Zweites Kapitel.
Das neue Arbeitsfeld und die ersten Früchte.

[15] Erste Tage in Leipzig. In meiner Ungeduld, sobald als möglich in die neuen Verhältnisse zu gelangen, war ich viel früher, als nötig nach Leipzig gereist und hatte meine Familie gleich mitgenommen. In demselben Gebäude, wo sich mein künftiges Institut befand, war auch eine Amtswohnung vorgesehen, in der sich vorher Professor Knop befunden hatte. Sie wurde nach dessen Auszug neu hergerichtet und ich fand bei meiner Ankunft noch die Handwerker tätig, so daß wir zunächst in einem Gasthof Unterkunft nehmen mußten. Wegen der Ferien waren auch nur wenige meiner neuen Kollegen anwesend, doch war glücklicherweise Wislicenus da, der mir die sehr nötigen Hinweise gab, wie ich meinen Anschluß an die große und berühmte Körperschaft der Leipziger Universität zu suchen hatte.

Die Schwierigkeiten hierbei waren nicht gering. Da ich nie, weder als Student, noch als Privatdozent einer deutschen Universität angehört hatte, so waren mir die hier üblichen Verhältnisse ganz unbekannt geblieben und ich lief beständig Gefahr, die entsprechenden Dorpater Sitten und Gewohnheiten ohne weiteres als auch für Leipzig geltend vorauszusetzen. Ich bin sicher, hierdurch vielfältig[16] Verwunderung, Anstoß und Unzufriedenheit verursacht zu haben. Da in solchen Fällen, so eifrig diese Dinge auch in den Universitätskreisen besprochen werden mögen, gerade derjenige nichts zu erfahren pflegt, dem eine Kenntnis besonders nützlich wäre, um eine bessere Anpassung zu erzielen, so glaube ich hierin einen der Gründe dafür suchen zu sollen, daß es mir später auch in Leipzig nicht gelingen wollte, mich ganz in die Verhältnisse einzuleben.

Die Unterrichtstätigkeit. Die von Wiedemann geleitete Anstalt hatte Physikalisch-chemisches Institut geheißen. In der Form, welche die mir zu übergebende Anstalt unter dem maßgebenden Einfluß von Professor Wislicenus angenommen hatte, erhielt sie den Namen Zweites chemisches Laboratorium. Dadurch war zum Ausdruck gebracht, daß sie, obwohl unter einem selbständigen Leiter, doch wesentlich als Ergänzung des von Wislicenus geleiteten Ersten Laboratoriums geplant war. Dies ist wohl auch der Hauptgrund gewesen, welcher die früher eingeladenen Kollegen zur Ablehnung veranlaßt hatte. Ich hatte diese Unterordnung in meiner Unkenntnis der Beweglichkeit der Deutschen Universitätsverhältnisse überhaupt nicht bemerkt. Denn meine bisherigen Erfahrungen in Dorpat hatten mich nur mit längst festgelegten und fast unbeweglich gewordenen Unterrichtsordnungen bekannt gemacht und ich nahm die Dinge hin, als müßten sie so sein. Auch bekenne ich gern, daß ich auch bei klarer Einsicht in die Verhältnisse die Berufung ohne weiteres angenommen hätte, so groß war der Abstand, sowohl beider Ämter wie auch der, den ich zwischen Wislicenus und mir empfand. Er war fast zwanzig Jahre älter als ich, hatte längst einen berühmten Namen gewonnen und galt als einer der ersten Vertreter seiner Wissenschaft. Sein ebenso würdiges wie wohlwollendes Auftreten hatte ihm eine Art väterlicher Autorität erworben[17] und so kostete es mich gar keine Anstrengung, mich in der von ihm gewollten Weise unterzuordnen.

Dies ergab folgende Verhältnisse. Damit in jedem Semester die neu eintretenden Studenten alsbald die grundlegende Vorlesung über anorganische Chemie hören konnten, wechselte ich mit ihm darin ab. Im anderen Semester sollte ich regelmäßig physikalische Chemie lesen. Mir war dies durchaus recht und ich habe diese Ordnung bis zur Berufung eines dritten Ordinarius für Chemie eingehalten, die sich sieben Jahre später als nötig erwies und von mir eifrig befürwortet wurde.

