Neuntes Kapitel.
Überlastung, Zusammenbruch und Wiederaufbau.

[188] Ferienfahrten und Kunstsorgen. Das erstemal, daß ich mich durch die Arbeit erschöpft fühlte, war im Spätsommer 1886 in Riga, nachdem ich in den eben vergangenen sieben Monaten den letzten und schwersten Teil meines Lehrbuches geschrieben und daneben den Tag mit angestrengter experimenteller Arbeit im Verein mit Arrhenius neben den Pflichten der Vorlesung und des Laboratoriumsunterrichts ausgefüllt hatte; dazu waren noch häusliche Beanspruchungen gekommen. Ich war 33 Jahre alt.

Ich habe schon erzählt (I, 236), daß sich die Überarbeitungserscheinungen durch drei Wochen einsamen Malens und Badens auf der Insel Rügen vollständig heben ließen, so daß ich die unmittelbar darauf folgende starke Beanspruchung durch die Berliner Naturforscherversammlung und die Gründung der Zeitschrift für physikalische Chemie nicht nur leidlich, sondern gut und mit Behagen vertrug.

Es folgte dann das letzte Jahr meiner Rigaer und das erste meiner Leipziger Tätigkeit. Beide waren bis zum Rande mit Arbeit gefüllt. Das Wohlgefühl aber, im lang ersehnten weiten Wasser frei schwimmen zu können – auf die hier vorhandenen Hindernisse war[189] ich noch nicht gestoßen – wirkte wie ein starker Katalysator und ließ keine Ermüdungsgefühle aufkommen. So dachte ich mehr an meine Familie als an mich, als ich nach Ablauf des ersten Jahres unter den neuen Verhältnissen die Frage einer Ferienreise erwog. Denn da Leipzig im Sommer schwül und übelriechend ist, so mußte ich darauf bedacht sein, mit Frau und Kindern in die Sommer- oder vielmehr Herbstfrische zu gehen. Die Vorlesungen schlossen in den ersten Augustwochen. Von Riga her war uns das Meer höchst wünschenswert, ja fast notwendig geblieben, und so wählte ich Rügen, das mir von meiner zweiten Reise in so schöner Erinnerung geblieben war. Am geeignetsten erschien mir von den damals besuchten Orten Göhren, einer der wenigen Plätze auf Rügen, wo man den Sonnenuntergang über dem Meere sehen kann. Die Reise mit den vier Kindern nebst Mädchen war nicht ganz einfach, doch ging sie lustig vor sich, da die Kinder sich durchweg nett und heiter betrugen. Tatsächlich erwies sich Göhren als der richtige Ort. Wir fanden in einem Fischerhause mit einem kinderlosen Ehepaar, er ganz alt, sie ganz jung und sehr hübsch, saubere Unterkunft und die Kinder waren selig, den ganzen Tag am Wasser und im Sande spielen zu dürfen. Ich ergab mich mit Überzeugung dem animalischen Dasein, das ich schon in den Rigaer Sommerfrischen geübt hatte, und verschaffte mir durch ziemlich fleißiges Malen die Empfindung, als täte ich etwas. Allerdings kamen unter je zehn Bildern höchstens je zwei oder drei so zustande, daß ich auch später an ihnen Freude hatte. Das Warum konnte ich damals nicht herausbekommen und das ungelöste Problem plagte mich sehr.

Denn ich war damals der Ansicht: wenn ich ein Stück Natur so getreu wie möglich abbilde, so muß es ein Bild geben. Denn die Natur ist immer vollkommen; gelingt es mir also, etwas von ihr zu übertragen,[190] so habe ich ein Stück Vollkommenheit, also ein Kunstwerk.

Nun war ich freilich sehr klar darüber, wie wenig nur von der unermeßlichen Fülle der Naturerscheinung ich in das Bild zu übertragen imstande war. Aber die Bilder, welche so geraten waren, daß sie mir gefielen, enthielten auch nicht mehr von der Natur, als die anderen und waren doch dem Ideal eines Kunstwerks deutlich näher gekommen. Ja, sie waren sogar meist schlichter, als die anderen. Daß dies eine bestimmte Ursache hatte, war mir außer Zweifel, denn es war schon damals der Grundgedanke meiner Weltanschauung, daß ohne Rest Alles erforschbar ist oder sein wird, wenn auch das meiste voraussichtlich erst nach langer Zeit. Aber ich stak damals so unbedingt in meinen chemischen Arbeiten, daß ich deren Bearbeitung als die Aufgabe meines ganzen Lebens ansah und daher jede ernstlich-wissenschaftliche Vertiefung in außerhalb liegende Aufgaben für einen Raub am eigentlichen Inhalt meines Daseins hielt. So verzichtete ich auf die Verfolgung jener Gedanken, trotzdem sie damals und später immer wieder aufstiegen, und ließ mir nicht träumen, daß solche Probleme für mich einmal ganz in den Vordergrund rücken würden.

Vilm. Noch besser trafen wir es im nächsten Jahr. Auf meiner ersten Rügenfahrt hatte ich von Putbus aus die kleine Insel Vilm besucht, die eine halbe Stunde vor der Stadt liegt, einen prachtvollen Buchenwald und nur einige Häuser trägt, in denen der Förster wohnt, und während des Sommers ein bis zwei Dutzend Badegäste beherbergt. Wegen der wunderschönen Bäume und der mannigfaltigen Ufer hatten sich von jeher dort Maler eingefunden und in den Verkehrston der Gäste einen Zug von künstlerischer Heiterkeit und Freiheit gebracht. Im Speisesaal befand sich ein großes Wandgemälde, das in wohlgetroffenen Umrissen den Förster und seine[191] sorgsame Gattin sowie eine Anzahl namhafter Badegäste darstellte, die früher oder später dort geweilt hatten.

Da die Universitätsferien so spät im Jahre begannen, ließ ich meine Frau mit sechs Kindern – wir hatten noch zwei Neffen in Pension genommen – ohne mich nach Rügen reisen. Sie gelangten ohne Unfall bis Putbus. Die Überfahrt nach der Insel Vilm, die auf einem Segelboot erfolgen mußte, war aber durch einen eben herrschenden Sturm erschwert. Nur auf die Versicherung, daß der Förster, der das Boot selbst steuerte, weit und breit als der zuverlässigste Segler bekannt war, entschloß sich meine Frau, die Kinder ihm unter diesen Umständen anzuvertrauen und er brachte seine kostbare Ladung unversehrt und in kürzester Frist hinüber.

Die Hausgenossen auf der Insel erwarteten nicht ohne Grauen die Ankunft der neuen Gäste. Dies Gefühl galt weniger dem Sturm, als der Kinderschar, von der man eine arge Störung der Gemütlichkeit befürchtete. Als ich indessen zwei Wochen später selbst auf dem Vilm eintraf, fand ich die ganze Gesellschaft wie eine große Familie. Die Kinder hatten nicht nur jene Befürchtungen zerstreut, sondern sich mit ihrer lustigen Unbefangenheit so gut dem allgemeinen Ton angepaßt, daß sie als Lieblinge von Hand zu Hand gingen und man ihnen ihre gelegentlichen Unarten freundlich nachsah.

Von den damaligen Feriengenossen sind mir der Maler Eschke, der Architekt Hoffmann, der Farbchemiker Lehne in angenehmer Erinnerung geblieben.

Deutsche Fahrt. Als nach zwei Wochen der Schluß der Schulferien die Heimreise nötig gemacht hatte, mußte ich feststellen, daß die Zeit nicht ausreichend war, um mir die Erholung zu schaffen, deren ich bedurfte. Da ich den Wunsch hatte, Deutschland genauer kennen zu lernen, baute ich mit Hilfe des Bädecker mir eine schöne Reise zusammen. Über Bamberg, Nürnberg,[192] Regensburg, München, Chiemsee ging es nach Berchtesgaden, wo ein längerer Aufenthalt genommen werden sollte. Als Wandergefährte schloß sich mir der Philosoph Oswald Külpe an, der hernach in seinem Fache zu großem Ansehen gekommen ist und als Professor in München starb.

O. Külpe war ein baltischer Landsmann; er stammte aus Kurland. Damals war er noch Assistent bei Wundt und Privatdozent, hatte aber bereits begonnen, seine persönliche Philosophie zu entwickeln, so daß das Verhältnis zu seinem Direktor anfing, schwierig zu werden. In unserem Hause war er ein regelmäßiger Sonntagsgast, der meine Frau und mich durch seinen guten Appetit und sein vorzügliches Klavierspiel erfreute. Er war neun Jahre jünger als ich, von mittlerer Größe, mit dunkelblondem, etwas lockigem Haar und kleinem Schnurrbart, von beständig freundlichem Gesichtsausdruck und etwas femininem Wesen. Die Kinder liebten ihn nicht, denn er hielt aus theoretischen Gründen es für notwendig, sie frühzeitig an unangenehme Eindrücke zu gewöhnen und erzielte diese erfolgreich bei ihnen durch Examinieren aus den letzten Schulaufgaben. Als er gar einmal mit seinem Taschenkamm erst seinen Schnurrbart und dann die Haare der Puppen kämmte, die meine Töchter ihm gezeigt hatten, empfanden diese fürderhin nur noch Zorn und Abscheu gegen ihn.

Mir war er ein sehr angenehmer Reisegefährte, höchst empfänglich für Natureindrücke und niemals eigensinnig bezüglich der Einzelheiten unserer gemeinsamen Fahrt. Ich hatte ihn gewarnt, daß ich ihn durch Sitzenbleiben und Malen langweilen würde. Er hatte als Mittel dagegen einen Vorrat von neuen philosophischen Büchern mitgenommen, die er rezensieren sollte und in denen er bei solchen Gelegenheiten las. Besonders ausgiebig erwies sich dabei ein Buch von Windelband, gegen dessen[193] Inhalt er so viel einzuwenden hatte, daß er gelegentlich auch mir seinen Widerspruch entwickelte. In dem Frohgefühl der neuen Horizonte, die ich mir eben in meiner Wissenschaft aufgetan hatte, war ich aber sehr ungerecht gegen diese Dinge, die ich für eitel Dunst hielt. Ich sah damals nicht voraus, welchen Raum sie hernach in meinem Kopfe in Anspruch nehmen würden.

Unsere Wanderfahrt war zunächst vom schönsten Wetter gesegnet und in mir sind noch viele von den anmutigen und großartigen Bildern anschaulich-le bendig, die wir damals aufgenommen haben. In Nürnberg gefiel mir besonders gut die Stetigkeit, mit der sich moderne Bauten und Erfordernisse an die alten Reste geschlossen hatten. Dagegen taten mir die Stunden hernach leid, die ich mit dem zwecklosen Betrachten vieler mir fern liegenden Dinge im Germanischen Museum zugebracht hatte. Theoretisch war ich damals von dem Gedanken des Museums ganz überzeugt, so daß ich mich etwas schuldbewußt fühlte, daß die Überzeugung nicht ausreichen wollte, um mir eine innere Teilnahme für die Sammlungen einzuflößen. Heute weiß ich, daß jene Einstellung ganz begründet war, denn es gibt nichts Sinnloseres und Ermüdenderes, als die Betrachtung von Dingen, an die man keine Fragen zu stellen hat.

