Kapitel LIV.
De morali philosophia
oder
Von der Sitten- und Tugendlehre

[202] Im übrigen aber, wann ja eine Disziplin oder Philosophie (wie manche meinen) von guten Sitten und Tugendlehren wäre, so halte ich dafür, dass solche nicht durch der Philosophorum schwachen Verstand, sondern durch wechselnden Gebrauch, Gewohnheit und Observanz zu Erhaltung des gemeinen menschlichen Lebens könnte begriffen werden; und dass solche nach der Zeit, des Orts und der Menschen Meinung veränderlich sei, woran gar nicht zu zweifeln ist; sie wird den Knaben durch Drohungen und Schmeicheleien, den Erwachsenen durch Gesetze und Strafen gelernet; manches, was nicht gelernt werden kann, hat die natürliche Tätigkeit der Menschen beigefügt, was nachher durch die Zeit und der Menschen Conspiration bei ihnen veraltert ist, es mag nun geschehen mit Recht oder Unrecht. Dahero geschieht's, dass, was einstens für ein Laster gescholten, jetzt für eine Tugend gehalten wird; und was hier eine Tugend, das ist dort ein Laster, was dem einen ehrbar, scheinet dem andern hässlich, was bei uns recht ist, das[202] ist bei andern unrecht; und solches nach jedwedes Orts, jedweder Zeit, jedweder Lage Menschensatzung und -meinung.