Der Laboratoriumsunterricht umfaßte zunächst die physikalische Chemie. Diesen hatte ich von Grund auf nach eigenen Plänen zu organisieren. Ferner war eine Abteilung für den chemischen Anfangsunterricht, analytische und präparative Chemie vorgesehen, der auf gleichem Fuße wie im Ersten Laboratorium einzurichten war, um die Gleichförmigkeit der Vorbildung zu sichern. Auch dies war willkommen; solcher Unterricht war auch im Wiedemannschen Laboratorium erteilt worden. Drittens aber sollte ich auch den Laboratoriumsunterricht der Pharmazeuten übernehmen. Dieser hatte zwar mit der physikalischen Chemie keinen Zusammenhang. Aber die Räume des Ersten Laboratoriums waren von Chemiestudenten und Doktoranden so überfüllt, daß Wislicenus um Platz zu schaffen, diese Abteilung jedenfalls abstoßen wollte.

Ich wandte vergeblich ein, daß ich von der Pharmazie nichts verstehe. Wislicenus sagte, daß er mir gleichzeitig als Assistenten seinen bisherigen Leiter dieser Abteilung, Dr. Beckmann abtreten wolle, und dieser sei selbst Pharmazeut gewesen und zudem so tüchtig und zuverlässig, daß ich mich nur formal um die Abteilung zu kümmern brauche.

Ich traute Wislicenus zu, daß er die vorhandenen Bedürfnisse und Möglichkeiten besser beurteilen konnte,[18] als ich, und ließ mich auf die organisatorische Seltsamkeit ohne Widerstand ein. Wieder habe ich bei diesem Spiel Glück gehabt, denn die Beziehung, in welche ich hierdurch zu Ernst Beckmann gelangte, hat uns beiden reichlich Freude und Gewinn gebracht.

Im übrigen, insbesondere was die Prüfungen der Mediziner, Pharmazeuten und Lehrer nebst den zugehörigen Einnahmen betraf, waren Rechte und Pflichten zwischen Wislicenus und mir gleichförmig geteilt.

Über die Assistenten ist mancherlei zu erzählen, was alsbald geschehen soll. Zunächst muß aber über den allgemeinen Stand der wissenschaftlichen Aufgaben berichtet werden, die der neuen Anstalt zu lösen gegeben waren.

Ein Wendepunkt der Wissenschaft. Es ist schon von anderen bemerkt worden, daß für die physikalische Chemie das Jahr 1887 ein kritisches Jahr erster Ordnung war, und zwar im Sinne einer ungewöhnlichen Fruchtbarkeit. Zunächst kann man den Abschluß des »Lehrbuchs der Allgemeinen Chemie« hierher rechnen, denn das Titelblatt trägt diese Jahreszahl, obwohl wie die Vorrede ausweist, das Werk schon 1886 fertig geschrieben war. Ferner begann mit diesem Jahr die »Zeitschrift für physikalische Chemie« zu erscheinen. Überlegt man, daß überhaupt das Bestehen einer objektiven Wissenschaft unabhängig von ihrem Vorhandensein in den Köpfen einzelner Forscher und Kenner durchaus und notwendig auf dem Vorhandensein eines entsprechenden Schrifttums beruht, so wird man bereitwillig sein, beiden Ereignissen eine erhebliche Bedeutung für den endgültigen Eintritt der physikalischen Chemie in den Kreis der Schwesterwissenschaften zuzuschreiben, deren Entwicklung von da ab stetig und immer schneller erfolgte. Während die vorher von Wiedemann und nun von mir bekleidete Leipziger Professur damals der einzige Lehrstuhl dieses Faches in der ganzen Welt[19] war, gibt es heute nach einem Menschenalter wahrscheinlich keine Hochschule in der ganzen Welt, an welcher es nicht vertreten wäre. Auch die Spaltung in Sonderfächer hat bereits begonnen, zum Zeichen, daß heute schon die neue Wissenschaft zu groß geworden ist, als daß sie in eines Menschen Kopf gedeihliche und fruchtbare Unterkunft finden könnte.