Die Walhalla in Regensburg sah mit ihren riesigen Treppenanlagen von außen stattlich genug aus. Das Innere machte auf mich architektonisch den Eindruck einer großen Scheune. Die Ursache war, daß die ursprüngliche Holztechnik, von der die griechische Baukunst eine Nachahmung in Marmor ist (Holz war und ist in Griechenland das kostbare und seltene Material, Marmor das billige und gemeine) in diesem Innenraume sich so deutlich zur Geltung bringt, daß die erwähnte Gedankenverbindung sich unwillkürlich aufdrängt.[194]

Dagegen hatte ich in der Stadt ein großes Vergnügen an folgender Wandinschrift:


Ich altes Haus bin wohlbekannt

Bin stolz Zum weißen Lamm genannt.

Ich bin auch wahrlich zu beneiden:

Hier wohnte Mozart, Heine, Haydn.


Mir kam diese volkstümliche Form der Unsterblichkeit viel wünschenswerter vor, als die marmorne da oben in der Walhalla, wo sich schon der Name und die Gestalt des Baues rettungslos widersprechen.

Auf der Fraueninsel im Chiemsee trat man fast mit jedem Schritt auf einen Maler oder eine Malerin. Ich sah die Zunftgenossen mit Hochachtung an und wagte als Bönhase nicht, meinen Malkasten aufzuklappen, so einladend die duftigen Fernblicke über den See ausschauten. Den Besuch der Königsschlösser schenkten wir uns. Der Tod des romantisch-irrsinnigen Bayernkönigs lag nicht weit zurück und auf der Berliner Naturforscherversammlung (I, 238) war ich mit dem Leibarzt Gudden flüchtig bekannt geworden, der dabei sein beklagenswertes Ende fand. Persönlich hatte er allerdings keinen besonders angenehmen Eindruck auf mich gemacht.

In Berchtesgaden fanden wir nette und saubere Unterkunft bei einer sehr schönen Wirtin mit einem zornig-eifersüchtigen Mann. In langen Märschen durchwanderten wir die wunderbare Umgebung und ich empfand schmerzlich meine Unzulänglichkeit bei den Versuchen, sie mit Pinsel und Farbe darzustellen, so daß ich den Malkasten oft zuhause ließ.

Auch nach anderer Richtung erfüllte Berchtesgaden meine Hoffnungen nicht. Ich hatte vor der Abreise zuweilen schlaflose Nächte gehabt und gedachte durch die kräftige körperliche Ausarbeitung um so besser zu schlafen. Doch gelang dies keineswegs und ich habe[195] mich später überzeugen können, daß der verminderte Luftdruck der Höhenlage daran schuld war. Denn jedesmal, wenn ich später in höheren Orten Erholung suchte, hatte ich mit Schlafschwierigkeiten zu kämpfen, während ich am Meeresufer, also an den tiefsten Stellen des Luftmeeres auch mich am tiefsten Schlaf erquicken konnte. Es hat lange gedauert, bis ich auf diesen Zusammenhang gekommen bin, nur weil ich mich nicht rechtzeitig gewöhnt hatte, die Regeln der wissenschaftlichen Beobachtungskunst auf meine eigenen Zustände anzuwenden. Ich weiß, daß ich in dieser Beziehung den meisten meiner Zeitgenossen noch überlegen war, und erschrecke bei dem Gedanken an die tiefe und fast hoffnungslose Unwissenschaftlichkeit, mit welcher meine Mitmenschen ihre wichtigste Angelegenheit, ihr eigenes Leben behandeln. Die letzte Ursache hierfür liegt in dem unwissenschaftlichen Gegensatz Seele-Leib, den Platon und der Platonismus unseren »Gebildeten«, insbesondere den Juristen, Theologen und Philologen unausrottbar eingepflanzt haben.

Immerhin gelang die gewünschte Erholung dadurch, daß meine Gedanken während der drei Wochen dieser genußreichen Reise ganz und gar von der Chemie abgelenkt blieben.

Von Berchtesgaden fuhren wir nach Rosenheim und Wörgl und bestiegen die Hohe Salve, die mir am Abend wie am nächsten Morgen je ein gutes Bild gab. Die wunderbare Schönheit der klaren Mondnacht zwischen den silbernen Gipfelriesen durfte ich freilich nicht wiederzugeben wagen.

In Innsbruck betrachtete ich mit Freude die eindrucksvollen Bilder, in denen F. Defregger die Ereignisse des Tiroler Aufstandes dargestellt hat. Der Raum enthält nichts, als diese sechs oder acht Gemälde und ist dadurch von so starker, weil einheitlicher Wirkung, wie ich keine andere Bildersammlung kenne.[196]

In dem anschließenden Museum, das die Werke Tiroler Maler enthält, fiel es mir auf, wie wirkungslos die landschaftliche Schönheit ihres Vaterlandes auf deren Schaffen geblieben war; es fanden sich nur aus jüngster Zeit einige Landschaftsbilder. Neun Zehntel waren Heiligenbilder, meist abstoßend anzusehen. Nur ein altes Bild – ich habe keine Ahnung, wer der Maler war – sah ich mit wahrem Vergnügen an. Ähnlich wie man früher zum Nutzen der Pferdebesitzer einen Gaul darzustellen pflegte, an welchem alle Krankheiten ersichtlich gemacht waren, die ein Pferd haben kann, so hatte der Künstler sich bemüht, einen Heiligen darzustellen, an dem sämtliche Martern ausgeübt wurden, von denen die Legenden berichten. Zunächst saß er in einem Kessel mit siedendem Öl und von oben wurde ein rotglühendes eisernes Hemd über ihn gesenkt. An seinen Augen und Ohren waren Henkersknechte beschäftigt, sie auszustechen und abzuschneiden. Beide Arme hatte er ausgebreitet, damit ihm die Fingernägel abgezwickt werden konnten. Ganz im Vordergrunde aber stand ein Mann, der ihm mittels einer Haspel den Darm aus dem Leibe zog und auf die Welle wickelte. Um aber die Erhebung des Heiligen über all diese Beanspruchungen zum Ausdruck zu bringen, hatte ihm der Künstler ein so vergnügtes Gesicht gemalt, das es wirklich unwiderstehlich über allen Graus triumphierte.

Von Innsbruck fuhren wir nach St. Anton, dem höchsten Punkt der Arlbergbahn und wanderten in das wilde Moosbachtal, von wo ich eine kennzeichnende Studie mitbringen konnte. Es war eine prachtvolle Wanderung, ganz einsam. Vor uns wilde Schneefelder, dahinter der dunkelgraue Himmel, von dem sie sich bleich abhoben, tief unten im Tal ein tosender Bach.

Um die langweilige Tunnelfahrt durch den Arlberg zu vermeiden, wanderten wir über den Paß. Der Himmel[197] war zunächst klar, nur an den Bergspitzen hingen Wolken. Je höher wir aber kamen, um so mehr verschwand das Blau. Erst war es ein Nebel, dann wurde es eine Wolke und dann ein Regen, der aber nicht von oben noch unten fiel, sondern überall entstand. Wir wurden gründlicher naß, als je zuvor; dazu wehte ein schneidend kalter Wind. Im Sturmschritt kamen wir nach Langen, unserem Ziel, wo wir uns mit Glühwein und warmem Essen erfolgreich gegen die Erkältungsfolgen schützten. Bis Bregenz hellte sich das Wetter wieder auf und es gab einen schönen Sonnenuntergang. Am nächsten Morgen bestiegen wir den Pfänder und fuhren dann über den Bodensee nach Ludwigshafen, das damals noch nichts von der weltgeschichtlichen Bedeutung ahnte, die ihm Zeppelins großartige Arbeit bald darauf erwerben sollte.

Hier trennten sich unsere Wege. Külpe kehrte nach Leipzig zurück und ich ging völlig erfrischt und zu neuer Arbeit fähig und bereit nach Heidelberg auf die Naturforscherversammlung, über die ich bereits in anderem Zusammenhange (II, 111) berichtet habe.

Meran. Die verhältnismäßig leicht wiedergewonnene Arbeitsfrische verleitete mich zu einer starken Energieausgabe, indem ich in sehr kurzer Zeit den »Grundriß der Allgemeinen Chemie« (II, 54) fertig schrieb. Ich mußte mich deshalb wieder in den nächsten Ferien nach Erfrischung umsehen.

Von den vielen Nachteilen unserer törichten Semestereinteilung an den Universitäten ist einer der größten der, daß die Osterferien so früh im Jahr liegen, daß man sie nicht zur Erholung im Freien bei uns benutzen kann. Die vielen Gelehrten, welche der Erfrischung bedürfen, werden dadurch gezwungen, sie im Süden zu suchen. Die meisten sind dadurch in Italien besser bekannt als in Deutschland und unser größter Fehler, die blinde Überschätzung alles Ausländischen,[198] wird dadurch methodisch in den besten Köpfen befestigt.

Um wenigstens unter Sprach- und Stammgenossen zu bleiben, hatte ich als Ziel der Osterreise Meran gewählt, wo ich mit dem befreundeten Mathematiker Adolf Mayer (II, 100) zusammentreffen wollte, der einige Wochen früher dahin gereist war. Ich fand meine Hoffnungen erfüllt und übertroffen. Die Schönheit der Gegend und die Mannigfaltigkeit der Bilder, die sich meinem Pinsel darboten, überstiegen bei weitem mein sehr begrenztes Können, trugen aber wirksam zu meiner Erfrischung bei. Im Gedächtnis ist mir insbesondere eine lange einsame Wanderung längs einer der offenen Wasserleitungen gewesen, bei der ich mich zuweilen in bezug auf Schwindelfreiheit prüfen konnte.

Eine hübsche Überraschung ward mir auf einem meiner näheren Spaziergänge. Ich hörte hinter mir eine Stimme: »Das ist Ostwald, das muß er sein«, und als ich mich umsah, erblickte ich einen sehr alten Herrn mit zwei ziemlich alten Damen. Ich wurde herzlichst begrüßt und es stellte sich heraus, daß es mein allererster Lehrer Fromm aus Riga mit seinen Töchtern war, der mir die Grundlagen menschlichen Wissens beigebracht hatte. Er war über 80 Jahre alt, aber immer noch heiter und rüstig und übertraf an Lebensfrische durchaus seine Töchter, die unverheiratet geblieben waren. Eine von ihnen hatte mir dreißig Jahre vorher die Anfangsgründe der französischen Sprache beigebracht. Sie war damals blond und rundlich gewesen. Die andere war mir mager und dunkel in der Erinnerung. Wir Buben fürchteten sie, denn sie griff schnell und schmerzhaft zu, wenn sie Anlaß zu haben glaubte, uns in unsere Schranken zurückzuweisen.

Fromm erzählt mir, daß ihm unter dem Druck der Russifizierung die Verhältnisse in Riga unleidlich geworden[199] waren. Er hatte sich ein kleines Vermögen erspart, das zusammen mit seinem Ruhegehalt ausreichte, ihm und seinen Töchtern ein bescheidenes Leben in Meran zu ermöglichen. Mich machte dies sehr nachdenklich. Wie wäre es mir ergangen, wenn jene Leipziger Berufung nicht gekommen wäre? Und werde ich selbst auch einmal einen solchen heiter-friedlichen Lebensabend nach achtzigjähriger Arbeit feiern können?

