Hamburg

1794–1800

[75] Mit günstigem Winde fuhren wir von Harburg zwischen den grünenden Inseln der flutenden Elbe hin, hatten schnell Hamburg und den vor ihm liegenden Wald von Masten vor Augen, lenkten vorsichtig in den Binnenhafen ein, arbeiteten uns durch das Gedränge hoher Schiffe, schwerer Ewer und leichter Jollen allmählich durch und landeten endlich am Baumhause, wo dichte Scharen Geschäftiger und Neugieriger uns aufnahmen. Man hielt uns für französische Emigranten und machte uns als solchen schiefe Gesichter und für das Weiterschaffen des Gepäckes unbillige Forderungen; allein mein Vater, der holländischen Sprache kundig, verständigte sich bald mit den hamburgischen Arbeitsleuten, deren Mundart mir hingegen völlig fremd klang, und wir nahmen unsern Weg zu einem herrlich auf den Butenkaien gelegenen Gasthofe; ich sah, daß mein Vater und der Karrenschieber in guter Zufriedenheit voneinander schieden und letzterer freundliche Entschuldigungen machte, über die jener lachen mußte; so viel verstand ich davon, daß es hart über die Emigranten herging, die sich dem gemeinen Mann in Hamburg, wie fast aller orten, durch ihr anspruchsvolles Benehmen sehr verhaßt gemacht hatten.

Der Eindruck der neuen Gegenstände, dieser gewaltigen Seeschiffe und des tätigen Hafenlebens, das durch viele Kanäle tief in das Innere der Stadt sich verzweigte; des endlosen Gewirres dieser volksbewegten, geschreivollen und engen Straßen, in denen doch ansehnliche hohe Häuser prangten; der mir neuen, in ihrer ausdrucksvollen Derbheit doch weichen und angenehmen Sprache; der auffallenden, höchst mannigfachen Trachten, in welchen viele Gewerbe hier eigentümlich auftraten und die umliegenden Landschaften und Inseln ihre absonderliche Weise darstellten: dieser Eindruck überbot alles, was mir bisher noch vorgekommen[76] war. Der Rhein mit seiner schon dem Seewesen anstreifenden Schiffahrt, das altehrwürdige große Köln, das lebenvolle prächtige Brüssel, die schönen Städte Mannheim und Straßburg, alles mußte gegen diese neuen Bilder im Schatten stehen. Gleich bei dem ersten Ausgange, den ich mit meinem Vater machte, war ich nicht wenig überrascht, nachdem wir durch das Innere der Stadt gedrungen waren, jenseits derselben abermals eine Wasserwelt vor uns ausgebreitet zu sehen, hier von der Alster gebildet, die, in weitem Becken aufgestaut als Binnenalster, die schöne Straße des Jungfernstiegs bespülte und von allerliebsten, zu Lustfahrten bestimmten Ruder- und Segelbooten wimmelte, denen die außerhalb des Walles zur See erweiterte große Alster den weitesten Spielraum öffnete. Wir bestiegen sodann den die Stadt rings einschließenden hohen, mit herrlichen Schattenbäumen bepflanzten Wall und hatten die volle Übersicht sowohl des Innern der Stadt, aus dem damals sechs stolze Kirchtürme mächtig emporragten, als der reichen, von Gärten und Landhäusern erfüllten Umgegend und, indem wir uns von der Alster ab- und der Elbe wieder zuwendeten, bald auch den Anblick Altonas und des mächtigen Elbstromes, bedeckt mit Schiffen jeder Art und Größe.

Vielleicht möchte man dem Sinn eines noch nicht zehnjährigen Knaben kaum zutrauen, auf solche Einzelheiten mit Bewußtsein zu merken, und noch weniger, sie in einen Gesamteindruck zusammenzufassen; ich kann jedoch versichern, daß jedesmal, wenn in der Folgezeit, unter den verschiedenartigsten Lebensumständen und in reifstem Alter, mir der Anblick dieser eigentümlichen hamburgischen Welt in die Seele drang, jener erste Jugendeindruck darin vorherrschend und jede spätere Betrachtung von ihm gehoben blieb. Alles wachsende Verständnis, alle gesteigerte Teilnahme, alle persönlichen Bande dankbarer Zuneigung konnten jenen Eindruck nur schärfer bestimmen und fortsetzen, aber nie verändern oder gar auslöschen.[77]

Den Knaben beschäftigten aber auch jugendliche Anziehungen genugsam! Wir waren im Sommer 1794 in Hamburg angelangt, Tag und Monat kümmerten mich nicht, und ich weiß sie auch heute nicht anzugeben; aber ein köstliches Wahrzeichen ist mir von jenen Tagen als Zeitbestimmung verblieben: es war nämlich die Zeit der Kirschen, deren ungewohnte Namen Morellen und Kasbeeren mir schnell vertraut wurden. In den herrlichsten Sorten standen sie überall feil, die artigen Vierlanderinnen brachten sie anbietend bis in die Häuser und Zimmer, die Preise waren überaus gering, und nie vorher hatte ich diese labenden Früchte so reichlich genießen dürfen! Eine andere Lust gewährte das vor dem Hause lagernde Schiffsgerät, Anker, Taue, Tonnen und Zimmerholz, auf dem ich in Gesellschaft eines Knaben des Hauses, der mir an Jahren wenig überlegen war, stundenlang herumkletterte, auch wohl in die Fahrzeuge stieg, welche dicht an der Kaie angelegt hatten; in einem kleinen Boote schaukelten wir uns einmal so lange, bis uns die Ebbe überraschte und wir nun mitten im Schlamme festlagen, eine Verlegenheit, die wir bald als verzweiflungsvolle Not empfanden, denn bis zur Wiederkehr der Flut hier auszuharren war uns ein entsetzlicher Gedanke; ein gutmütiger Holländer des nächsten Schiffes half uns aus unserer Gefangenschaft, die leider vom Hause her schon gesehen worden war und nun das strenge Verbot zur Folge hatte, je wieder die Schiffe zu betreten. Unsere Spiele dauerten aber fröhlich fort, und ich hatte den Gewinn, von meinem Gesellen sehr schnell das Plattdeutsche zu erlernen; als ich mich aber vor dem Vater mit dem Erworbenen großmachen wollte, empfing ich mit Erstaunen die Verwarnung, mich nie vor ihm so redend hören zu lassen, es sei dies die Sprache der gemeinen Leute, ich dürfe nur hochdeutsch reden. Ich fühlte bald etwas Schmeichelhaftes in diesem Unterschied und ließ meinen Spielgesellen gelegentlich merken, daß ich der Sprache wegen mehr als er sei; jedoch kam ich damit übel an, er wies meinen Dünkel mit Hohn und Drohungen[78] kräftig zurück, und ich bequemte mich gern, damit der Umgang friedlich fortdauerte, mit ihm in seiner Sprache zu reden, wobei nur vermieden wurde, daß mein Vater es hörte.

Schöneres Sommerwetter als das jener Tage habe ich kaum wieder erlebt. Besonders waren die Mondscheinnächte herrlich; die laue, sich still abkühlende Luft erfrischte mit lieblichem Hauch, alle Fenster waren geöffnet, der jetzt tief ruhige Hafen lag im hellsten Schimmer vor uns, die mächtigen Schiffe als dunkle Schattenklumpen darin. Niemand wollte sich schlafen legen, man sprach aus den Fenstern mit den Nachbarn, bald wurde man einig, herabzukommen, stellte vor dem Hause Stühle und saß nun in lebhaftem Gespräch und im Genusse der freien Luft bis gegen den Morgen hin; französische Emigranten waren die Mehrzahl der Gäste, man sprach über die politischen Angelegenheiten, doch ohne Heftigkeit, man schien der Parteisucht zu vergessen wie auch der Sorge, die manchen noch genug bedrängen mochte; eine der Damen sang mit schöner Stimme italienische Lieder in die Nacht hinein, aus der Nähe antwortete eine frische Männerstimme; »sommes nous donc à Naples ou à Venise?« hörte ich ausrufen. Ein paar junge Leute, welche spät über die Straße gingen und wahrscheinlich einem Schiff angehörten, an dem wir schon bei Tage die französische Freiheitsflagge bemerkt hatten, mochten die Emigranten wittern und riefen: »À bas les Aristocrates!« Wir hörten bald die Ruder des Bootes plätschern, das auf sie gewartet hatte und sie an Bord brachte, und die Herausforderung, welche bei Tage schwerlich so still abgelaufen wäre, ging in dem Friedensgefühle der schönen Nacht ungerügt vorüber.