Ferner war in einem mittleren Heft des ersten Jahrganges der Zeitschrift ein Aufsatz des Mitherausgebers J.H. van't Hoff erschienen mit dem damals seltsam klingenden Titel: Die Rolle des osmotischen Drucks in der Analogie der Lösungen mit den Gasen, deren Inhalt sich als unabsehbar folgenreich für die Entwicklung des Faches ausweisen sollte, das auf Grund der hier mitgeteilten Einsichten tatsächlich in gewissen ausgedehnten Gebieten eine neue Wissenschaft wurde. Neben jenem schöpferischen Gedanken van't Hoffs war im gleichen Jahr 1887 der nicht minder schöpferische Gedanke der elektrolytischen Spaltung (Dissoziation) von Arrhenius an das Licht getreten. Auch von diesem Punkte aus entwickelte sich schnell ein großes und neues Gebiet der Wissenschaft.

Die Organisation der physikalischen Chemie. Es ist in der Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit üblich geworden, mit den Namen van't Hoff und Arrhenius auch den Namen Wilhelm Ostwald zu verbinden, obwohl er nicht durch eine gleichwertige Entdeckung um dieselbe Zeit hervorgehoben wurde. Dies liegt daran, daß in meiner Person sich der organisatorische Faktor verkörperte, ohne welchen eine derart schnelle und weitreichende Gestaltung eines neuen Wissensgebietes nicht stattfinden kann.

Denn die neue Wissenschaft gewann durch meine Berufung nach Leipzig einen geographischen und schulebildenden Mittelpunkt. Wäre damals noch Wiedemann[20] Inhaber des Lehrstuhls und Laboratoriums gewesen, so wären jene 1887 veröffentlichten großen Entdeckungen längere Zeit unwirksam geblieben. Wiedemann nahm nämlich alsbald eine gegnerische Stellung zu den neuen Fortschritten ein. Entsprechend seinem Naturell, das jedem entschiedenen Ausdruck einer bestimmten Meinung abgeneigt war, betätigte er diese Einstellung zwar nicht durch öffentliche Äußerungen, wohl aber nach vielen Seiten in seinem sehr ausgedehnten privaten Verkehr, natürlich stets unter Wahrung der freundlichsten Formen in seinem persönlichen Verhalten zu mir. Und als die Zeit gekommen schien, trat auch sein Sohn Eilhard, der mit ihm in der Beurteilung der neuen Lehre übereinstimmte, öffentlich gegen sie auf, wie seinerzeit berichtet werden soll.

Damit wäre also Deutschland für uns verschlossen gewesen, denn ein anderer Lehrstuhl war hier nicht vorhanden und auch der sonst uns nahe stehende Lothar Meyer befand sich unter den Gegnern speziell der Lehre van't Hoffs. Zwar war dieser selbst in Amsterdam Professor und Leiter eines eigenen Laboratoriums. Aber er fühlte sich nicht zum Lehrer und Führer einer tätigen Bewegung berufen und war zudem durch zeitraubende Amtsarbeiten von nichtwissenschaftlicher Beschaffenheit in seiner Tätigkeit sehr eingeschränkt. Und Arrhenius befand sich noch in den Wanderjahren, denn es verging längere Zeit, bis er in seinem Vaterlande eine Lehrstellung erlangen konnte.

Dagegen war ich völlig bereit und willig, die mir zur Verfügung stehenden Mittel rückhaltlos in den Dienst der neuen Lehre zu stellen. Von unerschöpflicher Freude am Lehren beseelt und auch der sonst erforderten Voraussetzungen erfolgreicher Lehrtätigkeit nicht ermangelnd, konnte ich die Leipziger Anstalt leicht zum Vorort der nun eintretenden Arbeiten und auch Kämpfe machen.[21] Die neue Zeitschrift bot den Raum für die Veröffentlichung unserer Ergebnisse und so darf man sagen, daß nur selten ein neuer Sproß an dem Riesenbaum der Wissenschaft alsbald so günstige Bedingungen des Gedeihens gefunden hat, wie die junge physikalische Chemie.