Bei den Atheniensern ist einem Manne vergönnet gewesen, seine rechte Schwester zur Ehe zu nehmen, welches aber bei den Römern für eine Schande gehalten worden. Vor Zeiten bei den Jüden und noch heutigen Tages bei den Türken kann ein Mann viel Weiber und Kebsweiber nehmen, welches aber bei uns Christen für ein Unrecht, ja für ein verdammliches Laster gehalten wird. Die jungen Leute in Griechenland haben viel Buhlen haben können; so ist auch bei ihnen keine Schande gewesen, wann Manns- und Weibspersonen aufs Theatrum getreten, welches aber bei den Lateinern und Römern nicht für ehrbar ist gehalten worden; doch haben sich auch nicht die Römer geschämet, ihre Weiber mit auf Gastereien zu nehmen, oder zur Versammlung vieler Leute mitzubringen und ihnen den Aufenthalt in den besten Zimmern der Häuser zu gestatten; hingegen in Griechenland ist keine Frau mit auf eine Gasterei genommen noch bei einer weitläuftigen Versammlung geduldet worden, wann es nicht gar eine nahe Verwandtschaft gewesen; auch hatte die Frau Zutritt nur in den verborgensten Räumen des Hauses, da niemand als die nächsten Verwandten haben pflegen zusammenzukommen. Bei den Ägyptern und Lazedämoniern ward das Stehlen für ein ehrlich Stück gehalten, bei uns müssen die Diebe hangen. Gewisse Völker sind von dem Himmel, wie Firmicus schreibet, so formieret und gestalt, dass sie nach ihren besondern Sitten ganz deutlich zu erkennen sind: die Scythier wüten mit einer unmenschlichen Grausamkeit; die Italiener leuchten herfür mit ihrem königlichen Adel; die Französischen sind närrisch; die Sizilianer scharfsinnig; die asiatischen Völker der Wollust ergeben; die Spanier stolz und hochmütig. Eine jedwede Nation hat ihre gewissen Sitten und Gebräuche, dadurch sie voneinander unterschieden sind; und werden an der Rede,[203] an der Stimme, an der Konversation, am Essen und Trinken, an ihrer Hantierung, an Liebe und Hass, im Zorn und im Kriege und andern Sachen mehr voneinander erkennet. Denn siehest du einen Menschen dahertreten mit stolzen, hohen Tritten, mit einer fechterischen Miene, mit einem unbändigen Gesichte, mit einer Ochsenstimme, mit harten Reden, wilden Gebärden und mit zerrissenen Kleidern, so wirst du gleich judizieren können, dass es ein Teutscher sei. Den Franzosen erkennen wir gleich an seinem massvollen Gange, an den weichen Bewegungen, an dem freundlichen Gesichte, an seiner süssen und leichten Sprache, an seinen modesten Sitten und lockern Habit. Den Spanier an seinem hochtrabenden Gange und Gebärden, an erhobenem Kopfe, kläglicher Stimme, schöner Rede und prächtiger Kleidung. Den Italiener aber an seinem langsamen Gange, an gravitätischen Gebärden, unbeständigem Gesichtsausdrucke und sanfter Stimme, einschmeichelnder Rede, hohen Sitten und ordentlichem Habit. So wissen wir auch, wie bei dem Singen die Italiener blöken, die Spanier seufzen, die Teutschen heulen und die Franzosen dem Gesang artliche Weise geben. Die Italiener sind in ihren Reden gravitätisch aber lustig, die Spanier artig aber ruhmredig, die Franzosen hurtig aber stolz, die Teutschen grob und einfältig. Im Ratgeben ist der Italiener vorsichtig, der Spanier listig, die Franzosen unbesonnen, die Teutschen tüchtig. Im Essen und Trinken ist der Italiener sauber, der Spanier delikat, der Franzose üppig, der Teutsche ungeschlacht. Gegen die Fremden sind die Italiener dienstfertig, die Spanier verträglich, die Franzosen sanftmütig, die Teutschen bäurisch und ungastfrei. In der Konversation sind die Italiener verständig, die Spanier vorsichtig, die Franzosen demütig, die Teutschen herrisch und unerträglich. Im Lieben sind die Italiener eifersüchtig, die Spanier ungeduldig, die Franzosen leichtfertig, die Teutschen ruhmredig; aber im Hassen sind die Italiener tückisch und heimlich, die Spanier beharrlich, die Franzosen[204] mit Worten drohend, die Teutschen rachgierig. In Verrichtung ihrer Geschäfte sind die Italiener vorsichtig, die Teutschen arbeitsam, die Spanier wachsam, die Franzosen sorgfältig. Im Krieg sind die Italiener tapfer aber crudel, die Spanier verschmitzet aber räuberisch, die Teutschen grausam aber feil ums Geld, die Franzosen grossmütig aber unvorsichtig und unbedachtsam. Die Italiener sind berühmt wegen der Literatur, die Spanier wegen der Schiffahrt, die Franzosen wegen ihrer Zivilität, die Teutschen wegen der Religion und der mechanischen Künste. Und hat eine jedwede Nation, so klein sie sein mag, ob gesittet oder barbarisch, ihre absonderliche Sitten und Gebräuche, nach dem sie ihnen von der Influenz des Himmels sind eingegeben worden, jedoch eine vor der andern ganz divers, welche unter keine philosophische Kunst fallen oder gerechnet werden können, sondern werden durch die natürliche Kraft ohne einige Disziplin dem Menschen gleichsam eingepräget.

Aber wir wollen unsere Rede auf dieselben richten, die in ihren Schriften uns dieser Sache gewisse Reguln hinterlassen wollten. Diese haben recht das Amt der Schlangen vertreten und uns diese Frucht hinterlassen, durch deren Genuss wir Gutes und Böses zu erkennen lernen sollen. Denn dieses ist ihre erste pestilenzische Meinung, man müsste Gutes und Böses wissen; und dadurch sagen sie, würden die Menschen den Tugenden nachfolgen und die Laster meiden. Aber wäre es nicht viel sicherer, ja wir wären auch viel glückseliger, wenn wir nicht allein das Böse nicht täten, sondern wenn wir auch von demselben gar nichts wüssten. Wer weiss nicht, dass wir alle miteinander dadurch elende Leute worden sind, da unsere ersten Eltern, was gut oder böse sei, gelernet[205] haben? Und deswegen könnte man denen Philosophis ihren Irrtum noch in etwas verzeihen, wann sie nicht unterm Vorwand der Tugenden und des Guten uns die nichtswürdigsten Sachen und schändlichsten Laster lehreten.