Diese gute Zeit währte leider nicht lange. Die Beschränktheit der Mittel meines Vaters nötigte ihn, den Aufenthalt im Gasthofe abzukürzen und sich bei schlichten Bürgersleuten wohlfeiler einzurichten. Dies gelang bald, und wir zogen in die Neustädter Neustraße, welche damals durch das starkbesuchte[79] Ramkesche Vauxhall und einige neuerbaute schöne Häuser in Aufnahme kam. Hier begegnete uns gleich ein Charakterzug, der echt hamburgisch genannt werden kann. Ein Vermittler hatte für meinen Vater mit dem Hauswirt ein paar Zimmer besprochen, und die geforderte Jahresmiete konnte für sehr billig gelten. Als wir aber einziehen wollten, sagte der Wirt unerwartet, er habe es sich überlegt, wir könnten für die benannte Summe hier nicht wohnen, und fügte hinzu – bevor noch mein Vater der aufsteigenden verdrießlichen Empfindung Worte geben konnte –, der Freund habe ihn so sehr beeilt und er daher in der Hast mehr ausgesprochen, als er jetzt finde, daß die Zimmer wert seien, er lasse sie um ein Dritteil wohlfeiler. Der Mann war ein Handwerker und nur eben wohlhabend, aber keineswegs reich; auch beabsichtigte er nicht, uns eine besondere Güte zu tun, sondern genügte nur dem eignen Billigkeitsgefühl.

Für mich trat nun eine neue Lebensart ein; die unbeschränkte Muße, die ich während der Reise und des Aufenthalts im Gasthofe genossen, hörte sogleich auf, meine Stunden wurden eingeteilt und meinem Fleiße bestimmte Aufgaben gestellt. Da mein Vater mein einziger Lehrer war und ich sein einziger Schüler, auch keine sonstigen Lerngenossen sich in meiner Nähe befanden, so hatte dieses einsame Beschäftigtsein etwas Trauriges und Schwermütiges und, ich muß hinzusetzen, Unbehülfliches; ich entbehrte schmerzlich die Mitteilung, den Wetteifer, die Gemeinsamkeit, welche das Lernen so förderlich beleben; ich hörte die lateinischen und französischen Worte und Redensarten, die historischen und geographischen Namen, die ich mir einzuprägen hatte, nie aus anderm Munde als aus dem meines Vaters. Doch über diesen Gegenstand wird später umständlicher zu sprechen sein. Durch mein Alleinsein gezwungen, auch meine Spielstunden größtenteils mit Lesen auszufüllen, empfand ich nur zu bald den Mangel an Büchern, wenigstens an solchen, die mein Alter reizen und ansprechen[80] konnten, und ich wiederholte unzähligemal die schon gelesenen, zum Beispiel Goethes »Götz von Berlichingen« und Lessings »Nathan den Weisen«, die ich zum Glück eigen besaß, oder griff auch zu solchen, die meinen Jahren keineswegs angemessen schienen. Diese unfreiwillige Einsamkeit war für mich traurig, aber doch nicht unfruchtbar; ich lernte nachsinnen und dachte mir vieles aus, was andern erst in reiferen Jahren klar wird, und gegen mancherlei Schlechtes blieb ich abgeschlossen und bewahrt.

Indes tat mein Vater alles mögliche, um mich nicht verstocken zu lassen. Wenn es nur irgend tunlich war, durfte ich ihn auf seinen Wanderungen begleiten, oder ich mußte im Freien, auf dem Wall oder im Jungfernstieg, seiner warten, bis er von seinen Geschäften abkommen und mich dann zu weiteren Spaziergängen mitnehmen konnte. Oft auch begleitete ich ihn zu Besuchen, und er verfehlte dann nicht, mir zu sagen, wer die Leute wären, zu denen wir gingen, und wie ich mich bei ihnen zu benehmen hätte. So erinnere ich mich, mit ihm bei dem trefflichen Arzte Albert Heinrich Reimarus gewesen zu sein, dem das seltene Los geworden war, schon in der dritten Geschlechtsfolge denselben Namen durch persönliche Auszeichnung zu verherrlichen. Nikolaus Reimarus, der aus Pommern nach Hamburg gezogen war, hatte als Schulmann und Philolog einen großen Ruf erlangt, sein Sohn Hermann Samuel war durch Forschungen im Gebiete der natürlichen Religion und besonders durch die von Lessing herausgegebenen Fragmente berühmt geworden, dessen Sohn Albert Heinrich aber stand als Arzt und als wissenschaftlicher und patriotischer Schriftsteller in größtem Ansehen. In ihm war etwas von Justus Möser und von Benjamin Franklin, die zarteste Menschenfreundlichkeit und der glücklichste praktische Sinn, verbunden mit gründlicher Wissenschaft und leichter, fröhlicher Mitteilung. Seine kleinen Schriften, meist für augenblickliche Wirkung, zum Nutzen der Mitbürger, rasch hingeworfen, besprachen teils Gegenstände der medizinischen Polizei, teils andres Gemeinnützige[81] wie den Blitzableiter und selbst den Getreidehandel. Seine Verdienste hat Dr. David Veit in einer besondern Schrift gründlich und anmutig gewürdigt. Mir sei erlaubt, hier aus eignem frühen Eindrucke hinzuzufügen, daß er auch schon dem Knaben als ein durchaus liebenswürdiger Mann erschien. Die Art, wie er mit meinem Vater sprach, heiter, streitend, freundlich und doch fest, wie er sich dann voll Güte auch zu mir herabließ, seine Beachtung aller kleinen Umstände, welche das Zusammensein behaglich machen, die belehrende Unterhaltung, die sich mit der Vorzeigung seiner schönen Naturalien verknüpfte, alles fiel mir schon damals an ihm ungemein auf, und ich fühlte zu ihm die lebhafteste Hinneigung; es bedurfte nicht erst der Versicherung meines Vaters, daß ich diesen Mann hoch zu ehren habe, für ihn war das beglückende Gefühl der Ehrfurcht in meiner Brust schon von selbst rege! Elise Reimarus, die ausgezeichnete Schwester des Arztes, die Freundin Lessings, habe ich leider nie gesehen.

Ein anderer Gelehrter von ganz hamburgischer Art und Nutzbarkeit kam mir in dem berühmten Professor Büsch vor Augen. Seine gründlichen Kenntnisse hatte er den Bedürfnissen und dem Besten seiner Mitbürger zugebildet und durch die Leitung einer Handelsakademie, durch seine staatswirtschaftlichen Vorlesungen und besonders auch durch seine vielgelesenen Schriften über den Geldumlauf und den Welthandel sich um die hamburgischen Angelegenheiten wesentlich verdient gemacht, ja sogar politisch günstig eingewirkt; denn wie in Hamburg seine Aussprüche fast unbedingt galten, so stand auch auswärts sein Wort in gutem Ansehen und half manches Vorurteil bekämpfen, das den Interessen der Stadt gefährlich werden konnte. Wo sich der würdige, schon bejahrte Mann zeigte, beeiferte sich alles um ihn her mit Achtsamkeit und Ehrenbezeigung. Er war recht eigentlich ein Mann bei der Stadt, dessen Namen auch der geringste Bürger kannte und von dessen Wohlmeinung und Tüchtigkeit jeder überzeugt war. Ich fand aber zwischen[82] ihm und Reimarus einen großen Unterschied; Büsch hatte wenig Ansprechendes, er war trocken und schien kalt, auch gefielen sein Ruhm und sein Ansehen ihm allzusehr, und man vermißte die wohltuende Lebendigkeit, in welcher der höhere Geist von Reimarus sich bewegte.

Mit Büsch in nächstem Zusammenhange stand der Professor Brodhagen, sein Schüler und Nachfolger, aber an frischer Tätigkeit und wirksamer Lehrgabe ihm weit überlegen. Er hielt unentgeltliche Vorträge für Handwerker und Gewerbsleute über die ihrem Bereiche notwendigen mathematischen und technischen Kenntnisse. Größere Klarheit und Eindringlichkeit konnte nicht gefunden werden, und sein Eifer war grenzenlos, denn er floß aus einem Herzen, das für Menschenwohl und Menschenveredlung glühte. Sein Hörsaal war immer gedrängt voll, und unzähligen Menschen hat er auf bessere Wege des bürgerlichen und auch sittlichen Gedeihens geholfen. Unglücklicherweise befiel ihn während der besten Ausübung seines großen Talents eine unheilbare Geistesstörung und hemmte seine schöne Wirksamkeit, die darauf von andern mit wechselndem Erfolge fortgesetzt wurde. Nicht vergessen darf ich hier den zu seiner Zeit berühmten Ludwig von Heß, der früher schwedischer Offizier gewesen, aber jetzt mit Leib und Seele hamburgischer Bürger war. Seine »Durchflüge durch Deutschland« hatten ihm den Ruf großer Freimütigkeit und feuriger Darstellung erworben, seine gründliche »Beschreibung von Hamburg« verdiente den Dank seiner neuen Mitbürger. Ich habe ihn später im verhängnisvollen Frühjahr 1813 genauer kennenlernen, das Alter hatte seine Kraft nicht geschwächt, aber ihren Äußerungen etwas Grillenhaftes und Ungelenkes gegeben, das seiner früheren Zeit nicht anhaftete; das eine Mal, daß ich in dieser ihn gesehen zu haben mich erinnere, machte er auf mich einen ganz guten Eindruck, ungeachtet sein Gesicht, weil ihm ein Stück der Nase fehlte, etwas Abschreckendes hatte, ein Umstand, der bei seiner späteren Rolle als Anführer der hamburgischen[83] Bürgergarde doch gar sehr als ein hinderlicher von ihm verspürt wurde!