Der in dem gleichen ersten Jahrgang 1887 der Zeitschrift erschienene Aufsatz von S. Arrhenius über die Dissoziation der in Wasser gelösten Salze, der neben jener Abhandlung von van't Hoff die zweite Grundlage für die alsbald einsetzende Entwicklung der neuen Wissenschaft ergab, ergänzte nämlich jenen ersten auf das fruchtbarste und der Ausbau der gemeinsamen Folgerungen bildet den Hauptinhalt der Entdeckungen, die sich bald in ungewohnter Fülle und Mannigfaltigkeit aus diesen Quellen ergießen sollten.

Der osmotische Druck. Der Fortschritt, den van't Hoff in der oben erwähnten Arbeit bewirkt hatte, läßt sich folgendermaßen kennzeichnen. Für die chemische Mechanik, die Lehre vom Gleichgewicht der Stoffe und der Geschwindigkeit der Vorgänge zwischen ihnen, waren auf Grund der sichersten Wissenschaft, die es hierfür gab, der Thermodynamik, die entsprechenden Gesetze in erster Linie durch Horstmann (I, 197) entdeckt und aufgestellt worden. Sie waren aber praktisch von geringer Bedeutung, da sie sich auf die Verhältnisse zwischen Gasen beschränken mußten, und nur wenige Fälle chemischer Gleichgewichte und Vorgänge zwischen Gasen untersucht werden können. Die große Menge liegt hier im Gebiet der flüssigen, insbesondere der gelösten Stoffe.

Nun hatten zwar einzelne Forscher, insbesondere J. Thomsen (I, 228) eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Gasen und verdünnten Lösungen erkannt und ausgesprochen. Aber man wußte nicht, wie weit diese geht, und worin sie eigentlich besteht.[22]

Hier griff der Gedanke vant' Hoffs ein, welcher diese Fragen genau beantwortete, mit dem Ergebnis, daß die bekannten Gasgesetze auch für Lösungen gelten, daß also auch jene thermodynamische Theorie der chemischen Mechanik nunmehr auf alle verdünnten Lösungen sich anwenden ließ. Damit war plötzlich der Weg geöffnet, um zahllose Aufgaben zu lösen, denen man sich bisher nicht zu nähern gewußt hatte.

Und der Schlüssel zu diesem neuen Lande war eben der osmotische Druck.

Der Name rührt aus der Botanik her. Osmose heißt die selbsttätige Wanderung der in den Zellen gelösten Stoffe durch die Zellhäute in solchem Sinne, daß sie sich überall gleichförmig in den Zellflüssigkeiten aus breiten, ebenso wie ein Gas nicht eher zur Ruhe kommt, bis es seinen Raum gleichförmig ausgefüllt hat. Die Zellwände hindern aber oft die Ausbreitung und diese betätigt sich dann mit einer gewissen Gewalt, welche zuweilen die hindernden Wände sprengt. Dies sind Tatsachen, welche den Botanikern längst geläufig waren.

W. Pfeffer (I, 262) unternahm, die hier wirksamen Kräfte genauer zu untersuchen. Er stellte künstliche Zellen her, deren Häute er durch einen sinnreichen Kunstgriff so gestaltete, daß sie viele gelöste Stoffe nicht durchließen, während sie für Wasser frei durchgängig waren, und daß sie gleichzeitig fähig waren, auch stärkeren Drucken zu widerstehen. Er füllte sie mit Lösungen von solchen Stoffen, die nicht durch die Wände gehen konnten und setzte sie in reines Wasser, nachdem er sie verschlossen hatte. Das Ergebnis war, daß im Inneren der künstlichen Zelle ein starker Druck entstand, derselbe Druck, der zuweilen die Pflanzenzellen sprengte. Durch einen angebrachten Druckmesser bestimmte er die entstehenden Druckgrößen, die ganz überraschend hoch waren, und stellte ihre Gesetze fest. Damit hatte er die physikalische[23] Unterlage für seine pflanzenphysiologischen Arbeiten gewonnen. Für die physikalische Deutung seiner Beobachtungen hatte er vergeblich einen so hervorragenden Forscher wie Clausius zu gewinnen versucht (I, 262).