Von weiteren Begegnungen sind mir nur einige kurze Gespräche mit dem ausgezeichneten Berliner Mathematiker Kronecker im Gedächtnis geblieben. Er war ein alter, zwerghaft kleiner Herr mit bartlosem, beweglichen Gesicht, der mich mit einer Hochachtung behandelte, die mich in Erstaunen setzte und beschämte. Er muß von irgendeiner Seite, die mir unbekannt geblieben ist, übermäßig günstige Urteile über mich erfahren haben. Er interessierte sich insbesondere für die von mir geschaffenen Klassiker-Ausgaben. Auf die Wiedergewinnung meiner Arbeits- und Lebenslust hatte diese Begegnung einen nicht geringen Einfluß, da sie mir ein Zeichen war, daß ich mich mit meinen vielfältigen Bestrebungen doch im ganzen auf dem richtigen, der Menschheit nutzbringendem Wege befand.

Nach drei Wochen kurgemäßen Lebens in Meran konnte ich erfrischt und gestärkt zu meiner Arbeit zurückkehren, die sich im Laufe des Jahres weiter erheblich vermehrte. Denn im Herbst fand jene bahnbrechende Aussprache mit den englischen Fachgenossen auf der Britischen Naturforscherversammlung in Leeds statt, mit der das persönliche Übergreifen meiner Tätigkeit auf außerdeutsche Länder begann, und an die sich unmittelbar die Deutsche Naturforscherversammlung in Bremen schloß, auf der ich gleichfalls tätig zu sein hatte.

Riva. So gut es mir 1890 in Meran gefallen hatte, so vermißte ich doch den Anblick weiter Wasserflächen, der[200] sich mir mit dem Begriff der Ferienerholung seit Riga fast untrennbar verbunden hatte. Beim Durchmustern der Landkarte unter dem doppelten Gesichtspunkt des frühen Frühlings und des Wassers bot sich der Gardasee dar, dessen Nordende noch in dem damaligen Österreich lag, das der Italienisch sprechenden Bevölkerung keinerlei Hindernisse im Gebrauch ihrer Muttersprache in den Weg legte. Nachdem 1918 die Südtiroler Gebiete politisch zum italienischen Königreich geschlagen worden sind, haben die Deutschen Bewohner dieses schönen Landes unter der Barbarei der Italienischen Herrschaft im Gegensatz dazu Schwerstes erdulden müssen.

Daß meine Kräfte vermindert waren, wurde mir auf der Reise Ostern 1891 nach Riva erschütternd klar. Meiner Gewohnheit gemäß hatte ich die Fahrzeiten so gewählt, daß ich in einem Zuge die Reise zurücklegen konnte und begann mit einer nächtlichen Fahrt von Leipzig nach München. Im Halbschlaf bei unbequemem Sitz war meine Denktätigkeit zwar wach geblieben, die Hemmungen dagegen waren eingeschlafen. So stürmten alle unerfreulichen Gedanken aus den verschiedensten Gebieten meines Lebens, dem wissenschaftlichen wie dem häuslichen ungehemmt auf mich ein, ohne daß ich mich von ihnen befreien konnte und spielten Fangeball mit meiner Seele. Ich habe mich kaum je unglücklicher gefühlt, als während jener Stunden. Auch der Sonnenaufgang war trübe. Doch klärte sich der Himmel und eine strahlende Sonne, mit der ich in München einfuhr, befreite mich endlich von diesen Dämonen.

In dem kleinen Städtchen Mori, wo die Zweigbahn nach Riva an die Hauptlinie angesetzt ist, übernachtete ich und betrachtete am anderen Morgen die fremdartige südliche Landschaft. Die Fahrt bis Riva bei klarstem Sonnenschein hob mich endgültig aus meinen Nebelgedanken heraus, denn sie gehört zu den eindrucksvollsten,[201] die ich kenne. Das Bähnchen durchfährt zunächst ein steiniges Gelände, das immer dürrer und wilder wird, bis es schließlich ein Trümmerfeld aus hausgroßen Blöcken grauen Kalksteins von einem riesenhaften Bergrutsch ist. Es geht die Sage, daß seinerzeit Dante sich dort die Anschauungen für seine Beschreibung der Hölle geholt hat. Das eintönige Silbergrau des Kalksteins wird dann durch das reine Blaugrün eines kleinen Sees unterbrochen, der aus dem Grunde dieser Wüstenei emporleuchtet. Nachdem man wieder durch Trümmer und das dürftige Dorf Nago gefahren war, tat sich plötzlich ein weiter blauer Blick über den herrlichen See auf, der in der Nähe wie ein Fjord eng von steilen Felsen eingefaßt ist, während er in der Ferne sich in einer endlosen Ebene verliert.

Mit allen Organen sog ich die Schönheit in mich hinein, die jene finsteren Dämonen vollständig verscheuchte. In großen Kehren senkte sich die Bahn in die fruchtbare Talebene des Sarkaflusses, ging an dem wunderlichen Schloßfelsen von Arco vorbei und endete in dem Städtchen Riva im Nordwinkel des Gardasees. Da wegen des hohen Berges im Westen die Sonne dort schon etwa um 3 Uhr untergeht, brachte ich mich in einem Gasthof unter, der einige Kilometer westlich lag und drei Stunden länger Sonnenschein hatte.

Auch hier bewährte sich das Wandern und Malen als sicheres Heilmittel. Nur hatte ich mich auf soviel Blau nicht gefaßt gemacht, wie ich dort sah und malen durfte. Das mitgenommene Ultramarin reichte nicht aus und ich mußte mir frischen Vorrat nachsenden lassen.

Die Überarbeitung beruhte diesmal darauf, daß ich den ersten Band der zweiten Auflage meines Lehrbuches bearbeitet, d.h. so gut wie völlig neu geschrieben hatte. Nach einer Woche konnte ich melden, daß der Zustand der Erschöpfung, in dem ich angekommen war, in den[202] vollkommener Gedankenlosigkeit hinübergedämmert war, was ich als ein sicheres Zeichen für das Gelingen der Kur nehmen konnte. Zur Ausfüllung der langen Abende erwies es sich als zweckmäßig, die über Tag aufgenommenen Photogramme eines nach dem anderen zu entwickeln. Mit besonderer Liebe hatte ich Aufnahmen von den dort zahlreich vorkommenden Eseln gemacht, die mich durch das ausdrucksvolle Spiel ihrer Ohren angezogen hatten.

Mit dem Abschluß der zweiten Woche war die Genesung da und ich konnte mich arbeitslustig auf den Heimweg machen. Es kam mir unrecht vor, bloß zu meinem Vergnügen das Nichtstun fortzusetzen, obwohl eben das Wetter schön geworden war und die Bäume sich in junges Grün gekleidet hatten. Aber ebenso hoffnungsvoll sproßten in meinem Geiste die Knospen der Energetik aus, die im Laufe des gleichen Jahres ihre ersten Blätter entfalten sollten und ich war ungeduldig, mich dieser ganz besonders anziehenden Arbeit hinzugeben.

Im Herbst begnügte ich mich deshalb auch mit einer kurzen Erholungsreise durch das Erzgebirge, die ich zum Teil mit meinem Kollegen Bruns (II, 94) zusammen machte. Das regnerische Wetter trieb mich bald nach Hause.

Torbole und Schierke. Den nächsten Frühling verbrachte ich wieder am Gardasee, der es mir angetan hatte; einen genügenden Vorrat Ultramarin hatte ich mitgenommen, ebenso wie meinen ältesten Sohn, der schon groß genug dazu war. Diesmal brachte ich mich in Torbole unter, einem Dörfchen in der nordwestlichen Ecke des Sees, eine Stunde von Riva entfernt. Ich hatte von Riva aus seinerzeit gefunden, daß die malerische Ausbeute dort besonders groß war. Und wenn ich jetzt die Studien betrachte, die ich in jenem Jahre gemalt habe, so kann ich einen deutlichen Fortschritt feststellen. Er beruht[203] darauf, daß die Dinge, die mir das erstemal ganz neu gewesen waren, sich inzwischen in meinem Unterbewußtsein heimisch gemacht hatten, so daß ich ohne erschwerende Zwischenarbeit an die Darstellung gehen konnte.

Der Herbst 1892 war reichlich mit mannigfaltiger Ablenkung von der Forschungs- und Unterrichtsarbeit erfüllt. Anfang August, unmittelbar nach dem Schluß der Vorlesungen reiste ich nach Edinburgh, um die dortige Versammlung der Britischen Vereinigung mitzumachen (II, 142). Die kurzen Tage mit der Familie Ramsay auf der Insel Arran hatten nicht ausgereicht, meine Kräfte wieder herzustellen; ich ging deshalb nach meiner Rückkehr nach Schierke im Harz, um tunlichst in der Nähe von Leipzig zu bleiben. Es gelang mir dort, trotz der Überfüllung des Orts, mich still zu halten, denn in den ausgedehnten Wäldern verliefen sich die Leute so bald, daß wenige Minuten nach dem Verlassen des Dorfes mich die schönste Einsamkeit umfing. Meine Malversuche ließen mich erkennen, wieviel größere Schwierigkeiten die Bewältigung der deutschen Landschaft dem Künstler bereitet, der sich mit der viel einfacheren italienischen schon gut abzufinden gelernt hat.

Während ich mich in Schierke befand, brach in Deutschland von Hamburg aus die Choleraepidemie los, die letzte, von der wir heimgesucht worden sind; bekanntlich ließ sie sich auch damals schnell eindämmen. Ich rechnete nach und fand, daß ich auf der Rückreise von Edinburgh durch Hamburg an demselben Tag gekommen war, an dem die ersten Cholerafälle beobachtet wurden. Obwohl für Leipzig kaum Gefahr bestand, beendete ich doch meine Kur sobald es ging, um auf alle Fälle bei den Meinen zu sein. Vermutlich waren meine Energievorräte in der kurzen Zeit nicht genügend aufgefüllt worden, denn in der folgenden Zeit ergriff mich das Gefühl der Ermüdung nicht erst am Ende des[204] Semesters, sondern ich hatte darunter nicht selten während der Arbeitszeit zu leiden.

Boltzmann und Lohengrin. Im Frühling 1893 suchte ich meine malende Erholung in Gargnano, wieder am Gardasee. Der Ort hatte für mich ein gewisses Interesse, weil der Begründer der Elektrochemie, der Naturphilosoph Johann Wilhelm Ritter, mit dessen Arbeiten ich mich eben beschäftigte, den Wünschelrutenmann Campetti, der in seiner letzten Münchener Periode eine besondere Rolle gespielt hat, im Jahre 1807 aus Gargnano abgeholt hatte. Außerdem durfte ich nach Ausweis der Karte eine besonders malerische Gegend erwarten, da dort das Gebirge sich gegen die Ebene abzusetzen beginnt. Und endlich konnte ich auf ungestörte Einsamkeit hoffen, da zufolge Bädecker die Unterkunftsmöglichkeit sich auf einen einzigen Gasthof beschränkte.