Von bedeutendem Namen war auch der ehemals preußische Hauptmann von Archenholz, der die Geschichte des Siebenjährigen Krieges für die große Lesewelt geschickt bearbeitet hatte und jetzt als Herausgeber der Zeitschrift »Minerva« sich in politischen Dingen gewichtig vernehmen ließ. Der preußische Offizier war in ihm wenig mehr zu erkennen, er hatte eher das Aussehen eines holsteinischen Pächters, der auf gute Marktgeschäfte sinnt; in den Schwierigkeiten der Zeitläufte wußte er sich klug zu winden, und wenn er nachdrücklich zu versichern pflegte: »ich gehe meinen Weg gerade durch«, dabei aber mit dem Stocke bald zur rechten, bald zur linken Seite vor sich her schlenkerte, so war man geneigter, seiner symbolischen Gebärde zu glauben als seinem klaren Worte.

Der glänzendste Stern der hamburgischen Geisteswelt war unzweifelhaft Klopstock; allein er lebte sehr zurückgezogen und sah nur einen kleinen Kreis älterer Freunde und Freundinnen bei sich. Man zeigte mir seine Wohnung in der Königsstraße und auch ihn selbst, da er eben aus dem Hause kam, um, wie es schien, spazierenzugehen. Er hatte ein feierlich ehrwürdiges, dabei etwas leidendes und scheues Aussehen; seine Züge waren nicht schön, man hätte sie häßlich nennen müssen, wäre nicht ein edler Ausdruck in ihnen sichtbar gewesen. Still wandelte der unscheinbare Mann durch die Straße dahin, wer ihn aber kannte, zog den Hut vor ihm ab. Das Volk von Hamburg bewies im allgemeinen für die Männer, die ihm als geistige Würden und Zierden bekannt waren oder genannt wurden, die aufrichtigste Ehrerbietung.

Alle diese Männer waren mehr oder weniger der Französischen Revolution zugewandt, und indem sie die grausamen Taten, in welche der Verlauf ausartete, gehörig verabscheuten, so billigten sie doch fortwährend die Grundsätze, von denen die Bewegung ausgegangen war und welche[84] selbst bei den greuelhaften Ausschweifungen im wesentlichen noch immer verkündigt und verfochten wurden. Der eifrigste Anhänger der neuen Dinge in Frankreich war aber der Syndikus Sieveking, ein Mann von ungemeiner Tatkraft und vielfachem Talent, der auch in Paris als Abgesandter die guten Verhältnisse zwischen der hamburgischen und der französischen Republik mit kluger Umsicht gewahrt und durch den mit Frankreich offen erhaltenen Handelsverkehr, von welchem Kaiser und Reich vergebens abmahnten, den Hamburgern außerordentlichen Gewinn aufgeschlossen hatte. Der Wohlstand nahm unter diesen Umständen sichtbar zu, und man konnte derjenigen Seite, von welcher soviel Vorteil erwuchs, unmöglich gram sein; indes reichte dieser Grund bei weitem nicht hin, um die entschiedene Sympathie zu erklären, welche nicht nur der mittlere Bürgerstand, sondern auch die unterste, sonst in ursprünglicher derber Deutschheit fest abgeschlossene Volksklasse überwiegend für die französische Freiheit an den Tag legte. Jedermann schien zu fühlen, daß es sich dort in allen Wechseln doch schließlich um das Bürgertum handle, auf der Gegenseite aber sah man nur die Sache verbündeter Höfe; in dieser auch eine deutsch-nationale zu sehen lag viel zu fern.

Zu dieser vorherrschenden Stimmung trugen aber besonders die französischen Emigranten bei. Vor den siegreichen Waffen ihrer Landsleute fliehend, in vielen deutschen Ländern nicht mehr geduldet, in andere nur mit vorsichtiger Auswahl zugelassen, waren sie in übergroßer Menge nach Hamburg zusammengeflossen als nach einem letzten Zufluchtsorte, wo noch Sicherheit und mannigfaches Unterkommen sich zeigte und allenfalls zu weiterer Flucht oder Unternehmung die See offen war. Gewiß befanden sich unter ihnen edle und ausgezeichnete Menschen, auch außer denen, die schon als solche bekannt und namhaft waren; allein die Mehrzahl war ein heilloses Geschlecht, sittenverderbt, unbescheiden, durch Eitelkeit und Prahlerei unerträglich.[85] Dem schlichten, braven Sinne der Hamburger wurden diese überall sich aufdrängenden geschwätzigen Müßiggänger, die es an mancherlei Ungebühr nicht fehlen ließen, schnell verhaßt, und im Widerwillen gegen die Emigranten entstand als Gegensatz manche lebhaftere Teilnahme für die Republikaner, die man nur in wenigen und achtbaren Beispielen vor Augen hatte, in diplomatischen Personen von strenger Haltung und in Handelsbeauftragten, die den besten Häusern empfohlen waren.

Die Emigranten sah man täglich in Scharen den Jungfernstieg auf und ab wandeln, zu gewissen Stunden hatten sie ihn, der damals nur halb so breit war als jetzt, fast ausschließlich in Besitz, und ihr heftiges Deklamieren, Parlieren und Gestikulieren war den Hamburgern ein auf öffentlicher Straße ungewohntes und ärgerliches Schauspiel. Dabei zeigten sich im Äußern schon viele Merkmale der Not und Sorge, man hörte von verzweiflungsvollen Entschlüssen sowie im Gegenteil auch von klugen und sinnreichen Auswegen, von rasch und leicht ergriffener bürgerlichen Tätigkeit, der sich in den meisten Fällen ein günstiger Erfolg und freundliche Achtung zugesellte.

Diese Unglücklichen schifften damals grade scharenweise nach England hinüber, um dort an der kriegerischen Unternehmung gegen die Küsten der Bretagne teilzunehmen, zu der in den englischen Häfen eifrige Rüstungen geschahen. Man hat späterhin oft gesagt, das englische Ministerium habe dabei nur die Absicht gehabt, sich der teuern und nutzlosen Soldbezieher auf die kürzeste Art zu entledigen, und die hülflosen Emigrierten seien freventlich dem gewissen Tod überliefert worden. Dergleichen Verleumdung konnte bei mir nie Glauben finden; denn ich habe es selbst erlebt, daß jedermann den Untergang als unfehlbar vorhersagte, außer den Emigrierten selbst, die in törichter Verblendung auf den größten Erfolg rechneten und immer sagten, ihre Anführer brauchten nur den Boden von Frankreich zu betreten und gleich würden Hunderttausende den[86] royalistischen Fahnen zuströmen; ja sie beschuldigten England, daß es zögere, die geringen Mittel darzuleihen, die man von ihm verlange, nämlich Schiffe und Waffen, denn andre Hülfe sei nicht nötig. Mein Vater selbst redete einigen Emigrierten, die ihm besonders leid taten, ernstlich ab und hielt ihnen das Geschick, welches ihrer harrte, düster vor Augen; allein sie wollten keine Vorstellungen hören, sie eilten nur, um bei den Ehren und Vorteilen, die sie als gewiß ansahen, nicht zu kurz zu kommen, und fürchteten bloß, andre möchten vor ihnen das Beste weggenommen haben. In diesem Wahne segelten sie nach England und von da nach Quiberon. Am Ende des Juni geschah die Landung, am Ende des Juli war alles vorbei. Ein Teil der Gelandeten war im kurzen Kampfe gefallen, eine große Zahl gefangen und infolge kriegsrechtlichen Verfahrens erschossen worden. Vor kurzem hatten wir diese Menschen noch gesehen, waffenfreudig, vertrauensvoll auf ihre Sache und auf sich selbst; wir kannten viele von ihnen mit Namen, einige durch täglichen Umgang, und nach wenigen Wochen sahen wir die Zeitungen von ihrem Unglück angefüllt, von ihrem Todeskampf, ihrer Hinrichtung. Es war ein schaudervolles, trostloses Gefühl, das auch ihre sonstigen Gegner hiebei befangen mußte.

