Kapitel L.
De principiis rerum naturalium
oder
Vom Ursprung der natürlichen Dinge

[182] Denn, vom Ursprung der natürlichen Dinge, worauf sich diese Philosophi fundieren, ist unter den Vornehmsten der grösste und härteste Streit, welcher noch immerdar unter dem Richter schwebet: wer von ihnen eine bessere Meinung gesagt habe; diese Leute bringen in Sachen, die auch einander kontraer sind, treffliche unwiderlegliche Rationes für.

Der Thales Milesius, der von dem Oraculo zuerst das Urteil empfing, er wäre ein Weiser, meinete, alle Sachen bestünden aus dem Wasser. Dessen Zuhörer und Successor aber, der Anaximander, sagte, dass die Principia, woher sie entstünden, unendlich wären, dessen Diszipul aber, der Anaximenes, wollte behaupten, dass aller Sachen Ursprung die unendliche Luft wäre, Hipparchus und Heraclitus Ephesius aber das Feuer, welchen beiden der Archelaus Atheniensis etlichermassen beigepflichtet. Der Anaxagoras Clazomenius, der hat statuieret, dass unzählige Ursprünge als kleine und geteilte Stücken wären, welche hernachmals durch den göttlichen[182] Geist mussten in eine gewisse Ordnung gebracht werden.

Der Xenophanes hat gemeinet, es wäre alles eines und dasselbe, der Änderung nicht unterworfen. Parmenides, es wäre das Kalte und Warme, welches die Erde bewegete und zuwege brächte; Leucippus, Diodorus und Democritus, es wäre das Volle und das Leere. Diogenes die Luft, welche an der göttlichen Vernunft partizipierte und derselben fähig wäre. Pythagoras Samius hat statuieret, dass die Zahl aller Sachen Anfang und Ursprung sei, welchem Alcmäon Crotoniates nachgefolget. Empedocles Agrigentinus hat gesaget, es wäre der Streit und die Freundschaft, und fürnehmlich die vier Elementa. Epicurus aber die Atomi im leeren Raume, die Stäublein in der Sonne; Plato und Sokrates hielten für den Ursprung Gott, die Ideen und die Materie; Zeno Gott, die Materie und Elementa; Aristoteles aber, es wäre die Materie nach Begehren der Forma durch die Beraubung, welche er unter den Ursprüngen für die dritte hält, zuwider demjenigen, was er zuvor an einem andern Orte gelehret hat, und dass man die Zweideutungen (wie das Wort Beraubung) darunter nicht zählen sollte. Dahero haben die neuen Peripatetici anstatt der Privation oder Beraubung einen gewissen Motum oder eine Bewegung, die Form und Materie zwingen musste, statuieret. Weil aber Bewegung nur ein Accidens oder zufällig Ding ist, so kann es ja der Ursprung und Anfang der Substanz nicht sein. Oder wer wird dieser Bewegung Bewegersein? Derohalben haben die hebräischen Philosophi statuieret und dafürgehalten, dass das Prinzip Materie, Forma und Spiritus oder Geist sei.[183]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 1, S. 182-184.
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