Auf dem Wege dorthin machte ich in München eine Fahrpause, um dort Bilder und Kollegen aufzusuchen. Diesmal zog es mich besonders dorthin, weil inzwischen Ludwig Boltzmann, den ich wissenschaftlich wie persönlich sehr hoch schätzte, von Graz an die dortige Universität übergesiedelt war. Ich fand ihn trotz der Ferien zu Hause, und er war sichtlich erfreut, mich zu sehen. Seine Frau erzählte mir später, daß er wiederholt eine besondere Vorliebe für mich geäußert habe. Ich fragte ihn, ob und wo wir den Abend gemeinsam verplaudern könnten, und er antwortete: »Ach, ich habe gerade auf heute zu mir so eine dumme Gesellschaft eingeladen, da kann ich nicht fort.« Im Laufe des Gesprächs kam er wiederholt auf diesen leidigen Zufall zurück, bis endlich die Frau ausrief: »Aber Ludwig, Du kannst doch den Herrn Professor auch zum Abend einladen!« Boltzmann schlug sich vor den Kopf: »Daran habe ich wirklich nicht gedacht, das ist ja ganz einfach so. Also Sie kommen?« Ich sagte lachend zu.[205]

Der Abend verlief sehr angeregt. Ich traf dort den alten Physikprofessor Lommel, den Musiker Kienzl, der später den »Evangelimann« komponiert hat, und einige schweigsame Maler mit ihren Damen. Kienzls Gattin sang Lieder ihres Mannes, die mir sehr gefielen. Mit Lommel sprach ich über den mit Budde auszuführenden Plan eines energetischen Physiklehrbuches. »Das ist eine ungeheure Arbeit«, sagte er, »aber wenn Einer sie machen kann, so sind Sie es.« Das ging mir sehr wohltätig ein. Das lebhafte Gespräch wandte sich auf Richard Wagner und ich äußerte unter anderem Bedenken über die Logik des Lohengrindramas. »Wie konnte Wagner«, meinte ich, »die Frage Elsas zum Knotenpunkt der ganzen Handlung machen, nachdem ihr Retter ihr dies, und nur dies ausdrücklich verboten hatte!« Frau Boltzmann aber bemerkte dazu: »Ich weiß doch nicht, ob Sie Recht haben. Aber das weiß ich: ich hätte auch gefragt.«

Seitdem ist meine Achtung vor Wagner, dem Frauenpsychologen, sehr bedeutend gestiegen.

Die Regenschirme. Als ich am späten Nachmittag in Gargnano ankam, war ich zunächst enttäuscht. Zwar war der Gasthof klein und sauber, der Ort selbst aber erwies sich als ein schmutziges Nest mit engen, elend gepflasterten Gassen, die Straßenwinkel nach Italienischer Art reichlich geschmückt mit den Denkmälern menschlichen Stoffwechsels; auch tote Katzen fehlten nicht. Mir fiel auf, daß diese nationalen Besonderheiten genau hinter der politischen Grenze auftraten; in den zu Österreich gehörenden Nestern auf der anderen Seite hatte ich das nicht gesehen, obwohl sie von ganz demselben Italienisch sprechenden Menschenschlag bewohnt waren.

An dem kleinen Hafen war ich so ungeschickt, meinen Regenschirm ins Wasser fallen zu lassen. Ich versprach eine Lira dem, der ihn mir herausholen würde und veranlaßte[206] dadurch ein Volksfest. Denn die ganze Jugend des Ortes hatte sich alsbald versammelt und begleitete die Bemühungen einiger Männer um die Rettung des Schirms mit betäubendem Geschrei. Als ich dann den nassen Schirm aufspannte und ihn zur Entfernung des Wassers in schnelle Drehung versetzte, zerbrachen an dem elenden Ding alle Gelenke, mit denen die Stäbe am Stiel befestigt waren. Die Ruine überantwortete ich den Jungen, um zu versuchen, ob sie noch lauter schreien konnten. Sie brachten es sofort fertig.

Diese Schirmgeschichte war nur ein Akt eines längeren Dramas. Als ich Leipzig verließ, hatte mir meine Frau einen billigen Reiseschirm besorgt: »weil Du ihn doch irgendwo stehen lassen wirst«. Sie hatte Recht, denn in München kaufte ich mir zur Abreise den zweiten, da der erste nicht mit mir ausgestiegen war. Dieser zweite setzte die Reise selbständig über Mori hinaus nach Chiasso fort, während ich in Mori ausstieg. Den dritten hatte ich in Riva erstanden, wo ich auf den Dampfer für Gargnano zu warten hatte; er war nun auch den Weg aller Schirme gegangen. Den vierten in Gargnano gekauften aber habe ich wirklich bis nach Leipzig gebracht. Es war aber nicht der Mühe wert.

Diese Geschichte hatte im Herbst ihr Nachspiel zu meinem Geburtstage. Da traten meine Kinder, eines nach dem anderen auf, indem sie sich durch Kleidung und Ausputz als wilde Bewohner ferner Länder auswiesen. Jedes überreichte mir als Bote seines Landes einen Schirm, den ich auf meiner letzten Reise dort stehen gelassen hätte und sprach dazu einige kauderwelsche Verse, welche die Sprache seines Landes darstellen sollten, aber doch hinreichend deutsch klangen, um verstanden zu werden.

Als ich in den nächsten Tagen die Umgebung von Gargnano kennen lernte, änderte ich mein erstes Urteil[207] von Grund aus. Sowie man aus den Gassen heraus war, traf man malerische Aussichten über Berg und See. Ich habe dort keine andere Gegend kennen gelernt, welche derart aus lauter »Gegend« (im malerischen Sinne) bestand. So ergab ich mich mit Freude und Erfolg der geliebten Malerei und habe nicht weniger Stücke auf meine Weise erlegt, als mein Vater Enten auf seinen Jagdzügen zu erlegen pflegte.

Fraunhofer. Die Herbstreise 1893 war eine der schönsten, deren ich mich erinnere. Ich war sehr spät, Anfang Oktober, über München nach Tölz gefahren und wanderte von dort über Benediktbeuren nach dem Kochelsee. Benediktbeuren war mir merkwürdig als der Ort, an welchem der geniale Optiker Fraunhofer seine grundlegenden Arbeiten gemacht hatte.

In Heinrich Zschokkes »Selbstschau« berichtet dieser aus seinem dritten Besuch in Bayern (er hatte eine Geschichte dieses Landes geschrieben und stand mit dem Minister Montgelas in Verkehr) vom Jahre 1817 folgendes: »Ich fuhr mit Utzschneider nach einer seiner Besitzungen, dem ehemaligen Kloster Benediktbeuren, wo er mir seine Entsumpfungsarbeiten, Pflanzungen, Tabaksfabriken und Glasschmelze zeigte. In der Unterhaltung mit dem Vorsteher der letzteren vergaß ich alles übrige. Erfahrungen und Ideen dieses Mannes über Elastizität der Körper, über Strahlenbrechung, Farbenzerstreung des Lichts usw., meistens neu, setzten mich in nicht geringes Erstaunen, um so mehr, da er meine schüchternen Zweifel immer sogleich mit angestellten Experimenten vernichtete. In München hatte mir niemand von diesem außerordentlichen Geist gesprochen. Man kannte ihn nicht. Es war der Naturforscher Fraunhofer. Ich bat ihn um Bekanntmachung seiner Entdeckungen. Er meinte bescheiden, es wären das nur Hobelspäne, die bei der Arbeit zur Verbesserung optischer[208] Werkzeuge abgefallen wären. Aber diese Hobelspäne, rief ich, sind für die Wissenschaft so wichtig, vielleicht wichtiger, als Ihre Gläser! Er lächelte und blieb ungläubig. In München sprach ich mit Begeisterung von dem Manne, der eine Zierde jeder Akademie sein würde, und zwar in einer Gesellschaft mehrerer Akademiker. Man lächelte auch da ungläubig. Indessen ward auf des berühmten Sömmering und Schlichtegroll Vorschlag eine Lustreise zu dem Wundermann von Benediktbeuren beschlossen. Als ich hernach Fraunhofers Aufnahme in die Akademie erfuhr, und in den Denkschriften derselben einen seiner Hobelspäne, die Abhandlung über die Bestimmung des Brechungs- und Farbenzerstreuungsvermögens wiederfand, freut' ich mich nicht wenig meines Triumphs über die ungläubigen Lächler.«

Bayrische Berge und Seen. Damals kannte ich diese Sache nicht, wohl aber wußte ich, daß Fraunhofer sich aus dürftigsten Verhältnissen emporgearbeitet hatte und hatte dafür gesorgt, daß jene grundlegende Arbeit in den »Klassikern« allgemein zugänglich gemacht wurde, wobei ich einen großen Respekt von der durchdringenden Klarheit seines Denkens bekommen hatte. Doch begnügte ich mich mit einem Blick im Vorüberwandern auf den Ort seines Wirkens. Denn ich muß bekennen, daß Goethes Spruch: Die Stätte, die ein großer Mann betrat, ist eingeweiht, mir niemals etwas Verständliches gesagt hat, und daß mir, wenn ich aufrichtig reden soll, das Anstaunen solcher Stätten immer etwas primitiv, deutsch gesagt: kindisch vorgekommen ist.

Am Nachmittag kam ich müde und heiß in Kochel an, erlebte dort aber einen so schönen Sonnenuntergang am See, daß ich den Malkasten richtete und seinen Eindruck festzuhalten suchte. Die folgenden Tage, welche ich auf dem Wege zum Walchensee und an ihm verbrachte, gehören zu den schönsten, die ich erlebt habe.[209] Die etwas melancholische Anmut dieser Landschaft ging mir unmittelbar zu Herzen und ich habe lange Zeit mich mit dem Gedanken getragen, dort mir die Heimat für die Zeit zu gründen, in der ich nicht mehr an die Universität gebunden sein würde. Ich habe den Walchensee seitdem nicht wiedergesehen; er wird durch die inzwischen erfolgte Fassung seiner Wasserkräfte wohl manches von seiner damaligen einsamen Beschaffenheit verloren haben.

Vom Walchensee wanderte ich durch endlose Buchenwälder nach Eschenlohe und fuhr von dort nach Partenkirchen. Der Badersee und der Eibsee stellten mir zahlreiche neue Aufgaben der Darstellung, eine schöner als die andere. Dazu kam ein ziemlich wechselndes Wetter, welches mir hochdramatische Landschaftserlebnisse verschaffte. So saß ich in ziemlich dichtem Nebel malend am Frillensee, einem kleinen Gewässer neben dem Eibsee, hinter dem sich königlich die Zugspitze erhebt, von der ich aber eben nichts sehen konnte. Aus dem Nebel wurde ein Regen, aus diesem ein Gewitter, das mich aber nicht von meinem Malstuhl vertrieb, da ich auf meinen Wettermantel vertrauen konnte und schon in Berchtesgaden gelernt hatte, im Regen zu malen. Ebenso schnell, wie es gekommen war, verzog sich das Gewitter und plötzlich stand im Glanze der Abendsonne die gewaltige Masse der Zugspitze, bedeckt bis unten vom Neuschnee, rosig strahlend auf dem Blauschwarz der abziehenden Wetterwolken da. Ich habe nie auch nur annähernd etwas so Großartiges in Italien gesehen.

Mit diesen Eindrücken im Herzen begann ich in Leipzig die Semesterarbeit und förderte die Hauptgedanken der Energetik zutage.