Eine traurige Zeit begann für mich mit dem Eintritt des Winters; ich verlebte ihn höchst einsam, weil mein Vater bei zerstreuender Tätigkeit mich weniger unter seinen Augen haben konnte und viel besser fand, daß ich ganz allein bliebe, als in unzuverlässiger Gesellschaft irgendwie sittlichem Schaden ausgesetzt würde. Ein paar Theaterabende, an denen ich mit bewunderndem Entzücken den großen Schröder in Heldenrollen sah, sind aus dieser Zeit die hellsten Punkte meiner Erinnerung. Auch einige traurige Sonntage in dem Hause eines Bekannten auf dem Gertrudenkirchhofe wurden mir als Vergnügen angerechnet; ich sah mit einem jüngern Kinde des Hauses den Begräbnissen zu, die dort häufig stattfanden, und die Unfreundlichkeit[87] des Ortes wie der Jahreszeit ließ uns selten im Freien lange ausdauern. Munterer und behaglicher war es, den Schrittschuhläufern auf der Alster aus den Fenstern eines nahen Kaffeehauses zuzusehen, allein ich fühlte dabei stets die Pein, daß ich selber das lockende Eis nie betreten durfte. Nach solchen kurzen Ausflüchten kehrte immer schnell wieder eine lange Abgeschlossenheit zurück.

Der Frühling jedoch brachte endlich eine erfreulichere Lebensweise wieder. Wir bezogen eine Wohnung in der Görttwiete nächst dem Hopfenmarkt, und hier, in der Mitte der Stadt, wurde alles heiterer und geselliger. In seinem Beruf und auch zur Lust wanderte mein Vater nun oft in die Umgegend hinaus, und auf solchen Wanderungen begleitete ich ihn fast immer. Wir waren häufig in Wandsbek, wo mir Matthias Claudius bekannt wurde, von dessen Berühmtheit ich wohl gehört hatte, dem ich aber weiter keine Aufmerksamkeit schenkte, weil von den Possen und Lustigkeiten, die ich von Asmus erwarten zu dürfen glaubte, gar keine Spur zu sehen war. Ich kam hier auch öfters in ein Haus, wo der reiche Holländer Cappadoce wohnte und beinahe täglich die glänzendsten Gastmähler gab, derselbe, von dem einer seiner eifrigsten Tischgenossen, der berühmte Rivarol, gesagt, er habe kein andres Gewissen als seinen Magen und bringe sein Leben zwischen der Angst um seine Gesundheit und den Wagnissen seiner Eßgelüste hin. Wenn sich nach aufgehobener Tafel der üppige Schwarm in den Garten ergoß, befand ich mich mitten in dem Getümmel der Fröhlichkeit und des Scherzes, hörte die Witzworte, die wie Blitze die Gesellschaft durchfuhren und schallendes Gelächter oder laute Bewunderung erregten, mir aber bedeutungslos waren wie der Name Rivarol selbst, der mir damals ohnehin nur als ein hassenswerter hätte bekannt sein können. In Harvestehude war ich sehr befriedigt, Hagedorns Andenken durch manche seiner Verse, die ich herzusagen wußte, ehren zu können. In Poppenbüttel, höher hinauf an der Alster herrlich gelegen, brachte ich glückliche Tage in[88] freiem, bewegtem Landleben zu, während eine gefährliche Kranke meinen Vater dort festhielt. So wurde auch Eppendorf und Eimsbüttel, nach der Elbe hin Slavshof und der Garten von Köller-Banner (später Rainville), Ottensen, wo das Grabmal von Klopstocks Meta nicht unbeachtet blieb, sodann Neumühlen, das herrlich gelegene Landhaus des Syndikus Sieveking, und in Nienstedten der Wohnsitz eines Herrn Leeke besucht, wo ich als zehnjähriger Knabe die Bekanntschaft des holländischen Gesandtschaftssekretärs Reinhold machte, der in späterer Zeit einer meiner liebsten und zuverlässigsten Freunde werden sollte.

Gutmütige Nachbarn, welchen mein Vater mich um so lieber anvertraute, als sie fast ohne Streben nach sogenannter Bildung in stiller Frömmigkeit und redlichem Bürgersinn dahinlebten, gewährten mir, auch wenn ich zu Hause war, einen erwünschten Anhalt. Ich lernte durch sie neue Seiten des Lebens und der Einrichtungen in Hamburg kennen. Sie bestanden darauf, ich sollte mit ihnen die Vierlande besuchen, eine Elbfahrt nach Blankenese machen. Sie lenkten meine Aufmerksamkeit auf die Kirchen und sonstigen öffentlichen Gebäude – unter denen die sogenannte Roggenkiste mir schauerlich wie eine zu stürmende Bastille vorkam –, besonders aber auf die neue Michaeliskirche, deren die Hamburger sich um so stolzer freuten, als auch der Baumeister Sonnin, der den prächtigen Turm so hoch emporgeführt, ein geborner Hamburger war. Die Feuersbrunst, welche den alten Turm verzehrt hatte, und die wiederholten Angriffsversuche der Dänen gegen die Stadt waren die beiden Hauptereignisse, von welchen das Gedächtnis der alten Leute am liebsten und häufigsten überwallte. Im ganzen genoß ich jetzt größere Freiheit und durfte auch ohne Begleitung mich in der Stadt umsehen. Mit der nächsten Umgebung wurde ich bald vertraut. Abends, wenn ich meine Lern- und Lesestunden beendigt hatte, streifte ich über den Hopfenmarkt, wo die reichsten Obstkräme waren und ich mir für ein billiges die schönsten[89] Früchte erhandelte, durch die Bohnenstraße, die Neue Burg bis zum Rathaus und zur Börse, wo mir überall Merkwürdiges zu sehen und zu beobachten war. Eine der stärksten Anziehungen jedoch hatte ich ganz in der Nähe, auf dem Nikolaikirchhofe. Hier war ein Nebeneingang zur Kirche, der an Wochentagen immer geschlossen war; aber ein geräumiger Vorplatz stand offen, denn hier, nach der eifrigen Weise der Hamburger, Raum zu ersparen und zu benutzen, hatte sich eine Leihbibliothek eingemietet; für eine mäßige Abfindung mit dem Küster war diese Gunst harmlos nachgesehen worden. Da befand sich denn ausgestellt, was nur mein Herz begehrte: Ritter- und Geistergeschichten, Räuberromane, Liebesabenteuer, Robinsone und Wundermärchen aller Art. Ich hatte daheim Bücher genug und las viel und gern darin, aber solche Bücher wie die bezeichneten fehlten mir ganz und gar. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und verschaffte mir den erwünschten und leider auch verbotenen Genuß! Denn hatte mein Vater auch nicht den ihm fast undenkbaren Fall ausdrücklich untersagt, so wußte ich doch zu gut, daß er eine solche Leserei nicht gestatten würde. Ich las also heimlich, mit allem Eifer und aller Spannung eines jugendlichen Sinnes, und fühlte mich glücklich in dem phantastischen Leben, das neben dem wirklichen so zauberisch mir aufstieg. Ich gewann, dazu schon alt genug mich dünkend, die Eindrücke meiner Kindheit wieder, der schönen Zeiten, wo ich täglich das Theater besuchte und gleichgültig den armen Tag hinnahm, weil der Abend mich unfehlbar zu den Schätzen der Einbildungskraft entführte. War eine Geschichte abgebrochen, etwa der zweite Teil nicht vorrätig, so empfand ich die lebhafteste Unruhe und konnte mich gar nicht zufriedengeben, als mein Lesen wirklich zum Schlusse kam, bevor ich den einiger angefangenen Romane erlangt hatte! Noch lange Zeit nachher hafteten die Titel verdrießlich mahnend in meinem Gedächtnis, und das Unglück wollte, daß sie sonst mir nie mehr vorkamen, denn höherstehende[90] Leihbibliotheken hielten schon auf bessere Auswahl. Erst zwanzig Jahre später, in Böhmen, wo durch Zufall solcher Schund noch unverzehrt lag, konnte ich dem unvergessenen Anfang eines solchen Buches den unbekannten Schluß endlich anreihen, und ich gestehe, daß ich mir diese Genugtuung nicht versagte. Hier konnt ich denn einsehen, welch zauberische Macht die Phantasie ist, sie verwandelt das Gemeinste in Kostbarkeiten; die meinige hatte aus erbärmlichsten Stoffen ihre Nahrung gezogen; daß aber schwarze Kühe auch weiße Milch geben, ist ein guter Spruch. Wirklich kann ich nicht sagen, daß diese wüste Leserei, welche nach einem Vierteljahr mit ihrer Entdeckung endete, mir im geringsten geschadet hätte; ich erkannte das Schlechte nicht als solches und verzehrte, umgekehrt von Tischbeins Esel, der die Ananas für Distel frißt, die Distel für Ananas. Aus eigener Erfahrung muß ich Rousseaun beistimmen, daß, wer durch schlechte Bücher verdorben wird, schon vorher verdorben war. Mein Fleiß im Lernen hatte durchaus nicht gelitten, im Gegenteil ging mir alles leichter von der Hand, weil ich stets ein Vergnügen in Aussicht hatte und im Bewußtsein, hiebei doch Tadel zu verdienen, nicht auch in andrer Richtung mir Vorwürfe häufen wollte.