Ihre moralischen Sectae sind sehr zahlreich; es ist die Academica, Cyrenaica, Eliaca, Megarica, Cynica, Eristica, Stoica, Peripatetica und noch viel andere. Von diesem hat unter andern also philosophieret derjenige Theodorus, welcher, wie die Skribenten sagen, ein Gott ist genennet worden: ein Weiser, da es die Not erfordert, mag sich des Stehlens, des Ehebruchs und des Kirchendiebstahls befleissen; denn von diesen ist von Natur nichts schändlich; und wann der gemeine Wahn weggenommen wird, der bei dummen und unverständigen Leuten eingewurzelt ist, so würde ein Weiser öffentlich und ganz unstrafbar mit den Huren dürfen zu tun haben. Sehet, das sind die heiligen Gebote und Satzungen dieses göttlichen Philosophi, da fürwahr nichts Schändlicheres kann ausgesonnen werden. Es wäre denn, was der Aristoteles, wie wir lesen, soll approbieret haben: eine männliche Venus, die in einem kretischen Gesetze zugelassen worden, welche auch Hieronymus Peripateticus auf solche Art rausstreichet, wenn er saget: weil dadurch viel Tyrannien sind aus dem Wege geräumet worden; die Worte aber Aristotelis, womit er zu verstehen gibet, dass es in einer Republik nützlich sei, wenn das gemeine Volk nicht viel Kinder hat, sind diese: Ad cibi temperantiam, velut perutilem, multa legislator sapienter ac studiose constituit, et de mulierum divortiis; siquidem, ne superfluam parerent multidudinem, cum masculis induxit concubitum. Das ist: Was die Temperantia oder Mässigkeit im Essen und Trinken als ein sehr nützlich Tun betrifft, haben die[206] Gesetzgeber eines und das andere heilsam und klüglich geordnet, wie auch von dem Scheidebrief der Weiber; denn damit sie nicht eine so grosse Menge Kinder hersetzen möchten, hat er die Päderastie eingeführet. Dieses ist dieser Aristoteles, dessen schöne Sittenlehre Plato reprobieret hat; daher hat sich der Hass und die Undankbarkeit gegen seinen Lehrer entsponnen; er hat sich einer Strafe seines gottlosen Lebens befürchtet und ist er heimlich und geschwind aus Athen geflohen; und als der Undankbareste auch gegen den grossen Alexander, welcher ihn mit vielen Sachen herrlich begabet und ihm sein Leben vertrauet und ihn in sein Vaterland wieder eingesetzet, doch hat er sich nicht gescheuet, ihn mit Gift zu vergeben; und also hat auch eben dieser Aristoteles auf die Letzt so böse Gedanken von der Seelen gehabt, dass er den Ort der Freude nach dem Tode negieret, die Dicta der Alten zusammengeraffet und abscheulich interpretieret, und hat also den Ruhm seines Verstandes durch lauter Diebstahl und Verleumdung gesuchet. Ja, endlich ist er in seinem bösen Wesen als alter Mann so verhärtet worden, dass er aus unmässiger Begierde der Wissenschaft in eine Unsinnigkeit geraten und sich selbst ums Leben gebracht hat, und ist also, als ein rechter schöner Teufelsbraten den bösen Geistern, die ihm solche Wissenschaften gelernet, aufgeopfert worden. Fürwahr, das ist noch heutiges Tages ein würdiger und höchstgelehrter Doktor und Lehrer in unsern Schulen, welchen meine Cölnischen Theologi unter die Heiligen mitgezählet haben, und ist von ihnen ein Buch rauskommen, welches sie titulieret haben »vom Heil des Aristotelis«, auch noch ein Gedicht vom Leben und Tod Aristotelis, welches hernach die theologische Glossa noch weitläuftig illustrieret hat; und wird in denselben ganz zuletzt gesaget, dass Aristoteles ein Vorläufer Christi in natürlichen Dingen war, also wie Johannes der Täufer in geistlichen Dingen.[207]