Hier griff nun van't Hoff ein. Er zeigte, daß der osmotische Druck, den ein gelöster Stoff ausübt, ganz und gar denselben Gesetzen folgt, wie der gewöhnliche Druck, den ein Gas ausübt. Dies geht so weit, daß sogar die Zahlenwerte beider Drucke unter gleichen Umständen gleich groß sind.

Nun werden die chemischen Vorgänge und Gleichgewichte bei den Gasen in erster Linie durch ihre Drucke bestimmt und jene thermodynamischen Gesetze beziehen sich auf diese, wie sie vom Raum und von der Temperatur abhängen. Man brauchte also nur die Druckgröße in den Formeln als osmotische Drucke zu deuten, um die Gesetze der chemischen Mechanik für gelöste Stoffe vor sich zu haben.

Verglich man diese Formeln mit denen, welche sich experimentell aus den wenigen Untersuchungen hatten ableiten lassen, die über diese Fragen mit Lösungen angestellt waren, so erwiesen sie sich grundsätzlich übereinstimmend. Nur gingen sie viel mehr ins einzelne, enthielten also weitergehende Antworten auf die allgemeinen Fragen.

Persönliche Einstellung. Man kann sich leicht vorstellen, welchen gewaltigen Eindruck diese Offenbarung auf mich machte. Ich hatte vor kurzem für den letzten Teil meines Lehrbuches alle Arbeiten über chemische Gleichgewichte und Vorgänge zusammen gesucht und vergleichend bearbeitet, und dabei festgestellt, daß alle diese Einzelforschungen zu den gleichen Gesetzen führten. Meine experimentellen Arbeiten hatten keinen anderen Gegenstand gehabt, als die gleichen Fragen. Und hier erschienen alle diese Einzelheiten als Sonderfälle einer ganz allgemeinen Gesetzlichkeit. Die chemische Mechanik[24] trat damit auf die gleiche Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung, wie sie etwa die Mechanik des Himmels erreicht hatte. Die durchgreifende und maßgebende Tendenz meines gesamten wissenschaftlichen Denkens, das Herausarbeiten möglichst allgemeiner und dabei möglichst inhaltreicher Gesichtspunkte und Gesetzlichkeiten fand hier eine ungewöhnlich reiche Befriedigung.

Zeitlich war der Fortschritt freilich für mich in eine höchst unbequeme Zeit gefallen. Die Abhandlung wurde in einem der letzten Hefte der Zeitschrift gedruckt, die ich noch von Riga aus bearbeitet hatte und die Arbeiten und Sorgen des Umzuges von dort nach Leipzig und der Eingewöhnung in die neuen Verhältnisse legten sich dazwischen und verzögerten ihre Assimilation. Sobald aber diese Hindernisse überwunden waren, erwies sich der neue Gedanke auch befruchtend für meine laufenden Arbeiten.

Die elektrolytische Dissoziation. Die geniale Theorie van't Hoffs hatte zwar das Licht erblickt. Sie war aber mit einem Geburtsfehler zur Welt gekommen, der sich als nahezu lebensgefährdend erwies. Während sie nämlich auf eine gewisse große Gruppe von Stoffen, die sogenannten indifferenten, restlos Anwendung fand, ließ sie für die anderen, welche bei weitem die wichtigeren waren, nämlich die Salze mit Einschluß der Säuren und Basen, diesen Anschluß vermissen. Um ihn zu erzielen, mußte van't Hoff in die Gleichungen einen rätselhaften Faktor i einführen, der größer als eins war und seinerseits bestimmten Gesetzen zu gehorchen schien, für den aber eine rationelle Deutung zurzeit nicht zu finden war.

Dies war die Sachlage, als mir, schon in Leipzig, das andere Manuskript für die Zeitschrift zuging. Es rührte von Freund Arrhenius her und trug den Titel: Über die Dissoziation der in Wasser gelösten Stoffe.