Eines Tages überraschte mich mein Vater durch die beglückende Nachricht, daß meine Mutter und Schwester, von denen ich nun schon jahrelang getrennt lebte und die stets der Gegenstand meiner heißesten Sehnsucht waren, nunmehr Straßburg verlassen und zu uns nach Hamburg kommen würden! Mir ging das Herz auf, und ich sah einem neuen Leben entgegen. Leider jedoch dauerten die widrigen Umstände, welche sie so lange dort zurückgehalten hatten und in denen die Revolution und der Krieg stark mitzählten, noch weit länger fort, als wir gerechnet hatten. Es verging noch ein volles Jahr, bevor unsre Wiedervereinigung erfolgen konnte, und dieses Jahr lieferte die Keime mancher Entwicklung.[91]

Im Frühjahr 1796 trafen endlich meine Mutter und Schwester glücklich in Hamburg ein. Als ich, von ihrer Ankunft benachrichtigt, nach dem Baumhaus eilte, schlug mir das Herz so heftig, daß ich stillstehen mußte. Mein Vater hatte sie dort schon empfangen, und ich umarmte wechselsweise bald ihn, bald die Ankömmlinge. Die Zwischenzeit mehrerer Jahre hatte uns einander nicht fremd gemacht, und in der ersten Viertelstunde war ich, besonders mit der Schwester, so traulich und bequem, als hätten wir nur kurze Zeit getrennt gelebt. Nun schienen mir alle Wünsche erreicht, und ich sah fortan nur Tage des Glücks und der Freude vor mir. Mein Vater hatte eine vorläufige Wohnung für Mutter und Schwester in der Johannisstraße gemietet, von der unsrigen in der Görttwiete nicht allzufern; die künftige gemeinsame in der Steinstraße war noch nicht frei geworden. Natürlich war ich nun vom Morgen bis zum Abend in der Johannisstraße, meine Bücher, meine Spielsachen, meine Kleider, alles bracht ich dorthin, und wenn ich zum Schlafen doch endlich nach Hause mußte, kam der gewohnte Raum mir so fremd vor, als war ich im fremdesten Gasthofe. Als wir endlich zusammenwohnten, war meine Befriedigung vollständig. Mein Vater hatte in jener Zeit viel zu tun und konnte sich wenig mit mir abgeben, daher auch mein Unterricht großenteils ruhte; die Mutter war mit häuslichen Dingen beschäftigt, und so konnten wir Geschwister ungestört unsres Wiedersehens froh sein.

Mein Vater hatte häufigen Anlaß, Besuche in Wandsbek zu machen, und obschon der Weg dahin wenig angenehm und zum Teil beschwerlich war, so machte er ihn doch am liebsten zu Fuß und wollte auch mich durch diese, wie er behauptete, heilsamste Bewegung abhärten. Nun wurde zwar bei festem Boden und im Schatten mir solche Wanderschaft leicht, aber Sand und Sonne machten mich fast erliegen; nach solcher Anstrengung war dann das kühle Dunkel des Wandsbeker Holzes um so labender, und noch mehr[92] die gastliche Aufnahme bei dem Kattunfabrikanten Mooyer, in dessen Familie sich Biederkeit und Anmut vereinigte.

In ganz entgegengesetzter Richtung führten uns mehrere Tage der Woche vor das Altonaer Tor, wo sich eine ganz andere Welt auftat. Die Wanderungen an der Elbe hin, nach Slavshof, über Ottensen hinaus, waren seltner, gewöhnlich kehrten wir nächst vor Altona in der Neuen Dröge ein, wo in einem vorgeschobenen Pavillon des altehrbaren Wirtshauses eine kleine Zahl ausgewählter Gäste aus Hamburg und Altona zusammenzukommen pflegten. Der Altonaer Senator von Schoon, ein dänischer Rittmeister, der kurkölnische Bibliothekar Benfeldt aus Bonn, ein schwedischer Freiherr Ehrenstern nebst einer zarten, anmutigen Frau und allerliebsten Kindern, ein hamburgischer Kandidat John und ein paar Kaufherren bildeten den Stamm des Vereins.

In dem erwähnten Kreise übte auch das politische Interesse sein Recht, und hier war es, daß ich zuerst und auffallend den Namen des Generals Bonaparte nennen hörte, dessen Siegesbahn eben begonnen hatte und im Laufe des Sommers 1796 zu den unerhörtesten Erfolgen sich ausdehnte. Seine Erscheinung war ein aufsteigendes Meteor, dessen wachsender Glanz immer ausschließender die Blicke fesselte. Wie bewunderte man den jungen Helden, wie begeistert wünschte man ihm Heil, da er es war, der zuerst der Freiheit, der Republik in Europa den entschiedenen Ausschlag gab! Denn auf der Seite Frankreichs waren auch hier, mehr oder minder, die lautesten Meinungen, und wenn die Franzosen getadelt wurden, so war es im Sinne ihrer Parteien, nicht aber im Sinne der Mächte, die mit ihnen im Kriege standen. Die Verhandlungen waren oft lebhaft, aber wurden nie stürmisch, ein einziges Mal ausgenommen, da ein schwedischer Offizier von Heß – mit dem in Hamburg eingebürgerten Ludwig von Heß nicht zu verwechseln – bei neuen Siegen der Franzosen seiner Wut keine Grenzen wußte und sie und ihren Anführer tausendmal[93] verwünschte. Seine Ausfälle gingen dann auch persönlich auf die Anwesenden, und er schien es auf einen Zweikampf abgesehen zu haben, der indes durch die Besonnenheit der andern vermieden wurde. Der Senator von Schoon aber stellte ihm, als er am andern Tage wiederkehrte, mit freundlicher Würde vor, wieviel klüger es wäre, wenn er eine Gesellschaft, wo er keine Sympathie für sich wisse, künftig miede; der Rat war zu dringend und einleuchtend, um nicht befolgt zu werden.

Doch gab es für mich hier noch andre Reize, die, stärker als die Unterhaltung im Zimmer, hinaus ins Freie riefen. Der Hamburgerberg, von jeher ein Tummelplatz bewegter Volksmassen, lieferte Merkwürdigkeiten aller Art; Buden waren dort aufgeschlagen, teils um Eßwaren und Erfrischungen feilzubieten, teils um ausländische oder abgerichtete Tiere sehen zu lassen; von allen Seiten ertönte türkische Musik, Seiltänzer und Kunstreiter gaben ihre Schaustücke unter freiem Himmel, oft von unübersehbaren Haufen der Zuschauer umgeben, zwischen welche sich Polichinellbühnen eindrängten, um jede Lücke der großen Vorstellungen zu benutzen und sogleich mit ihren beliebten Spaßen einzufallen, für die aus der versammelten Menge sich alsbald kleinere Gruppen ablösten. In diesem wogenden Gewirr gab es immer neue Gegenstände und neue Vorfälle; das hamburgische Volksleben zeigte sich in ganzer Derbheit und war interessant genug, um häufig den einen oder andern aus unsrer Mitte, oft auch meinen Vater selbst, zu näherem Betrachten anzulocken, wo mir dann mitzugehen erlaubt war. Die roten hamburgischen Dragoner, ruhig auf ihren kolossalen Rossen haltend, waren ein ernster Hintergrund dieser Volkslustbarkeiten, denen von der Altonaer Seite dänische Husaren bereitstanden. Doch galt die bewaffnete Aufstellung am meisten dem zahlreichen Matrosenvolke, das in den weiter abliegenden Häusern des Hamburgerberges seine wilden Freuden hatte, bei denen nicht selten blutige Opfer fielen. Diesen Schauplatz hab ich nie näher[94] gesehen, selbst unter Obhut nicht, da keine den hinlänglichen Schutz verbürgen konnte und ohnehin das Hörensagen schon genug war. Hingegen durft ich nach der andern Seite hin die friedlichen Schatten der Reeperbahn allein durchwandeln, wo häufig Bürgerfamilien im Grase lagerten und die Kinder ihre Renn- und Ballspiele hatten. Genug, wenn ich nach Hause kam, fehlte es nie an Stoff zum Erzählen, immer hatte ich etwas Neues erlebt oder vernommen.