Die Riviera. Immer dringender wurde die Notwendigkeit einer Ausspannung nach Schluß des langen und anstrengenden Wintersemesters. Meine Wahl fiel diesmal (1894) auf den Badeort Santa Margherita in der[210] Nähe von Rapallo an der italienischen Riviera, der mir von Leipziger Bekannten als besonders schön empfohlen wurde. Ich fuhr mit meinem ältesten Töchterchen hin, das mit seinen zwölf Jahren schon verständig genug war, um, wenn nötig, für sich sorgen zu können.

Die Verbindung von Meer und Fels bei reichlichem Pflanzenwuchs ergab in der Tat eine große Anzahl schöner Bilder, die meine Künste um so mehr in Anspruch nahmen, als ich im Hinblick auf die neuen Aufgaben das Format meiner Blätter verdoppelt hatte. Ich fand, daß hierdurch eine ziemlich starke Veränderung meiner Technik in bezug auf die Bewältigung der Einzelheiten erfordert wurde, so daß die neuen Aufgaben mich erfreulich beschäftigten. So gelang es, die inneren Nebel zu zerstreuen, welche in unerwünschter Weise den bisher so klaren Horizont meines Geistes zu beschatten anfingen. Auch ein anderes Zeichen der beginnenden Erschöpfung machte sich geltend: ich begann gelegentlich über meinen Zustand mich klagend auszusprechen, während ich ihn bisher wie eine Sache, der man sich schämen muß, für mich behalten hatte.

Von den Einzelheiten jener Tage ist mir im Gedächtnis geblieben, daß täglich ein Jüngling sein weißes Roß mit dramatischer Gebärde die Straße daher tänzeln oder galoppieren ließ. Die Damen sahen ihm mit verhimmelten Augen nach und seufzten. Und da ich lachte, sagten sie: das ist ein herrlicher Dichter, er heißt Gabriele d'Annunzio. Als ich einmal probeweise eines seiner Bücher las, mußte ich über den »Gabrunzio« noch mehr lachen.

Die Nordsee. Die Erholung im Herbst suchte ich diesmal an der Nordsee auf der Insel Amrum, doch mit schlechtem Erfolg. Während die Ostsee stets beruhigend und kräftigend auf mich gewirkt hatte, verspürte ich hier einen gegenteiligen Einfluß. Ich wurde unruhiger und[211] nervöser und fühlte mich, als ich einmal ein wenig länger gebadet hatte, tagelang darauf sehr elend. Nur der Malkasten brachte mich langsam wieder einigermaßen zurecht. Das neue Semester mußte ich dann mit ungenügend aufgefülltem Energievorrat beginnen, der zudem durch die sehr ausgedehnte Arbeit für meine Geschichte der Elektrochemie stark in Anspruch genommen wurde. Auch machten die Vorbereitungen für den Bau des neuen Laboratoriums viel Arbeit.

Am Langensee. Im Frühling 1895 war ich zur Abwechslung nach Locarno am Nordende des Langensees gegangen, das 30 Jahre später so berühmt geworden ist. Es liegt am Fuße des Hochgebirgs und die Verbindung von Berg, Ebene und See versprach eine große malerische Ausbeute. Tatsächlich fand ich reichlich bildmäßige Punkte und ergab mich der gewohnten Malerei mit dem zunehmenden Erfolg, daß mir die Darstellung des Wesentlichen eines solchen Anblicks immer leichter und selbstverständlicher von der Hand ging. Ich brauchte nicht mehr bewußt nachzudenken: dies und das muß ich machen, um das und jenes zu erzielen, sondern dieser ganze Umsetzungsvorgang vollzog sich unterbewußt und das Bild entstand wie von selbst. Hat man dies erreicht, so ist das Malen ein großer Genuß.

Im übrigen war ich recht erschöpft angekommen und brauchte längere Zeit, bis die zugehörigen Druckgefühle im Kopf verschwanden. Deshalb beschäftigte mich die Frage ernstlich, ob ich nicht am besten täte, die Professur aufzugeben und als Privatgelehrter in erquicklicher Umgebung den Rest meines Lebens mit solchen Arbeiten zu verbringen, bei denen ich nicht von der Mitarbeit, dem Wohl- oder Übelwollen anderer Menschen abhängig sein würde. Ich sah mich um, ob ich nicht am Orte das finden könnte, was mir vorschwebte, denn die Mannigfaltigkeit der Gegend[212] versprach, auf viele Jahre für meine malerischen Bedürfnisse vorzuhalten.

In solchem Sinne stach mir am meisten in die Augen ein altes Gemäuer nahe am Ufer des Sees, die Casa ferrata genannt nach den dicken Fenstergittern. Bädecker erzählt, daß dort in früheren Jahrhunderten das Rohmaterial für die verschiedenen Schweizergarden im Auslande zur Ausfuhr gesammelt und bereit gehalten worden sei; zur Zeit wohnten nur einige Bauern darin, welche die zugehörigen Weinberge bearbeiteten. Doch gab ich diese Gedanken auf, weil ich mir sagte, daß zwar die politische Ordnung der Schweiz stabil genug sei, um sie als Konstante in die Lebensrechnung aufzunehmen, daß aber ein dauerndes Leben zwischen einer Bevölkerung von anderer Sprache und anderem Wesen doch nicht behaglich sein und werden kann, um so weniger, je älter man wird.

Nachdem ich zwei Wochen lang mich dort satt gemalt hatte, fuhr ich mit dem Dampfschiff nach dem italienischen Teil des Sees und brachte mich in Pallanza unter. Die Landschaft erwies sich als hinreichend verschieden von der eben gehabten, so daß meine Malerei einen neuen Aufschwung nahm. Die Isola bella, die vor meinen Augen lag, mochte ich nicht besuchen, da mir das theatralische Wesen zuwider war. Dagegen besuchte ich die Granitbrüche von Baveno, um dort Feldspatzwillinge zu sammeln, deren Aufbau nach dem »Bavenoer Gesetz« ich mir schon in Dorpat eingeprägt hatte. Ich habe aber keine gefunden. Dagegen interessierte es mich, zu beobachten, wie die Arbeiter mit Hilfe einer Reihe von Meißeln, die methodisch geschlagen werden, den Granit in dünne Bretter zu spalten verstehen, die zur Einfassung der Gärten und Felder verwendet werden. Auch hier ergaben sich zahlreiche Bildstudien.

Vorbereitung auf Lübeck. Der große Vortrag: Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus, den[213] ich im Herbst auf der Naturforscherversammlung zu halten gedachte, beschäftigte mich bereits sehr. Es handelte sich hierbei für mich um einen Schritt, dessen Tragweite ich mehr fühlte als erkannte: die Wendung von der Einzelwissenschaft zur Philosophie oder Allgemeinwissenschaft. Ich bin ganz sicher, daß diese Wendung sich selbsttätig mit der Unwiderstehlichkeit eines natürlichen Wachstumsvorganges in meinem Geiste vollzog. Ich habe niemals das Gefühl gehabt, als stände ich an einem Scheidewege und müßte mich entschließen, ob ich meine Bahn rechts oder links suchen solle. Sondern ich war über die Richtung meiner Fortbewegung niemals im Zweifel und etwaige Erwägungen bezogen sich höchstens auf die Frage, wie geschwind ich fortschreiten sollte oder konnte.

Die erste Niederschrift für den Vortrag geschah auf der Heimfahrt vom Langensee in München. Ich weiß nicht mehr, an welcher Stelle ich dort hinter einem Tischchen saß und mit fliegender Hand etwa die Hälfte davon niederschrieb. Wohl aber weiß ich, daß dies unter Gefühlen der Erhebung geschah, die zwar nicht so stark waren, wie die der ersten Empfängnis der energetischen Gedanken, aber doch von ähnlicher Beschaffenheit.

Die Erkrankung. Die Vorgänge auf der Lübecker Versammlung habe ich schon erzählt. Sie waren von der Beschaffenheit, daß sie auch einen vollkräftigen Mann umwerfen konnten. Ich hatte seit dem Antritt meines Lehramts in Riga im Januar 1882 ununterbrochen aufbauende und schaffende Arbeit getan, deren Umfang und Mannigfaltigkeit beständig zugenommen hatte und mich bei den auftretenden Erschöpfungserscheinungen damit begnügt, mich gleichsam oberflächlich zu reparieren, bis die sichtbaren Zeichen des Verbrauchs zugedeckt waren. Nun aber waren die Reserven vollständig erschöpft und ich erlitt den unvermeidlichen Zusammenbruch.[214] Schlaflose Nächte, niedergedrückte Stimmung, die sich nicht überwinden ließ, Unfähigkeit zur Arbeit, Gedankenflucht, kurz die wohlbekannten Erscheinungen der Überbeanspruchung des Gehirns traten Ende 1895 bei mir auf und machten mich sehr unglücklich. Denn ich glaubte, wie jeder Kranke in solchem Zustande, daß nunmehr meine wissenschaftliche Tätigkeit zu Ende gekommen sei und wußte nicht, womit ich künftig mein Leben ausfüllen wollte.

Eine Beratung durch meinen Kollegen Flechsig, den Psychiater, klärte mich über die physiologischen Ursachen dieses Zustandes auf und erweckte Hoffnung auf seine Beseitigung. Nur völlige Ruhe und zunächst die Ausschaltung aller wissenschaftlichen Arbeit sei erforderlich, sagte er. Zustände, wie der meine, seien bei Gelehrten nicht selten und hätten sich meist vollständig beseitigen lassen.

So wandte ich mich an die vorgesetzte Behörde um einen Urlaub für das bevorstehende Sommersemester, der mir bereitwilligst gewährt wurde.

Bordighera. Nachdem ich die Vorlesungen beendet hatte, reiste ich im März zunächst an das Mittelländische Meer, um dort so viel Sonne zu genießen, als möglich war. Ich brachte mich in Bordighera unter, eigentlich aus keinem anderen Grunde, als weil dort die »sieben Palmen am Meeresstrand« stehen, die J.V. Scheffel in einem ausdrucksvollen Gedicht erwähnt. Zur Ausfüllung der bevorstehenden vielen leeren Stunden nahm ich den Malkasten und einen reichlichen Vorrat Farbtuben mit, ebenso mein photographisches Gerät.

Es fiel mir gar nicht schwer, mich auf das vorgeschriebene Pflanzenleben ohne ernstliche geistige Tätigkeit einzustellen. Denn ich hatte es gut mit dem Wetter getroffen, das mir den ärztlich vorgeschriebenen Sonnenschein nicht vorenthielt und mir lange und erquickliche[215] Spaziergänge ermöglichte. Das Malen, dem ich mich alsbald mit Behagen hingab, da die zugehörigen Hirngebiete nicht erschöpft waren, füllte einen großen Teil der Tage erfreulich aus. Nachdem die nähere Umgebung erschöpft war oder doch an Interesse verloren hatte, erforderte das Aufsuchen neuer Landschaften immer weitere Wanderungen, was durchaus den Anweisungen entsprach, die ich zwecks Genesung zu befolgen hatte. Meist machte ich von der gemalten Stelle auch eine Lichtbildaufnahme, die mich die Fehler erkennen ließ, welche ich bei der freihändigen Zeichnung begangen hatte. Dadurch erwarb ich mir allmählich eine größere Sicherheit, die räumlichen Verhältnisse der Landschaft richtig aufzufassen und darzustellen, und fand in solcher Beschäftigung einen Ersatz für die verbotene wissenschaftliche Arbeit, nach der ich übrigens kein Gelüst verspürte.