Dissoziation heißt Spaltung oder Zerfall. Mit diesem Namen hatte man in der Chemie eine Gruppe von Vorgängen[25] bezeichnet, bei denen zusammengesetzte Stoffe in einfachere zerfallen, meist unter dem Einfluß der Wärme. Sind unter den erzeugten Stoffen gasförmige, so folgen die Vorgänge bestimmten einfachen Gesetzen, die ich gleichfalls im Lehrbuch zusammengefaßt, bearbeitet und dargestellt hatte.

Die Untersuchungen über die Leitfähigkeit der Elektrolyte, d.h. der Salze, Säuren und Basen, mit denen Arrhenius seine wissenschaftliche Laufbahn eröffnete (I, 216), hatten ihn zu der Erkenntnis geführt, daß die Leitung nur von einem Teil der Elektrolyte bewirkt wird, welcher den Elektrizitätsmengen gleichsam die Schiffe liefert, mit denen sie den Strom entlang fahren, die positiven abwärts, die negativen aufwärts. Der andere Teil ist dagegen unwirksam. Worauf die Verschiedenheit beruht, hatte er damals vergeblich zu ergründen versucht; die in Betracht gezogenen Möglichkeiten konnten das Rätsel nicht lösen. Auch während unserer gemeinsamen Arbeit in Riga 1886 war kein Fortschritt erzielt worden. Ein solcher gelang ihm aber im Jahre des allgemeinen Heils 1887 durch den radikalen Gedanken, daß die leitenden Teile der Elektrolyte vollständig in ihre Bestandteile, die Ionen, zerfallen seien, während die unveränderten Teile nicht leiten.

Den Namen Ionen hatte bereits Faraday eingeführt, der gefunden hatte, daß in den Elektrolyten die Bewegung der Elektrizität stets nur gleichzeitig mit deren Teilstücken stattfindet, die er Ionen nannte. Er hatte aber geglaubt, und ebenso seine Nachfolger, daß erst der eingeleitete Strom die Spaltung bewirkte. Dagegen hatte allerdings Clausius schwerwiegende Bedenken erhoben und wenigstens für einen ganz kleinen Bruchteil des Elektrolyts angenommen, daß er sich schon ohne den Strom in seine Ionen spaltet und daß diese die Elektrizität transportieren.

[26] Arrhenius dagegen zeigte, daß es mit einem kleinen Bruchteil nicht getan ist. Vielmehr muß man bei den meisten Salzen, den starken Säuren und Basen annehmen, daß sie in ihren elektrolytisch leitenden Lösungen zum größten Teil gespalten sind, so daß diese nicht sowohl Lösungen der Salze sind, sondern vielmehr Lösungen der Ionen, die durch ihren Zerfall entstehen, neben etwas unzersetztem Salz.

Für diese revolutionäre Ansicht führte er eine ganze Reihe guter, ja unwiderleglicher Gründe an. Für uns ist der wichtigste der, daß der rätselhafte Faktor i, welcher die Lehre vom osmotischen Druck verunstaltete, sich im Licht dieser Betrachtung als die Anzahl der Ionen erweist, in welche das gelöste Salz zerfällt. Diese läßt sich einerseits aus der chemischen Formel entnehmen, andererseits aus gewissen Eigenschaften der Lösungen, insbesondere ihren Gefrierpunkten, welche die Berechnung des i nach anderen Formeln van't Hoffs ermöglichen. Hierüber lag ein ausgedehntes Material vor, das der französische Forscher F.M. Raoult eben beschafft hatte, und Arrhenius konnte zeigen, daß die beiderseits bestimmten i-Werte durchaus die von seiner Theorie geforderte Übereinstimmung zeigten.

Das ist eine Entwicklung, wie sie für ein klug erfundenes Drama nicht wirksamer erdacht werden könnte: aus dem Stein des Anstoßes wird eine ragende Triumphsäule. Ich zweifle nicht, daß von denen, die durch die steigende Wichtigkeit der Angelegenheit angezogen, ihren Weg in der Stille beobachteten, viele stark beeindruckt, vielleicht schon überzeugt wurden. Nach außen wurde zunächst hiervon nichts sichtbar. Vielmehr wirkte die Neuheit von Arrhenius' Gedanken so verblüffend, daß er zunächst vielfach instinktive Abwehrbewegungen auslöste.