Bisweilen wurde vor solchen Spaziergängen eine Art von Geschäft abgetan, das einem Knaben wohl hätte langweilig sein dürfen, mir aber zum größten Vergnügen wurde. Ich begleitete nämlich den Vater in den früheren Nachmittagsstunden zu Bücherversteigerungen, deren zu jener und der nächstfolgenden Zeit in Hamburg sehr bedeutende vorkamen. Oft geschah der Verkauf in den Sterbehäusern, in behaglichen, schönen Räumen, die würdigsten Männer fanden sich dabei ein, Büsch, Brodhagen, Peter Friedrich Röding, man unterhielt sich von Literatur, betrachtete und prüfte die Bücher, die großen Pracht- und Kupferwerke, deren hohe Kaufpreise doch oft kaum ein Dritteil des ursprünglichen betrugen. Ganze Bibliotheken, aus Frankreich geflüchtet, in prachtvollen Saffianbänden mit Goldschnitt, Didotsche und Bodonische Drucke, früher Eigentum reicher Herzoge und Fürsten, wurden hier unter den Hammer gebracht. Doch solche Sammlungen des Luxus, wie reich sie sein mochten, schwanden gegen die größern und respektableren Bücherschätze, welche von literarischen Hamburgern hinterlassen wurden. Ärzte, Prediger, Rechtsgelehrte und Kaufleute schienen ihre Einkünfte, ihr Vermögen hauptsächlich auf Bücher verwendet zu haben. Die Bibliothek von Doktor Bolten, in herrlichen Franzbänden, vollständig im Auserlesenen und Kostbaren des medizinischen und naturwissenschaftlichen Faches, schien wirklich die Kräfte eines Privatmannes zu übersteigen; der Verkauf der Bücher des Doktor Cropp, ich glaube gegen hunderttausend[95] Bände, zog sich durch mehrere Jahre; so sind mir auch große Sammlungen von Gisecke, Sievert und Martin Dorner noch lebhaft erinnerlich; neben den großen Versteigerungen liefen eine Menge kleiner hin, es war eine immerwährende Bewegung. Für mich hatte der Anblick dieser Büchermassen, das Durchblättern der Kupferwerke, die Achtsamkeit auf Druckort und Jahreszahl, auf die Vorzüge und den Wert der Exemplare den größten Reiz. Ich wurde nicht müde, mit diesen Formaten aller Art zu hantieren, und legte so den ersten Grund zu einer mannigfachen Bücherkenntnis, die mir späterhin oft sehr wert geworden. Oft hatte ich denn auch die Freude, die schönsten Bände eines kostbaren, verheißungsvollen Inhalts in unsern Besitz übergehen zu sehen, denn bedeutende Werke wurden oft um einen Preis zugeschlagen, der kaum in Betracht kommen konnte. Wenn ich spätabends mit meinem Vater nach Hause kam, ließ ich selten die Müdigkeit mich hindern, vor allem nach den inzwischen gebrachten Büchern zu fragen und die anziehendsten durchzusehen.

Mit dem Herbste verkürzten sich die Spaziergänge, die Tore wurden mit Sonnenuntergang unwiderruflich geschlossen, und verspäteter Einlaß für Sperrgeld fand nicht statt. Wir sahen mit Wohlgefallen ein häusliches Zusammensein wieder eintreten und waren sehr glücklich, wenn die Eltern mit uns am Teetisch vereint auf unsre Spiele eingingen oder uns an ihren Gesprächen teilnehmen ließen. Bisweilen wurde etwas gelesen und das Gelesene besprochen, an manchen Abenden auch Brett- oder Kartenspiel erlaubt. Die Mutter hatte auf einem Trödelstande mit freudiger Verwunderung ein in Hamburg völlig unbekanntes, ihr aber von Straßburg her bekanntes Spiel entdeckt, ein Pochbrett nämlich, welches sie mit nach Hause brachte und aus vaterstädtischer Erinnerung sogleich in Gebrauch setzte. Von Kartenspielen gestattete der Vater keines, das gäng und gäbe war, kein Whist, kein Hombre, wohl aber Tarock und andre wenig gebräuchliche, denn wir sollten unsern Scharfsinn[96] üben und doch mit andern zu spielen verhindert sein. Wir besuchten mit der Mutter jetzt auch mehrmals das Theater, wo wir mit erregtestem Anteil die Kotzebueschen und Ifflandschen Stücke sahen, fest überzeugt, daß es in der Welt nichts Schöneres geben könne als diese Beispiele von Tugend, Edelmut und Wohltun. Die französische Bühne, welche damals in Hamburg große Gunst hatte, zog uns weit weniger an als die deutsche, wenn auch manche Stücke uns recht gut gefielen. Ein Talent wie Madame Chevalier, deren berühmte Schreckensszene im »Blaubart« ich noch vor ihrer Abreise nach Rußland zu guter Letzt gesehen hatte, war freilich nicht mehr vorhanden.

Für mich eröffnete der Winter noch ein anderes Theater, auf das ich schon vorbereitet war, das anatomische nämlich, welches ich mit wahrer Leidenschaft zu besuchen anfing. Die Veranstaltung, daß anatomische Vorlesungen gehalten wurden, ging eigentlich von der Hamburgischen Patriotischen Gesellschaft aus, die vieles Gemeinnützige anregte und nachdrücklich unterstützte. Ein wackrer Stadtwundarzt, Ehlers, kam der Aufforderung tätig entgegen, ein schönes Theater war auf dem Eimbeckschen Hause längst vorhanden, Leichen lieferte der Krankenhof, und die unentgeltlichen Demonstrationen hatten zahlreiche Zuhörer. Mein Vater besuchte jene Gesellschaft fleißig und tat der neuen Anstalt allen Vorschub; daß er seinen noch nicht zwölfjährigen Sohn hinschickte, wurde als löbliches Beispiel angeführt. Ich machte in der Tat eine nicht geringe Figur dabei. Weder Lehrer noch Mitschüler waren sicher in den lateinischen Kasus, die ich mit Leichtigkeit handhabte und nicht selten angeben mußte. Es waren bescheidene Anfänge; wir hatten fürerst mit Knochen und Muskeln vollauf zu tun, die Lehre von den Eingeweiden und Gefäßen wurde uns als ein Gegenstand künftiger Fortschritte bedeutsam vorgehalten.

Am Ende des Winters fiel ich in eine schwere Krankheit, ein gallichtes Nervenfieber, dem ich beinah erlegen wäre.[97] Durch meines Vaters entschloßne und sorgsame Behandlung genas ich endlich, nachdem ich lange in Gefahr geschwebt. Wenn ich den Vater liebevoll an meinem Bette und in seinem Auge den scharfen Blick sichrer Kenntnis blitzen sah, so fühlt ich mich aller Sorge ledig, und die treue Pflege von Mutter und Schwester tat mir so wohl, daß ich es für kein Unglück hielt, krank zu sein. Das größte Glück aber kam mir mit der Genesung, sie trat mit dem Frühling ein und hielt gleichsam Schritt mit ihm. Meine ersten Ausgänge an des Vaters Arm führten in sonnenerwärmte Luft, unter Blütenbäume, in grünendes Feld und Büsche, die Vögel sangen lustig, das junge Laub drängte sich quellend hervor, Himmel und Erde wetteiferten in Schönheit. Ich war in fortwährendem Entzücken und genoß die zwiefache Wiedergeburt in vollen Zügen. Zwischen Gärten und Wiesen, an blühenden Hecken, neben rauschender Quelle hinwandernd, fiel ich meinem Vater aus Freude weinend in die Arme, und die Macht meiner Rührung war so stark, daß ich mit Staunen auch die seinige geweckt sah. Nie hat mich der Frühling so ganz ergriffen, nie hat sich mein Gemüt ihm so erschlossen. Diese Wonne des Frühlings und der Genesung zog sich durch mehrere Wochen hin, denn nur allmählich kehrten meine Kräfte wieder. Mein Vater erkannte die Notwendigkeit, mich zu schonen, ich mußte soviel als möglich im Freien sein und durfte mich um kein Lernen kümmern, als insofern es mir zum Vergnügen diente.

Im Herbst 1797 erfolgte ein Ereignis, auf das man in Europa und Amerika lange gehofft hatte: die Freilassung des Generals Lafayette aus der Gefangenschaft in Olmütz. Seine Ankunft in Hamburg erregte die freudigste Spannung; er zählte hier enthusiastische Anhänger und unter ihnen solche, die nicht seinen politischen Grundsätzen huldigen, sondern seine Leiden, seine Tugend ehren wollten. Seine und Doktor Bollmanns Freunde, Franzosen, Amerikaner und Hamburger, hatten sich am Nachmittage des[98] 4. Oktobers vor dem Baumhause zu seinem Empfang vereinigt und harrten des Hamburger Ewers, der ihn bringen sollte. Mein Vater und ich standen an günstiger Stelle und sahen ihn aussteigen, begleitet von seiner Gattin und seinen beiden Töchtern, ihm folgten die andern beiden Gefährten seiner Gefangenschaft, Bureaux de Pusy und Latour-Maubourg. Er sah leidend aus, mild und wohlwollend, aber auch fest und entschlossen; als er die französische Kokarde an den Hüten der Bewillkommenden erblickte, begrüßte er sie lebhaft, indem er die seinige hoch emporzeigte. Bei jedem Schritte die Stufen hinan erfuhr er neue Umarmungen, neue Händedrücke, er segnete mit tränenvollem Blicke den Boden der Freiheit, den er jetzt wieder betrat, denn bis hierher war er noch unter der Begleitung und Aufsicht eines österreichischen Offiziers gewesen. Der ganze Hergang war still und einfach, erst als er – ich glaube, mit dem Hamburger Doktor Chaufepié – in den Wagen des nordamerikanischen Konsuls Parish einstieg, erscholl aus der gedrängten Zuschauermasse ein donnerndes »Vive Lafayette!«. Auf mich hatte die Erscheinung einen tiefen Eindruck gemacht, das Bild des Mannes war mir in die Seele geprägt, es war das erstemal, daß ich einen mir als groß und weltberühmt bekannten Mann persönlich gesehen hatte, ich fühlte mich bereichert und gehoben durch den Anblick. Zu Hause versucht ich meine Empfindungen niederzuschreiben und füllte mehrere Seiten; mein Vater, der mein Denkblatt las, sagte nichts darüber, behielt es aber, und meine Schwester brachte heraus, daß er dasselbe mehreren Freunden gezeigt hatte.

