellte sich heraus, daß unsere Französischen Genossen die geringste Kenntnis der anderen Sprachen besaßen; nur Haller sprach Deutsch und verstand Englisch.

Daß aber diesem Zustande keine Dauer beschieden sein würde, ging aus der Erklärung der Italienischen Mitglieder hervor, daß sie ihren Zutritt von der grundsätzlichen Zulassung ihrer Sprache abhängig machten. Wir ließen es gelten, denn es erwies sich als praktisch bedeutungslos. Es war aber nur eine Frage der Zeit, wenn auch die Anderen gleiche Ansprüche, jeder für seine Sprache, erheben würden.

Über die Einzelheiten braucht hier nicht berichtet zu werden. Es wurde überall ernsthafte Arbeit gemacht[285] und wir durften uns sagen, als wir uns trennten, daß der Verband sich schon deutlich als lebensfähiger Organismus erwiesen hatte.

Satzungsgemäß ging die Leitung mit dem Schluß der Versammlung an unsere Französischen Kollegen über. In den Händen Hallers, der natürlich den Vorsitz erhielt, war sie bestens aufgehoben und ich habe unter meinen Papieren noch eine Anzahl Briefe von ihm, die er mir Ende 1913 und Anfang 1914 schrieb, um mich über die Fortschritte, insbesondere des künftigen internationalen Instituts zu unterrichten.

Die nächste Versammlung sollte im Herbst 1914 stattfinden. Als Ort stand Paris natürlich in erster Reihe. Andererseits war aber zu hoffen, daß die Gründung des Instituts inzwischen so weit vorgeschritten sein würde, um unsere persönliche Anwesenheit in Brüssel wünschenswert zu machen. Die Frage Paris oder Brüssel, oder vielleicht Paris und Brüssel blieb also unentschieden und der Vorstand wurde beauftragt, seinerzeit einen geeigneten Beschluß zu fassen.

Das Ende. Zu dem unabsehbar Vielen, was der Weltkrieg zerstört hat, gehört auch diese so erfolgreich begonnene Organisation der Chemiker der ganzen Welt. Bekanntlich bildeten sich unmittelbar nach Beendigung der militärischen Feindseligkeiten Gruppen aller Art, welche den Krieg gegen die Deutschen mit allen anderen Mitteln fortsetzten. Zu diesen gehörte auch eine sogenannte internationale Organisation der Wissenschaften, deren Aufgabe nicht sowohl die Förderung der Wissenschaft war, als vielmehr die Ausschließung und Verfolgung der Deutschen. Deren chemische Abteilung bemächtigte sich der Stiftung Solvays für ihre Zwecke. Die von den Deutschen ausgesprochene Rechtsverwahrung blieb wirkungslos. So endete diese gute und große Sache.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 261-286.
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