Eigene Mitarbeit. Ich selbst zweifelte keinen Augenblick. Mir war die Grundidee schon aus früheren privaten[27] Mitteilungen geläufig gewesen; sie traf mit eigenen Gedankengängen zusammen, die ich schon ein Jahrzehnt früher begonnen, aber nicht zu Ende geführt hatte. In meiner Magisterdissertation von 1877 lautet die dritte der beigefügten Thesen: Das Wasser zersetzt alle Salze.

Dieser kurze Satz war der Niederschlag eines langen und immer wieder auf einsamen Wanderungen aufgenommenen Nachdenkens über das, was zwischen einem Salz und dem Wasser vor sich geht, wenn beide zu einer Lösung vereinigt sind. Alle Zeichen eines chemischen Vorganges lassen sich dabei erkennen: Wärmewirkungen, Raumänderungen, Beeinflussungen aller meßbaren Eigenschaften, die mit steigender Verdünnung relativ zunehmen. Und doch wird in den meisten Fällen das Salz durch einfaches Verdunsten des Wassers unverändert wiederhergestellt. Es mußte also eine besondere Art chemischer Vorgänge sein. Welche Art, konnte ich aber nicht herausbringen. So legte ich das Problem in jenen Thesen nieder, die dazu bestimmt waren, Problematisches zu enthalten.

Nun war die Antwort auf jene alte Frage gegeben. Damit entstand auch für mich ein Anlaß, in die Angelegenheit einzugreifen und die Synthese oder Symbiose beider Lehren, die sich zunächst nur in der Aufklärung des irrationalen Faktors i offenbart hatte, noch inniger und vollständiger zu vollziehen. Dies geschah im unmittelbaren Anschluß an die in Riga begonnenen und durch die Übersiedelung unterbrochenen Untersuchungen über die elektrische Leitfähigkeit der organischen Säuren.

Das Verdünnungsgesetz. In dem von W. Knop verlassenen Laboratorium fand ich nur eine sehr geringe Ausstattung vor, da er keine Schüler gehabt und in den letzten Jahren nur wenig experimentiert hatte. Ich mußte also, was mir sehr willkommen war, die Geräte neu besorgen, wozu mir das Ministerium ausreichende Mittel bewilligt hatte.[28]

Da zunächst die Praktikanten mich nur wenig beanspruchten, behielt ich Zeit genug, um meine unterbrochenen Forschungen wieder aufzunehmen. Eine Werkstatt mit Drehbank wurde eingerichtet und in meinem Arbeitszimmer ein Thermostat aufgebaut. Das Gerät zur Messung elektrischer Leitfähigkeiten wurde hergestellt, zunächst mit einem vom benachbarten physikalischen Institut geborgten Widerstandskasten. Beim Durchmessen einiger schon in Riga untersuchter Säuren stellte sich heraus, daß das Leipziger Wasser viel besser war, als das Rigasche, so daß ich bei höheren Verdünnungen erheblich zuverlässigere Werte fand. Diese kleine Verbesserung hatte große Folgen.