Ein Fest der französischen Republikaner in Harvestehude, das wir mit ansahen, hatte wahrscheinlich Bezug auf Lafayette, der aber nicht zugegen war, sondern sich gleich nach Holstein aufs Land begeben hatte. Ich erinnere mich nur, daß der Minister Reinhard präsidierte und daß der Sänger Chateauneuf vom französischen Theater patriotische Lieder vortrug, deren Schlußzeilen die ganze Gesellschaft[99] stürmisch zu wiederholen pflegte. Der auf diese Art mehrmals erschallende Refrain:


Nous ne reconnaissons, en détestant les rois,

Que l'amour des vertus et l'empire des lois!


rief manchen Gästen doch zu lebhaft die überstandene Jakobinerzeit zurück, und sie protestierten gegen die Beleidigung der Könige, da von zweien, der Republik befreundeten, sogar die Gesandten in der Nähe waren, der dänische nämlich und der preußische.

In der Stimmung der Zeit fand unerwartet ein Gedicht den stärksten Anklang, welches für sie doch keineswegs berechnet sein konnte. Ein edler Dichter führte das Bild der traurigen Stürme und Verwirrungen vorüber, ließ aber nicht politische Leidenschaft, sondern rein menschlichen Anteil darin walten. Dies war der Ausdruck seiner Empfindungen und schien keineswegs den in der Welt vorherrschenden zu entsprechen; aber siehe da! er hatte das tiefste, innere Bedürfnis aller Bessern getroffen, und mächtig trat dies an den Tag in der allgemeinen Wirkung, die er in Deutschland hervorrief. Das Gedicht war Goethes »Hermann und Dorothea« und eben als Taschenbuch für das Jahr 1798 erschienen. Meine Schwester und ich bekamen es mit andern neuen Almanachen und waren gleich davon ergriffen. Der Namen konnte damals noch nicht bestechend auf uns wirken, die Darstellung hatte für uns noch keinen Kunstwert, es war nur der Stoff und sein rein hervortretender Gehalt, die uns bezauberten. Hingerissen aber wurden wir sogar wider Willen, denn unsre Gesinnung forderte eigentlich stärkere Parteinahme für die Franzosen, und hier fanden wir unerwartet auf der deutschen Seite unsre Rechnung. Wir glaubten nur etwas Gewöhnliches gelesen zu haben und fühlten lange die außerordentliche Wirkung. Jener erste, fast bewußtlose Eindruck stieg in aller Kraft einer tiefen Erinnerung wieder in mir empor, als Hegel später in Berlin mir einesmals erzählte, wie er zu Frankfurt am Main gewesen, als das[100] Goethesche Gedicht erschienen, und daß, wer es nicht erlebt habe, sich keine Vorstellung davon machen könne, wie mächtig dasselbe auf die Menschen gewirkt, wie vaterländisch und versöhnlich es die Gemüter gestimmt habe.

Zum Winter eröffnete sich aufs neue das anatomische Theater, und ich besuchte nicht nur die jetzt vermehrten Vorträge, sondern ich nahm auch am Zergliedern teil. Dies ernste Geschäft wurde mit Heiterkeit, ja fast mit Übermut betrieben, und es scheint beinahe notwendig, sich auf solche Weise gegen das Gespenstige des Todes und die Widrigkeit der Fäulnis zu betäuben, denen ein gelassener Sinn doch nur mit Schaudern naht. Ich erfuhr an mir selbst, daß hier der Gesichtspunkt und die Stimmung, die man zu den Dingen mitbringt, alles sind. Von Kindheit auf bangte mir im Dunkeln, fürchtete ich mich vor Leichen; beim Zergliedern aber blieb ich oft, wenn die andern weggingen und es schon dunkelte, ruhig allein zurück und wartete die Stunde der Vorlesung ab, wo denn wieder Licht und Leben zu mir traten. Von meinen damaligen Mitschülern hab ich einen berühmt gewordenen zu nennen, den Sohn des hamburgischen, nachher helmstedtischen Professors Lichtenstein, den Reisenden von Südafrika, jetzigen Geheimen Rat in Berlin. Der Sohn des Demonstrators Ehlers und ein junger Hamburger namens Luther, mit dem ich in der Folge innigst befreundet wurde, wetteiferten mit mir, und ein schon älterer Wundarzt Werner aus Berlin nahm sich unser treulich an, nicht ohne uns bei jedem Anlasse zu erinnern, das wahre Heil und die rechte Tüchtigkeit alles medizinischen Wissens hätten wir doch erst künftig in Berlin zu erwarten. Wir hörten bei Ehlers auch Vorlesungen über Chirurgie, von denen natürlich dasselbe gelten mußte, daß sie nur Vorbereitung sein könnten auf die künftigen in Berlin.

Meines Vaters eigne Tätigkeit hatte seit einiger Zeit ungemein zugenommen, seine Lage verbesserte sich rasch und durfte bei solchem Fortgange den gedeihlichsten Wohlstand versprechen. Doch war es anders beschlossen. Mein Vater,[101] der bis dahin immer gesund gewesen, erkrankte schwer an einem heftigen Leberübel. Er war sein eigner Arzt und erkannte seine Krankheit für tödlich. Seine Fassung war bewundernswert, weder die Schmerzen noch das nahe Scheiden störten seine Gemütsruhe. Mit Heiterkeit versammelte er uns eines Abends um sein Bett, sprach liebreich mit der Mutter über ihre Zukunft, gab ihr Rat, wie sie ihr Leben für sich und für uns am besten ordnen würde, sprach in gleicher Weise mit uns Kindern, ermahnte uns zu allem Guten. Als er unsre Trostlosigkeit sah, meinte er, es sei wohl noch möglich, daß er genese; auch nahm er Arznei, zum Beweise der noch vorhandnen Hoffnung, und beschwichtigte uns so weit, daß wir auf seinen Wunsch zur Ruhe gingen. Nun hatte er wirklich geglaubt in jener Nacht zu sterben, die aber im Gegenteil eine heilsame Krise brachte; das Fieber ließ nach, und am andern Morgen sah er sich auf dem Wege der Genesung.

Von seinen Freunden stand ihm in dieser Zeit keiner so nah wie der Konsul Kirchhof, ihm hatte er alles vertraut und übertragen, was ihm auf dem Herzen lag, besonders auch die Sorge für mich und mein Studieren, das er jetzt als den Gegenstand seiner schönsten Hoffnungen erkennen ließ. Noch viele andre Freunde und auch Freundinnen bewiesen ihm beeiferte Teilnahme, und wieder, wie ehemals in Düsseldorf, zeigten besonders die Leute geringeren Standes, wie ungern sie von ihm lassen würden. Doch war auch jetzt noch die Notwendigkeit vorhanden, sich allen Anforderungen zu entziehen, denn die Genesung schritt äußerst langsam, und statt der gewichenen Krankheit schien eine andre sich zu bilden. Mit scharfer Aufmerksamkeit folgte er dem heranschleichenden Feind und wußte ihm auch diesmal, nicht ohne langwierigen Kampf, endlich den Rückzug zu gebieten. Da er nicht ausging und die zu Hause mögliche Berufstätigkeit doch nur beschränkt war, so kam die unfreiwillige Muße meinem Unterricht zugute, und derselbe ging ungefähr wie in früheren Zeiten, unter mäßigem Wechsel[102] von Lob und Tadel, seinen geordneten Gang. Als Monate auf Monate vergingen, ohne daß die Kräfte recht wiederkehrten, beschloß mein Vater, hauptsächlich auf Zureden seines Freundes Kirchhof, eine Badekur zu versuchen, und reiste im Sommer 1798 nach Schwalbach, fand aber wegen der Kriegsunruhen geraten, lieber in Heidelberg den Brunnen zu trinken und dabei im Neckar zu baden.

Wir verlebten nun eine hoffnungsvolle Zeit. Der Vater schrieb aus Heidelberg sehr zufrieden. Ich hatte genugsame Beschäftigung und machte mir stets neue. Die Mutter ging mit uns spazieren und in Gesellschaft, wir lernten neue Verhältnisse kennen, wurden auf Gemütsarten und Schicksale aufmerksam.