So hatte ich wenig Bedürfnis, mich der vorhandenen Gesellschaft in meinem Gasthof anzuschließen, die großenteils aus Deutschen bestand und einen angenehm ruhigen Eindruck machte. Ich erinnere mich nur einiger Gespräche, in die der Dichter und Schriftsteller R.v. Gottschall, damals schon ein recht alter Herr, mich verwickelte. Doch konnten wir, vermutlich wegen meines entschlossenen Realismus, keinen gemeinsamen Boden finden. Er war ein kleiner, beleibter, aber beweglicher Mann mit gefärbtem Haar oder Perücke, der seinem Schnurr- und Knebelbart sorgfältige Pflege angedeihen ließ, sonst aber sich etwas vernachlässigte, mit großen Säcken unter den Augen, die zuweilen wässerig ins Leere starrten.

Etwas später traf ich mit meinem lieben Kollegen und Institutsnachbar Leuckart zusammen, der seine Frau und seine kranke Tochter nach Bordighera gebracht hatte. Er war trotz seiner hohen Jahre heiter und rüstig, so daß er sich zu weiten Wanderungen mit mir willig[216] zeigte. Ich mache mir noch jetzt Vorwürfe, daß ich dabei nicht vorsichtig genug war, ihn vor Überanstrengung zu bewahren, die er übrigens schnell überwand. Mit seiner sprudelnden Laune hatte er sich bald eine Anzahl Freunde unter den Tischgenossen gewonnen, mit denen er auszog, um den Asti spumante, einen leichten und wohlfeilen Schaumwein, zu probieren, wie er in verschiedenen Kneipen des Ortes ausgeschenkt wurde. Ich muß bekennen, daß ich mich nicht ausschloß; auch ist es mir nicht schlecht bekommen.

Später traf noch ein anderer Leipziger Kollege, der Geologe Credner mit seiner Familie ein, gleichfalls ein ungewöhnlich lebensfroher Mann, nicht viel älter als ich. Doch waren wir nicht viel zusammen. Er war durch seine Frau der reichste unter den Leipziger Kollegen geworden und lebte entsprechend, obwohl er wie seine Gattin sich persönlich anspruchslos als gute Kameraden gaben. Ich aber gedachte der Ursachen, welche mich nach Bordighera geführt hatten und zog wieder frühzeitig mit dem Malkasten zu einsamen Wanderungen aus.

Freshwater Bay. Früh im Mai beendete ich diese erste Station auf dem Wege meiner Genesung. Mir war inzwischen die italienische Landschaft sehr langweilig geworden, ebenso wie das täglich sich in allen Einzelheiten wiederholende schöne Wetter und es fiel mir immer wieder die alte Schulscherzfrage ein: wer lacht über Italien? mit der Antwort: ein ewig blauer Himmel.

Somit reiste ich heim und stellte mich meinem Berater Flechsig vor, der recht zufrieden war und mir empfahl, den Frühling auf der Insel Wight zu verleben, deren Klima mir ermöglichen würde, weiterhin beständig im Freien zu sein. Ich begab mich nach dem kleinen Badeort Freshwater Bay im Westen der Insel, wo ich in einem Temperenz-Hotel bescheidene, aber ruhige und saubere Unterkunft fand.[217]

Mit diesem Aufenthalt war ich ganz besonders zufrieden. Das Wetter war meist sonnig und warm, aber im Gegensatz zu der ermüdenden Gleichförmigkeit an der Riviera zeigte jeder Tag in Beleuchtung, Wolkenbildung, Sonnenuntergang ein anderes Gesicht. Ebenso war das Meer mit den stark entwickelten Gezeiten unvergleichlich viel mannigfaltiger, als das Mittelmeer mit seinen unveränderlichen Ufern. So gab es beim Malen viel mannigfaltigere und schwierigere Aufgaben zu lösen und ich gab mich mit Freude dieser Arbeit hin.

Pfingsten. Eine sehr erfreuliche und willkommene Unterbrechung fand diese einsame, aber gut erfüllte Zeit durch einen Besuch, den mir W. Ramsay von London aus während der Pfingstfeiertage machte. Er wußte von meiner Erkrankung und war froh überrascht, mich anscheinend in voller Gesundheit vorzufinden. Da er sich an die ärztliche Vorschrift hielt, wissenschaftliche Fragen fern zu halten oder nur flüchtig zu berühren, kam das persönlich Menschliche um so mehr in den Vordergrund und brachte mir einige sehr glückliche Tage und ein dauerndes nahes Verhältnis zu diesem genialen Forscher. Es wurde erst durch den Weltkrieg zerrissen, dessen Erregung Ramsay in einen leidenschaftlichen Haß gegen alles Deutsche hineinriß. Er war eines der vielen Opfer der niederträchtigen Lügenpropaganda, mit welcher unsere Feinde schlimmer als mit Giftgasen gegen uns gewütet haben. Seine geringe Widerstandsfähigkeit gegen jene Verleumdungen, deren Unwahrheit ihm aus der guten und mannigfaltigen Kenntnis deutschen Wesens hätte deutlich sein sollen, die er sich bei seinen vielen Besuchen Deutschlands erworben hatte, beruhte vielleicht schon auf seiner Erkrankung, die ihn bald zum Tode führte.

Beginnende Genesung. Nachdem ich dergestalt ein Vierteljahr lang völlige Enthaltung von wissenschaftlicher[218] Arbeit geübt hatte, versuchte ich noch in Freshwater Bay vorsichtig, wieder den Betrieb aufzunehmen. Ich ließ mir einige Manuskripte schicken, die zur Aufnahme in die Zeitschrift eingesandt waren und auf Beurteilung und Entscheidung harrten. Das erste rührte von einem meiner Rigaer Assistenten namens Trey her, mit dem ich gleichzeitig das Realgymnasium besucht hatte. Er war damals mit einer ungewöhnlich schlechten Handschrift behaftet und hatte deshalb bei einem wandernden Schönschreibelehrer Unterricht genommen, der sich verpflichtete, jedem Schüler binnen vierzehn Tagen eine gute Handschrift beizubringen. Treys Eltern wendeten das nicht allzu hohe Entgelt daran und der Erfolg war erstaunlich, denn die Handschrift des Patienten wurde wirklich sicher und schön. Und was noch erstaunlicher war: sie blieb so durch Treys ganzes Leben. Leider habe ich ihn nicht nach dem Geheimnis dieses Erfolges gefragt.

Dies gut geschriebene Manuskript nahm ich zunächst vor, weil es am leichtesten zu lesen und somit zu beurteilen war. Es war ein schöner Frühsommernachmittag. Die Flut war vorüber und das zurücktretende Meer hatte eine Schicht sauber gewaschener Feuersteinknollen hinterlassen, die bald von der Sonne getrocknet waren. Hier lagerte ich mich und las, absichtlich langsamer, als ich es gewohnt war, die Arbeit durch. Der gewohnte Gedankenstrom ergoß sich wieder in das lange trocken gelegene Bett und ich fühlte mit Behagen, wie die gewohnten Denkmühlen den Betrieb wieder aufnahmen. Ich konnte nicht nur den Inhalt, der allerdings nicht eben schwierig war, sachgemäß beurteilen, sondern ich sah alsbald, wo die nächste Arbeit einzusetzen hatte, um die Angelegenheit über den erreichten Standpunkt hinaus zu fördern.

Der günstige Erfolg dieser ersten Probe machte mich sehr glücklich. An die unheimliche Möglichkeit, daß ich[219] auf meine Wissenschaft künftig dauernd verzichten müßte, hatte ich allerdings nie so ganz glauben wollen; ich mußte sie aber doch als denkbar zugeben. Nun sah ich, daß es sich wirklich nur um eine Erschöpfung, nicht um eine Zerstörung der Organe gehandelt hatte, von denen meine Fähigkeit zur wissenschaftlichen Arbeit bedingt war, und daß sie durch die gehabte Ruhe wieder bis zur regelmäßigen Funktionsbereitschaft gestärkt waren.

Ich hütete mich daher, sofort die anderen Abhandlungen vorzunehmen, sondern verordnete mir zwei Tage Ruhe, die ich wieder mit Wandern und Malen ausfüllte. Dann wurde etwas mehr und schwerere Arbeit vorgenommen, die wieder günstig verlief. So durfte ich nach dieser Richtung der Zukunft beruhigt entgegen sehen.

Um den erzielten Erfolg zu befestigen, besuchte ich in bequemen Zwischenzeiten die anderen Orte der schönen Insel, zuletzt in Gesellschaft meiner Frau, die gekommen war, um mich nach Hause abzuholen. Ich fühlte mich geheilt. Es lagen aber noch die langen Herbstferien vor mir, bevor ich meine Berufsarbeit wieder aufzunehmen hatte. Um so sicherer durfte ich auf eine dauernde Genesung rechnen. Körperlich war ich während der ganzen Zeit vollkommen gesund gewesen.

Nachkur. Als der Aufenthalt auf der Insel Wight beendet war, begannen bald die Schulferien der Kinder. Ich verbrachte sie mit der Familie am Meere in Heykendorf, nahe bei Kiel. Die wissenschaftliche Arbeit wurde bereits ernstlicher betrieben, indem ich von der angesammelten Literatur, über die in der Zeitschrift berichtet werden mußte, einen tüchtigen Vorrat zum Referieren mitnahm. Auch hier konnte ich mich überzeugen, daß nicht nur die Fähigkeit, im Strom der wissenschaftlichen Entwicklung frei mitzuschwimmen, völlig wieder hergestellt war, sondern auch das freiwillige Hervorsprießen neuer Gedanken aus den gegebenen Anregungen wieder[220] eintrat. Auch das Planen neuer Bücher, die ich schreiben wollte, trat ungerufen auf. Damals entstanden insbesondere die ersten Entwürfe der »Grundlinien der anorganischen Chemie«, die allerdings erst drei Jahre später fertig werden sollten.

Auch nach anderer Richtung wirkte jener Aufenthalt erfrischend auf meinen Zustand ein. An der Kieler Universität war damals Aloys Riehl als Professor der Philosophie tätig. Auf ihn hatte die Energetik einen starken Eindruck gemacht, insbesondere in der Form, wie ich sie vertrat. Bei persönlichen Begegnungen spendete er ihrem Erzeuger ein noch erheblich höheres Maß von Anerkennung, als ich auch bei freigebiger Selbsteinschätzung beanspruchen zu dürfen glaubte. Da zu der eben überwundenen gedrückten Gemütsstimmung die energische Ablehnung dieses wissenschaftlichen Gedankens seitens hochstehender Fachgenossen nicht wenig beigetragen hatte, wirkte diese gegenteilige Beurteilung wie Balsam auf eine schmerzhaft geschundene Stelle. Und wenn auch der hochgeschätzte Kollege später das Maß seiner Anerkennung weitgehend einschränkte, so bin ich ihm doch dauernd zu Dank verpflichtet für die seelische Wohltat, die er mir damals erwiesen hat.