Aber wir gehen von unserm Vorsatz ein wenig zu weit ab; nun wollen wir hören, was die Philosophi von der Glückseligkeit oder dem höchsten Gute für Gedanken führen. Denn andere haben das Summum Bonum in blossen Wollüsten gesuchet, wie Epicurus, Aristippus, Gnidius Eudoxus, Philoxenes und die Cyrenaici. Andere haben zu den Wollüsten noch die Ehrbarkeit gesetzet, wie der Dinomachus und Calipho. Andere haben sie gesetzet in den ersten Zustand der Natur, wie Carneades und Hieronymus Rhodius; andere in die Gleichgültigkeit gegen Schmerzen, wie Diodorus; andere in Tugenden, wie Pythagoras, Sokrates, Aristo, Empedocles, Demokritus, Zeno, Cleanthes, Hecaton, Poseidonius, Dionysius Babylonicus, Antisthenes und alle Stoici, und viel von unsern Theologen, die ihnen diesfalls beipflichten. Sie disputieren aber dennoch von dem Zusammenhang der Tugenden, und dass dieses das rechte Fundament der Glückseligkeit sei, in welchem alle Tugenden zusammenkommen. Denn wenn sie nicht alle miteinander ihren Zusammenfluss bei einer haben, so kann der Mensch nicht glückselig genennet werden, wann ihm nur eine einzige mangelt. Dieweil aber nun die Tugenden unverträglich, auch bisweilen einander zuwider zu sein scheinen, als die Liberalität mit der Sparsamkeit, die Barmherzigkeit mit der Gerechtigkeit und andere mehr, so sind sie ja nicht, wenn sie nicht einträchtig[208] zusammenkommen können, Tugenden, sondern Laster. Dieses aber, in welchem sie alle zusammenkommen, wie Ambrosius und Lactantius mit dem Macrobio und nach des Platonis Meinung dafür hält, soll die Gerechtigkeit sein; andere die Mässigkeit, andere die Gottesfurcht, wie Plato in Epimenide, andere die Liebe, ohne welche, wie Paulus meinet, niemand keine Tugend erlangen kann; und über die alle streitet noch Thomas, Henricus, Scotus und andere.

Aber lasset uns wieder zur Sache kommen. Das Summum Bonum oder die höchste Glückseligkeit setzen noch andere in das Glücke, wie der Theophrastus; Aristoteles aber in das Glücke nebenst den ursprünglichen Tugenden, ja wohl gar auch der Lust, welche mit den Tugenden geschminket ist, gleich als wenn Epicurus nicht eben auch in dieser Meinung gewesen wäre. Die andern peripatetischen Philosophi aber, in die Kontemplation und Betrachtung; der Herillus Philosophus, der Alcidamus und viel Schüler des Sokratis haben die Wissenschaft für das Summum Bonum gehalten. Aber die tiberinischen Völker, welche den Chalybibus nahe wohnen, die haben dafür gehalten, dass der Überfluss und das Lachen das Summum Bonum und die höchste Glückseligkeit sei. Es sind ihrer, die solches in das Schweigen gesetzet haben; die Platonici aber mit ihrem Platone und Plotino, die immer den Geruch nach dem Himmlischen genommen, haben diejenige Glückseligkeit, die in der Vereinigung mit dem Summo Bono bestehe, fürs Höchste gehalten. Bias von Priene in die Weisheit; Bion und Berysthenes in den Verstand; Thales Milesius in beide zusammen; Pittacus von Mitylene in ehrlich Handeln; Cicero in Vakation oder Freisein von allen Dingen, aber diese kann bei niemand als bei Gott angetroffen werden. Die andern gemeinen Philosophos, welche alle Glückseligkeit geleugnet, die will ich jetzo nicht anführen, unter welchen gewesen ist Pyrrho aus Elis, Euricolus, Xenophanes; auch die,[209] welche die höchste Glückseligkeit in die Ehre, Ruhm, Macht, Müssiggang, Reichtum und andere dergleichen Sachen gesetzet haben, wie der Periander Corinthius und Lycophron, und alle dieselben, von welchen der Psalter dieses redet: Quorum os locutum est vanitatem, et dextera eorum, dextera iniquitatis; quorum filii sicut novellae plantationes in juventute sua. Filiae eorum compositae, circumornatae, ut similitudo templi. Promptuaria eorum plena, eructantia ex hoc in illud; oves eorum foetosae, abundantes in egressibus suis, boves eorum crassae. Non est ruina maceriae, neque transitus, neque clamor in plateis eorum. Beatum dixerunt populum, cui haec sunt. Das ist: Ihre Lehre ist kein Nutze, und ihre Werke sind falsch. Ihre Söhne wachsen auf in ihrer Jugend wie Pflanzen, und ihre Töchter wie die ausgehauenen Erker, gleichwie die Paläste. Ihre Kammern sind voll, die herausgeben können einen Vorrat nach dem andern, dass ihre Schafe tragen tausend auf ihren Dörfern; dass ihre Ochsen viel erarbeiten, dass kein Schaden, kein Verlust noch Klage auf ihren Gassen sei. Und wem dieses widerfahren ist, den haben sie für glückselig gepriesen.