Nach ein paar Monaten kehrte mein Vater von der Reise zurück, doch leider von einem Unfall betroffen, der ihn fürerst noch als Kranken im Hause halten mußte. Er hatte nachts mit dem Wagen umgeworfen und sich beide Knie aufgeschlagen. Die Wunden schienen zwar zu heilen, allein der allgemeine Zustand war gar nicht befriedigend, die frühere Krankheit zeigte sich wieder, die Wunden wollten sich nicht schließen, und eine Abnahme der Kräfte wurde merkbar. Mit ungemeiner Seelenstärke trug der Vater diesen peinlichen, langwierigen Zustand, rang von Stufe zu Stufe mit der stets ansteigenden Krankheit, und wiewohl er sich nicht verhehlte, daß er dem Übel erliegen müsse, so gab er doch den Kampf nicht auf und führte sein Tagewerk, soweit es diese betrübten Umstände zuließen, unverdrossen fort. Auch meines Unterrichts nahm er sich wieder tätig an, und um so fruchtbarer, als er nun den ganzen Tag mich unter Augen hatte.

Während dieser langen Krankenzeit nahmen wir mit Erstaunen in dem Vater eine wichtige Veränderung wahr. Schon vor seiner Reise war es uns aufgefallen, daß er in betreff der Franzosen kühler gestimmt war, ihren Siegen wenig Anteil mehr widmete, ihre politischen und militärischen Handlungen häufig mißbilligte. Diese Richtung trat[103] jetzt in offener Entschiedenheit hervor. Die Forderungen Frankreichs an Deutschland auf dem Rastatter Kongreß, die Unternehmungen in der Schweiz und in Italien, ja sogar Bonapartes Zug nach Ägypten erfuhren seinen scharfen Tadel. Wir entdeckten bald, daß hierin sein Freund Kirchhof lebhaft mit ihm einstimmte und daß beide, sooft sie zusammenkamen, sich in diesen Ansichten steigerten. Wir waren nicht wenig betroffen und ich ganz außer mir. Von jeher war ich gewohnt, den Vater in allen Dingen als höchste Autorität anzusehen, in Gedanken und Meinungen ihm nachzufolgen, sein Urteil und seine Handlungen als wahr und richtig anzunehmen; in diesem Falle wurde mir dies unmöglich, seine Umwandlung schien mir ein Verrat an der guten Sache, eine Untreue gegen alle Sympathien seiner früheren Zeit. Ich fühlte, daß hierin zwischen uns eine Scheidewand aufstieg, daß wir fortan getrennt seien, meine Selbständigkeit war mir auf das schmerzlichste klar. Mit ihm zu streiten konnte nicht gelingen; und weil ich ihn leidend sah, vermied ich es ganz. Es war mir lieb, daß auch Mutter und Schwester auf meiner Seite standen und wir unsre Meinungen austauschen konnten; aber ich bedurfte des Anhaltes kaum, denn ich war in mir gewiß, meine Überzeugung sei unabhängig von fremder Gewähr. In der Tat wurde sie durch die Ereignisse mehr und mehr bloßgestellt, das Glück wandte der Sache, der ich anhing, den Rücken, und wir hatten das bittre Leid, meinen Vater noch in den letzten Zeiten seines Lebens, da er schon wenig Anteil mehr an den Dingen nehmen konnte, bei den Unfällen der Franzosen in Deutschland und Italien wohlzufrieden zu sehen und jeder schlimmen Nachricht, die uns das Herz bluten machte, beistimmen zu hören; für uns um so unbegreiflicher, da die Gründe dieser Sinnesänderung nicht ausgesprochen wurden, die der früheren Ansichten aber tief in uns eingepflanzt waren und fortwirkten.

Nicht verletzend, aber doch seltsam und wunderlich, berührte uns eine andre Richtung, in welche der Vater jetzt[104] mehr als sonst einging. Ich habe schon zu erwähnen gehabt, daß ich ihm früher die Psalmen lateinisch vorlesen mußte; hiebei lag unstreitig ein Bedürfnis religiöser Erhebung zum Grunde, dem ich auch andre Bücher nach Gelegenheit dienen sah; denn die kleinen Lieblingsausgaben von des heiligen Augustinus Betrachtungen und Handbüchlein, von Boethius' Tröstungen und andre solche Schriften, die er wieder und wieder zu lesen pflegte, waren doch wohl nicht für bloß geistreiche Unterhaltung bestimmt. Mit der Krankheit nahm die Vorliebe für solche Bücher zu, Thomas a Kempis wurde fleißig gelesen und besonders Hermann Hugos »Pia desideria«. Das letztere Buch, von einem Jesuiten verfaßt, dünkte mich in Ton und Bildern beinahe kindisch, und ich war etwas betroffen, den Vater dazu herabgestimmt zu sehen. Allein es hatte damit eine besondre Bewandtnis; mit jenem Buche war seine frühste Kindheit erfreut und genährt worden, er hatte dasselbe dann völlig vergessen, und jetzt kam es ihm unerwartet wieder vor Augen. Alle Bilder der Jugend, alle lieblichen und reinen Empfindungen frommer Einfalt erwachten in ihm bei diesen einst so vertrauten Blättern, und diesem süßen Eindrucke sich hinzugeben, war auch dem festen, aufgeklärten Manne wohl erlaubt. Übrigens nahm er seine Erbauung ebensogern aus protestantischen Quellen als aus katholischen, ich sah zum Beispiel Wanckelii »Precationes piae« bis zuletzt viel in seinen Händen; nur lateinisch mußten die Bücher sein, denn einzig in diesem Elemente, so sehr wirkte die frühste Gewöhnung fort, befand er sich wahrhaft wohl. Von der Freiheit seines Geistes, der Lebendigkeit seiner Überzeugungen und der Kraft seiner Menschenliebe gab er in dieser Prüfung vielfache Proben, sowohl durch Lehren, die er mir erteilte, als durch Anordnungen, die er traf. Ein zudringlicher Bekannter, der, wiewohl selber ungläubig, doch die Äußerlichkeiten der Kirche in Anregung brachte, wurde zur Ruhe verwiesen, mit heitrem Scherze, der den schönsten Mut bezeugte.[105]

Ein Umzug von der Steinstraße nach den Kaien, der notwendig geworden war, hatte meinen Vater wenig angestrengt, die Aussicht auf den bewegten Hafen freute ihn, und bisweilen sprach er sogar noch Hoffnungen aus, die sich aber in den nächsten Wochen rasch verloren. Er zehrte sichtbar ab, in der Nacht des 5. Juni fühlte er sich plötzlich matter, rief uns an sein Bette, sprach aber nicht mehr, sondern schlummerte sanft hinüber. Den Tag, an dem er sterben würde, hatte er, nicht uns, aber dem Freunde Kirchhof, acht Tage vorher genannt. Er starb im dreiundvierzigsten Jahre. Das Begräbnis war protestantisch. Der Freund setzte seinem Andenken die Worte: »Vir probus et sapiens.«

Es war längst bestimmt, daß ich in Berlin Medizin studieren sollte; in manchem Sinne schien ich dazu hinlänglich vorbereitet, in anderem jedoch nicht, und jedenfalls erregte mein Alter mehrfaches Bedenken. Mein Oheim, den ich durch einen lateinischen Brief von dem Ableben seines Bruders benachrichtigt hatte, rief mich zu sich nach Köln, um dort unter seiner Obhut zu studieren. Allein weder mein eigner Sinn stand dorthin noch sahen Mutter und Schwester dabei viel Haltbarkeit, und Kirchhof, der sich meiner väterlich annahm, wollte von dem Gedanken nicht weiter hören. Er nahm die ganze Sorge auf sich und meinte, ich solle nur noch einige Geduld haben und wenigstens mein fünfzehntes Jahr abwarten, die Zwischenzeit könne ich einstweilen noch trefflich nutzen, denn die anatomischen und chirurgischen Vorlesungen gingen ununterbrochen fort, und meines häuslichen Fleißes war er gewiß. Damit auch im Französischen mir die lebendige Anregung nicht fehlte, erbot er sich, meine Ausarbeitungen in dieser Sprache wöchentlich mit mir durchzugehen; auch im Englischen wollte er mir Stunden geben, und mit Büchern und andern Hülfsmitteln aus seiner reichen und schönen Bibliothek versah er mich bestens. Ich war mit allem wohlzufrieden und ließ es an Fleiß nicht fehlen.[106]

So verging denn doch über ein Jahr, bevor meine Abreise nach Berlin sich näher bestimmte, eine Zeit, von der noch manches zu erzählen wäre, wenn es mit dem Gegebenen nicht schon genug dünken dürfte. Kirchhof hatte inzwischen mit dem Generalstabschirurgus Görcke in Berlin wegen meiner Aufnahme in die dortige chirurgische Pepinière korrespondiert, und mein Eintritt als sogenannter Volontär wurde zum Herbst 1800 festgesetzt. Das erst vor wenigen Jahren gegründete Institut wurde wegen seines zweckmäßigen Studienplans, der guten Aussicht und billigen Freiheit, in der die Zöglinge lebten, und wegen der vielfachen großen Hülfsmittel, die sich in Berlin ihm darboten, höchlich gerühmt; man pries mich glück lich, daß ich so früh ohne die Gefahren der Universität alle ihre Vorteile genießen sollte.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 75-107.
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