Die Laboratoriumsarbeit. Bei meiner Rückkehr in die amtliche Tätigkeit, Herbst 1896, mußte ich noch wohl oder übel mich mit meinen Mitarbeitern im alten Institut einschachteln. Es waren zuletzt sogar Kellerräume, die bisher dem Hausmann als Wohnung gedient hatten, angepaßt worden. Doch alle faßten sich trotz der vielen Unzulänglichkeiten in Geduld, da der Umzug in die neue Anstalt so bald bevorstand. Mir waren alle diese Beanspruchungen etwas schwer zu ertragen und ich erwog ernstlich, ob nicht der ganze inzwischen errichtete Neubau zu spät gekommen war und seinen Zweck zu einem guten Teil verfehlen würde. Doch haben wir,[221] meine Mitarbeiter und ich, hernach noch ein Jahrzehnt im neuen Hause gearbeitet und die Ausbeute ist nicht geringer gewesen, als im alten.

Die Frage, ob ich persönlich noch zu experimentellen Arbeiten tauglich war, beschäftigte mich ernstlich. Denn das lange Fernsein vom Laboratorium hatte nicht, wie früher viel kürzere Unterbrechungen in mir eine Sehnsucht nach neuer Handarbeit ausgelöst. Es lag mir aber sehr daran, mich zu überzeugen, ob ich noch oder wieder imstande war, solche Arbeiten auszuführen. Durch den Gegenstand des dritten Bandes des Lehrbuches war ich auf gewisse Fragen über die Eigenschaften der festen Körper geführt worden. Diese waren durch die Lehren vom osmotischen Druck und der elektrolytischen Dissoziation ganz und gar in den Hintergrund gedrängt worden, denn diese Gesetze beziehen sich nur auf flüssige Lösungen. Feste Körper kamen nur ausnahmsweise und im Zusammenhang mit jenen in Betracht. Auch hatte mich die Bearbeitung des Gebietes für die erste Auflage des Lehrbuches schon damals erkennen lassen, wie stiefmütterlich dieser Teil der Wissenschaft bisher behandelt worden war. So führte ich im Winter 1896/97 eine Untersuchung über die Grenze des festen, d.h. kristallinischen Zustandes aus, bei der vielfach neue Fragestellungen und Forschungsmethoden zur Geltung kamen. Als Hauptergebnis stellte sich heraus, daß es der Menge nach eine untere Grenze des festen Zustandes gibt, unterhalb deren die kennzeichnenden Eigenschaften dieses Zustandes, insbesondere die Fähigkeit, in einer übersättigten oder überkalteten Flüssigkeit Kristallisation zu bewirken, nicht mehr nachweisbar sind. Diese Grenze liegt zwischen 10-10 und 10-12 Gramm, welches auch ungefähr die Grenze der mikroskopischen Sichtbarkeit ist. Und zwar gaben ganz verschiedene Methoden nahezu die gleiche Grenze. Außer diesem Ergebnis konnte ich noch eine[222] Anzahl anderer neuer Tatsachen und Betrachtungen mitteilen. Das Ganze gab eine ziemlich umfangreiche und interessante Arbeit.

Hierdurch konnte ich mich – und das war mir bei weitem das Wichtigste dabei – überzeugen, daß auch mein wissenschaftlich-schöpferisches Können im Laboratorium erhalten geblieben war. Ich durfte also die Sorgen beiseite tun, daß mir die Fähigkeit abhanden gekommen sei, eine Anzahl von lernenden Arbeitsgenossen mit Forschungsaufgaben und -mitteln zu versehen. Den Betrieb des Forschungslaboratoriums aufrecht zu erhalten, war ich somit noch imstande. Insbesondere hatte sich mir ein neues, äußerst fruchtbares Arbeitsgebiet aufgetan, in dem eine beliebig große Anzahl von Mitarbeitern angesiedelt werden konnte. Es war dies die Katalyse, auf welche bald näher eingegangen werden soll.

Der Verlust. Aber auch eine andere Tatsache war mir bei dieser Arbeit klar geworden, die nicht so erfreulich war. Die frühere unbegrenzte Freude an der wissenschaftlichen Handarbeit war nicht mehr vorhanden. Allerdings konnte ich mir sagen, daß dies eine natürliche Begleiterscheinung des Lebensalters sei. Ich war damals 43 Jahre alt und mir war ein Aufsatz im Gedächtnis geblieben, den ich längere Zeit vorher in der »Gartenlaube« gelesen hatte. Er hieß die Vierzig-Jahre-Krankheit und entwickelte den Gedanken, daß gerade besonders tätige Männer um das vierzigste Lebensjahr herum eine erste Enttäuschung oder Verstimmung zu erleben pflegen. Die Tätigkeit, die sie bisher ganz erfüllt und befriedigt hatte, beginnt plötzlich leer und zwecklos zu erscheinen. Die Erfolge, durch welche sie sich beglückt gefühlt hatten, verlieren diesen Gefühlswert und ein allgemeiner grauer Schleier senkt sich über das Dasein und seine Beziehungen. Das sei eine sehr häufige, fast normale Stufe[223] der persönlichen Entwicklung; sie lasse sich aber glücklicherweise überwinden.

In meinem Falle durfte ich annehmen, daß sich dieser Vorgang mit dem der Erschöpfung durch übermäßige Arbeit verbunden hatte, so daß beide sich nach der negativen Seite bis zu der Depression steigerten, die ich durchgemacht aber überwunden hatte. Auch diese Überlegung lehrte mich, das Erlebnis als ein physiologisches aufzufassen und nicht etwa als ein moralisches, wozu der nicht wissenschaftlich Denkende so leicht geneigt ist.

Historische Beispiele. Dazu brachten die geschichtlichen Forschungen, denen ich mich in Veranlassung meiner Geschichte der Elektrochemie (die eben beendet war) hingegeben hatte, zahlreiche Beispiele für die Tatsache, daß auch den eifrigsten und glücklichsten Forschern mit den Jahren die Lust an der Handarbeit schwindet. Liebig schrieb mit 40 Jahren: »Ich bin durch die Arbeiten am Schreibtisch so sehr der praktischen Seite unseres Handwerks entwöhnt, daß mir nur zu schnell die Geduld ausgeht, wenn ich selbst Hand anlegen muß.« Und selbst die Aussicht auf eine gemeinsame Arbeit mit Wöhler, die er noch vor wenigen Jahren als ein hohes Glück empfunden hatte, vermag zunächst nicht, ihn dauernd am Laboratoriumstisch festzuhalten. Doch haben beide einige Jahre später wieder eine gemeinsame Arbeit gemacht, die freilich die letzte blieb.

Und Wöhler schrieb mit 46 Jahren an Liebig: »Also auch Du bist so müde, so chemiemüde. Es ist mir dies ein ordentlicher Trost. Du glaubst nicht, wie müde ich bin, wie satt ich die Chemie habe, wie namentlich die organische Chemie mich ordentlich anekelt, mir wenigstens so langweilig ist, daß ich gähnen muß, wenn ich daran denke. Sind wir denn schon so alt, oder was ist es? Diese nervenschwächende Wirkung muß wirklich[224] der Chemie eigentümlich sein. Ich glaube, die materiellen Influenzen, die Dämpfe, Gerüche und all die Teufelstinkereien haben großen Anteil daran. Besonders ist es das Praktikum, was Einen so herunterbringt.«

Im gleichen Alter schrieb Liebig: »Seitdem ich wieder in Gießen bin, geht es mir wieder recht miserabel. Anderwärts bin ich gesund, ich schlafe und kann essen, was ich Lust habe, und alles dies schwindet, sobald ich das Arbeitszimmer oder das Laboratorium betrete; ich verdaue nicht und wache ganze Nächte durch, selbst wenn ich keine Arbeit vorhabe. Es wäre doch vielleicht besser gewesen, sich in Italien zu langweilen, als hier langsam zugrunde zu gehen. Beinahe möchte ich wünschen, die ganze Maschine stände still und alles wäre gut. Die Beschäftigung mit den jungen Leuten, die sonst meine Freude war, ist mir eine wahre Pein; eine Frage oder Auskunft macht mich ganz elend.«

Wöhler antwortet darauf: »Du schreibst ja ordentlich wie ein Hypochonder. Freilich geht es mir nicht viel besser, und auch ich bin durch das Praktikum oft bis zum Verzweifeln ermüdet. Es ist eben die Jugend, die uns fehlt. Die Maschine nützt sich täglich mehr ab, wie ein altes Uhrwerk.«

Abschied vom Labor. Ähnlich ist es auch mir ergangen. Im Anschluß an die eben erwähnte Arbeit untersuchte ich die Geschwindigkeit, mit der sich die Kristallisation einer überkalteten Schmelze in einer engen Röhre fortpflanzt. Da ich nicht bald zu einfachen und übersichtlichen Ergebnissen gelangte, gab ich die Arbeit auf und habe sie auch später nicht zu Ende geführt. Dies gab Anlaß zu einem Traum, der mich seitdem zuweilen plagt: daß ich irgendeine Arbeit begonnen hatte und sie ergebnislos mit der Empfindung aufgab, daß ich überhaupt zu nichts mehr brauchbar sei. Wenn ich dann aufwachte, konnte ich feststellen, daß irgendeine unangenehme[225] physische Ursache: verschobene Decke, unbequeme Lage oder dergleichen in die Einkleidung eines moralischen Leides geschlüpft war.

Einen halben Trost gewährte mir eine andere experimentelle Arbeit, die ich 1899 ausführte. W. Hittorf hatte an dem von H. Goldschmidt nach seinem Thermitverfahren hergestellten metallischen Chrom sehr merkwürdige Verhältnisse gefunden und ich benutzte eine kleine geschenkte Probe, um mir selbst eine Anschauung davon zu verschaffen. Hierbei fiel mir auf, daß die Wasserstoffentwicklung beim Auflösen des Metalls in Salzsäure bald ganz aufhörte, bald heftig einsetzte, ohne daß eine äußere Änderung der Verhältnisse stattfand. Eine genauere Beobachtung ergab, daß diese Zustände regelmäßig wechselten und mit der Uhr in der Hand konnte ich feststellen, daß die zeitlichen Abstände gleich waren.

Diese freiwillige Periodizität fesselte meine Aufmerksamkeit, denn die allgemeine Frage, wie aus stetigen Verhältnissen überhaupt ein periodischer Vorgang entstehen kann, war mir schon unter ganz anderen Bedingungen entgegengetreten. Nämlich bei den von R. Liesegang entdeckten periodischen Niederschlägen in Gallerten, den »Liesegangschen Ringen«. Damals hatte ich eine leidliche Erklärung gefunden, die aber nur den Sonderfall erfaßte und die ganz allgemeine Frage war dadurch nur dringender geworden.