In meinem Geist hatte nämlich die oben beschriebene gegenseitige Hilfe beider Lehren alsbald den nahliegenden Schluß bewirkt, daß nunmehr die Gasgesetze auch zur Aufklärung der Gleichgewichte zwischen den Ionen angewendet werden können, ebenso, wie Horstmann sie seinerzeit auf die Gleichgewichte zwischen Gasen (I, 197) angewendet hatte. Solche Gleichgewichte liegen insbesondere bei den schwachen, d.h. nur teilweise zerfallenen Säuren vor, als deren Typus die Essigsäure gelten konnte. Ich unterwarf alsbald meine neuen, unter besseren Bedingungen als in Riga ausgeführten Messungen einer entsprechenden Berechnung und erhielt eine vollkommene Bestätigung der erwarteten Verhältnisse. In einer kurzen Nachricht, datiert Januar 1888 teilte ich diesen Befund der wissenschaftlichen Welt mit und hob hervor, daß insbesondere die Gesetze, die ich für die Beziehung zwischen Leitfähigkeit und Verdünnung gefunden hatte, sich restlos aus jenen Voraussetzungen ableiten lassen. Damit war das »Ostwaldsche Verdünnungsgesetz« aufgestellt, an welches sich seitdem eine ganze Thermodynamik der Ionen geknüpft hat. Denn die gleiche Grundannahme gestattet natürlich noch eine[29] große Anzahl weiterer Anwendungen, die auch bald teils von meinen Mitarbeitern, teils von mir ausgeführt wurden. Für den Begriff der »freien Ionen« war aber der Nachweis erbracht, daß sie sich tatsächlich wie individuelle Stoffe verhalten, deren einzige Abhängigkeit darin besteht, daß wegen ihrer großen elektrischen Ladungen die Summe der positiven und die der negativen Ionen (nach Ladungseinheiten gerechnet) stets gleich groß sein muß.

Widerstände und Hilfen. Die Theorie der elektrolytischen Spaltung von Arrhenius erregte in den Fachkreisen die allergrößten Bedenken und ich wurde mehrfach gewarnt, nicht so vorbehaltlos für sie einzutreten. Meine Gegenbitte, die Einwände genau auszusprechen, wurde meist abgelehnt; nur G. Wiedemanns Sohn Eilhard, der inzwischen Professor der Physik in Erlangen geworden war, entschloß sich endlich dies zu tun und mir einen entsprechenden Aufsatz für die »Zeitschrift« mitzuteilen. Dies geschah im März 1888 und ich beeilte mich, ihn zu veröffentlichen. Die Einwendungen ließen sich alle ohne Schwierigkeit widerlegen; auch M. Planck griff ein und zeigte, daß ein Haupteinwand auf einem Irrtum beruhte. E. Wiedemann verzichtete auf eine Antwort und auch die in Aussicht gestellte ausführliche Diskussion »über die Sicherheit mancher physikalisch-chemischer Schlußfolgerungen überhaupt« wurde nicht veröffentlicht.

Eine unerwartete Hilfe gewannen wir durch die unabhängigen Forschungen des ausgezeichneten mathematischen Physikers Max Planck. Dieser hatte von einem eigenen Standpunkt aus die allgemeinen Gesetze des chemischen Gleichgewichts entwickelt, wobei er wesentlich zu den gleichen Ergebnissen gelangt war, wie die früheren Forscher, doch auch in wichtigen Punkten darüber hinaus. Auch die Gefrierpunkterniedrigungen der Salzlösungen hatte er mit den Forderungen der Theorie verglichen und dabei festgestellt, daß in diesen Lösungen[30] mehr Molekeln enthalten sein müssen, als den üblichen Formeln entsprechen, doch hatte er sich enthalten, über die Art der Vermehrung sich zu äußern. Er ergriff zu dieser Diskussion gleichfalls das Wort und wies nach, daß E. Wiedemanns Erklärungsversuch durch Polymerisierung des Wassers das nötige nicht leistet. Denn die Molekulargröße des Wassers hebt sich aus der Gleichung heraus und kommt gar nicht in Betracht.

Dies war und blieb zwar der einzige öffentliche Angriff aus dem Lager der Gegner, doch waren diese keineswegs für die Lehre gewonnen, sondern sie setzten ihre Angriffe in privaten Äußerungen und Beeinflussungen der Studentenschaft fort. Zweifellos wurden hierdurch viele abgeschreckt. Doch hatte dies das Gute, daß die große Menge von Mittelgut, die sich sonst auf ein hoffnungsvolles Feld zu stürzen pflegt, sich von unserer Arbeit fern hielt und unsere Zeit nicht in Anspruch nahm. Es blieben nur selbständig denkende Köpfe übrig, die sich den neuen Gedanken zuwendeten und naturgemäß die einzige Stelle aufsuchten, an welcher diese gelehrt und zur Entdeckung neuer wissenschaftlicher Wahrheiten durch das von der Theorie geleitete Experiment angewendet wurden.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 15-31.
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