Die erste Aufgabe gegenüber der neuen Erscheinung war die Erfindung eines Verfahrens, die erforderlichen Beobachtungen und Messungen mit geringstem Zeitaufwand und doch so umfassend wie möglich auszuführen. Einen Assistenten mit der stumpfsinnigen Aufgabe zu belasten, dabei zu sitzen und die Perioden aufzuschreiben, brachte ich nicht übers Herz. Beim Nachdenken fragte ich mich, ob der Vorgang sich nicht selbst aufschreiben[226] könne nach den Grundsätzen, welche der verehrte C. Ludwig in die experimentelle Physiologie eingeführt hatte. Die Geräte dazu kannte ich aus meinen Besuchen im physiologischen Institut. Bei geordneter Durchsicht der Möglichkeiten fand ich bald die Lösung in der elastischen Kapsel, deren Bewegungen sich selbst durch einen Schreibhebel auf einen bewegten Papierstreifen aufschreiben. Die nötigen Druckunterschiede ergaben sich, indem ich den Ausfluß des Wasserstoffs durch einen kapillaren Widerstand verzögerte. In kurzer Frist war ein Apparat erdacht und erbaut, welcher mit geringer Mühe sechs Versuche nebeneinander über beliebig lange Zeit auszuführen ermöglichte und die Ergebnisse in zierlichen Kurven ablieferte.

Wieder empfand ich die gewohnte Freude über die geglückte Lösung der technischen Aufgabe. Was die wissenschaftliche Seite anlangt, so wurden zwar zahlreiche beschränkte Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt; die vollständige Aufklärung aber mußte unterbleiben. Denn diese besondere Eigenschaft des Chroms fand sich nur bei den ersten Schmelzen; alles spätere Chrom löste sich ohne Schwingungen. H. Goldschmidt hat auf meine Bitte zahlreiche Sonderschmelzungen vorgenommen: es ist aber niemals wieder schwingendes Chrom entstanden. So mußte, als der Vorrat erschöpft war, die weitere Arbeit aufgegeben werden.

Es könnte hier noch von einigen weiteren experimentellen Arbeiten erzählt werden, die ich noch vor meinem Scheiden vom Amt und Institut ausgeführt habe und die wie meine alten Arbeiten vollen Erfolg ergaben. Es waren die Ausläufer einer Tätigkeitsform an Einzelfragen, die mehr und mehr in den Hintergrund treten mußten, weil die allgemeinen Probleme alles in Anspruch nahmen, was ich an freier Energie erübrigen konnte.

[227] Abrechnung. Zog ich die Summe aus diesen stark einschneidenden Erlebnissen, so mußte ich sagen, daß ich als ein Anderer aus ihnen herausgekommen war. Das Jugendfeuer, mit dem ich jede Art der Arbeit und Beanspruchung auf mich nahm, wenn sie nur im Dienst der vielgeliebten Wissenschaft stand, war ausgebrannt. Ich hatte damit zu rechnen, daß mir von nun ab ein gemessener Betrag Energie für meine Arbeiten zugewiesen war, mit dem ich auskommen mußte und dessen sachgemäße Bewirtschaftung für mich weiterhin eine wichtige Angelegenheit wurde. Zur Hervorbringung wissenschaftlicher Gedanken von wertvoller und selbständiger Beschaffenheit war ich noch geeignet, nicht mehr aber für die Durchführung ausgedehnter und anspruchsvoller experimenteller Arbeiten.

Am wenigsten hatten meine Fähigkeiten als Autor gelitten, obwohl ich in der Schreibtischarbeit weniger Maß gehalten hatte, als nach anderer Richtung. Zwar ganz unverletzt war ich auch hier nicht geblieben, denn für die Versenkung in die Arbeiten anderer Forscher zum Zweck ihrer methodischen Einreihung in den großen Wäscheschrank der Wissenschaft brachte ich nicht mehr die frühere frohe Hingabe mit. In dem Maße, als die Ausdehnung und Wichtigkeit meiner neuen Aufgaben wuchs (wenigstens nach meiner persönlichen Einschätzung), in gleichem Maße wurde ich weniger willig oder geschickt, mich auf fremde Gedanken einzustellen. Mein geistiger Muskelbau hatte vielleicht an gesamter Kraft gewonnen, hatte aber jedenfalls einen guten Teil seiner früheren Geschmeidigkeit eingebüßt. Bei der Begrenztheit menschlicher Energien ist dies vermutlich ein natürlicher und notwendiger Vorgang.

Einen erheblichen Verlust mußte ich aber bezüglich meines Gedächtnisses feststellen. Dies war früher ungewöhnlich gut gewesen. Als ich 1886 mein Lehrbuch[228] beendet hatte, waren mir nicht nur sämtliche Tatsachen, über die ich berichtet, und sämtliche Gedanken, die ich dazu ausgesprochen hatte, vollständig gegenwärtig, sondern ich konnte noch lange Jahre hernach die »Evidenzhaltung« (wie es in der österreichischen Kanzleisprache heißt) des gesamten Bestandes meiner Wissenschaft durchführen.

Dies war nun nicht mehr der Fall. Die letzte starke Gedächtnisleistung war meine Geschichte der Elektrochemie gewesen, wo ich das früher niemals geordnete und gestaltete massenhafte Material zu einem logisch- harmonischen Ganzen zusammengefaßt hatte, was ohne ein bereitwilliges Gedächtnis nicht ausführbar ist. Und schon hierbei hatte ich mit kleinen technischen Hilfsmitteln nachgeholfen. Nun mußte ich mich überzeugen, daß ich mich auf mein Gedächtnis nicht mehr verlassen konnte. Zuweilen versagte es in der Gestalt, daß ich Dinge nicht mehr wußte, die mir früher geläufig gewesen waren. Zuweilen, glücklicherweise selten, hatten sich sogar falsche Inhalte an die Stelle der richtigen geschoben. Diese unwillkommenen Feststellungen waren der erste Anlaß, daß mich Fragen des Ordnens von Tatsachen und Gedanken zum Zweck, sie jederzeit gebrauchsfertig zur Hand zu haben, zunehmend zu beschäftigen begannen. Denn solange man über seinen gesamten Bestand an Wissen gedächtnismäßig frei verfügt, empfindet man kein Bedürfnis nach Ordnung.

Diese Verhältnisse zeichnen sich deutlich nach außen ab. Solange mein Gedächtnis willig war, lag auf meinem Schreibtisch alles durcheinander, denn ich wußte ihn auswendig und konnte augenblicklich jedes Ding finden, das ich brauchte. Die Frauen, welche in Abwesenheit ihrer Männer deren Schreibtisch »aufräumen«, wissen nicht (und lassen es sich nur langsam klarmachen), daß sie damit die Beziehung zwischen den Gegenständen und ihrem örtlichen Erinnerungsbild im Gedächtnis des Inhabers[229] zerstören. Sie zwingen ihn, den Schreibtisch von neuem auswendig zu lernen, und dies zu einer Zeit, wo nach der Rückkehr die aufgehäuften Arbeiten besonders starke Ansprüche an den Mann stellen, der über diese zwecklose Mehrbelastung natürlich unwillig wird. Aber ich glaube nicht, daß es Frauen gibt, die nicht diese natürliche Reaktion als eine grobe Undankbarkeit empfinden und glaube auch nicht, daß diese Darlegungen einen großen Einfluß auf das Ordnungsbedürfnis der guten Frauen, die sie etwa lesen, gegenüber dem Schreibtisch des Mannes haben werden.

In dem Maße, als bei mir dies unterbewußte Ortsgedächtnis abnahm, mußte ich selbst mehr und mehr Ordnung auf meinem Schreibtisch und an meinen anderen Arbeitsplätzen einhalten. Und wenn ich jetzt bei einem Blick über diese Gebiete in meinen Arbeitszimmern feststellen muß, daß noch manches an der wünschenswerten Ordnung fehlt, so tröstet mich der Gedanke, daß dies als ein Beweis dafür gelten kann, daß mir von meinem früheren guten Gedächtnis noch einige Reste verblieben sind.

Der Unterricht. Am schwersten fand ich mich mit meinen neuen physiologischen Daseinsbedingungen ab insofern sie das Verhältnis zu meinen Schülern beeinflußten.

Das neue Laboratorium erwies sich bei der Übersiedlung als gut gefüllt und hat auch auf die Dauer die Fülle der Mitarbeiter nur eben beherbergen können, obwohl es geräumig angelegt war. Insbesondere war der Zuzug aus dem Auslande stark gewachsen, so daß zuzeiten in der Abteilung der selbständigen Arbeiten die Deutschen die Minderzahl bildeten. Es waren so gut wie alle Kulturvölker vertreten. Amerikaner und Engländer waren in Mehrzahl vorhanden, daneben Russen, Holländer, Italiener, Franzosen, Japaner usw. Ich habe mich stets bemüht, nicht der bei den deutschen Kollegen so verbreiteten Bevorzugung der Ausländer zu verfallen.[230]

Während ich im ersten Jahrzehnt meiner Leipziger Tätigkeit keine größere Freude gekannt hatte, als täglich von einem Schüler zum anderen zu gehen, um mit jedem seine Arbeit zu besprechen und wohl auch im Anschluß daran weitere Gedanken anzuregen und zu entwickeln, mußte ich nun zu meiner schmerzlichen Überraschung feststellen, das dies deutlich anders geworden war. Bewußt wurde es mir einmal plötzlich durch folgenden scheinbar gleichgültigen Vorfall. Ich pflegte die Besprechungen stehend zu erledigen, indem ich von einem Schüler zum anderen trat. Als mich – es war schon im neuen Institut – ein Schüler um eine etwas schwierigere Auskunft bat, suchte ich unwillkürlich nach einem Sessel, um sitzend die Sache zu behandeln. Das heißt: die Auskunft nahm so viel Energie in Anspruch, daß ich nach allen anderen Richtungen sparen mußte.

Hierdurch aufmerksam gemacht, prüfte ich mich sorgsam bei meinen späteren Rundgängen. Ich mußte mir zugeben, daß diese Tätigkeit, die ja die anspruchsvollste von allen ist, nicht mehr von freudigen Gefühlen begleitet war, sondern zunehmend als Last empfunden wurde. Auch hier überwand ich die schmerzliche Seite dieser Erfahrung durch die Einsicht, daß sie physiologisch und nicht moralisch zu beurteilen war.

Ich half mir praktisch dadurch, daß ich neben den Assistenten, die mir amtlich zugebilligt waren, noch mindestens zwei zur Betreuung der Schüler mit gleichem Gehalt anstellte, die ich aus meiner Tasche bezahlte. Da ich um jene Zeit reichliche Einnahmen hatte, die meisten durch das Bücherschreiben, so fiel mir dies nicht schwer. Ich habe auf solche Weise in den letzten Jahren meiner Lehrtätigkeit mehr als 50000 M. aufgewendet. Dadurch behielt jeder Assistent die Hälfte der Arbeitszeit frei für seine eigenen Forschungen und die Schüler wurden doch völlig ausreichend persönlich gefördert,[231] ohne daß ich überall einzugreifen hatte. Die Assistenten haben hernach sämtlich selbständige Professuren erlangt, waren also sicherlich fähig, ihres Amtes zu walten.

So hatte ich die Beruhigung gewonnen, daß ich trotz der durchgemachten Erkrankung die wissenschaftliche Arbeit in ihrem ganzen Umfange: Forschen, Schreiben, Unterrichten wieder leisten konnte, wenn auch unter etwas anderen Bedingungen als bisher. Da gleichzeitig die hellen und zweckmäßigen Räume des neuen Instituts ebenso dringend wie freundlich zu neuer Arbeit einluden, sah ich eine neue Blüte meiner wissenschaftlichen Tätigkeit vor mir. Aber schon waren die Fäden gesponnen, die meinen Wegen ganz andere Richtungen geben sollten.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 188-232.
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