Nun aber sind sie auch wegen der Lust nicht einig, welche (wie wir oben gehöret haben) Epicurus für das Summum Bonum gehalten hat; hingegen hat Archytas Tarentinus, Antisthenes und Sokrates die Lust für das Summum Malum, oder das höchste Übel gehalten; Speusippus aber und andere alte Academici haben gesagt, die Lust und der Schmerz wären zwei böse Dinge, einander gegenüber gesetzet, was aber das mittelste zwischen diesen wäre, das wäre das Gut; Zeno hat dafür gehalten, dass die Lust weder böse noch gut, sondern ein indifferent Wesen wäre. Critolaus Peripateticus und Plato haben die Lust für böse und für eine Mutter und Speise alles Übels gehalten.

Es würde zu lang sein, aller Meinung de Summe Bono oder von der Glückseligkeit hier zu erzählen, oder einen Extract zu machen aus dem, wovon soviel[210] Bücher vollgefüllet sind. Augustinus gedenket über 288 Meinungen hiervon, welche von dem M. Varrone sind zusammen gesammelt worden.

Aber lasset uns jetzo sehen, wie dieses mit Christo übereinkommet; da werden wir erfahren, wie diese Glückseligkeit nicht durch die stoicischen Tugenden, noch durch die akademischen Reinigungen, noch durch die peripatetischen Speculationes, sondern durch den Glauben und durch die Gnade des Wortes Gottes kann erlanget werden. Denn ihr habet ja gehöret, wie die Philosophi guten Teils die Glückseligkeit in die Lust gesetzet haben; Christus aber in Hunger und Durst; andere in die Ehre, guten Namen und Erweiterung desselben; Christus aber in Verachtung und Hass der Menschen; andere in die angeborenen Sachen, als in die Gesundheit, in die Freude und in die Unempfindlichkeit; Christus aber in Weinen und Trauern; andere in die Klugheit und Weisheit, und in moralische Tugenden; Christus aber in die Unschuld, in Einfalt und Reinigkeit des Herzens; andere in Glück; Christus aber in die Barmherzigkeit. Andere in den Ruhm des Krieges, und Herrschung über die Länder; Christus aber in Friede; andere in Ehre und Pracht; Christus aber in Demut und Niedrigkeit, und hat Sanftmütige selig gepriesen; andere in die Gewalt und in die Victorie; Christus aber in die Verfolgung. Andere in Überfluss und Reichtum; Christus aber in Armut. So lehret uns auch Christus, dass wir die wahre rechtschaffene Tugend aus blossen Gnaden erlangen; die Philosophi aber, dass wir solcher durch unsere Kräfte und Übung fähig würden. Christus lehret, dass alle Begierde der Concupiscentia Sünde wäre, die Philosophi aber meinen, es sei ein indifferent Werk, welches weder tugend- noch lasterhaftig wäre. Christus lehret, dass man sich um alle wohl verdienen sollte, man sollte auch die Feinde lieben, freigebig leihen, nicht Rache üben, gerne geben; hingegen die Philosophi sagen, man soll niemand nichts Gutes tun, als von welchen man Gutes empfinge; sonst wäre es wohl[211] vergönnet, zu zürnen, zu hassen, zu streiten, zu kriegen und zu wuchern. Und sie haben uns mit ihrem freien Willen und mit ihrer Vernunft die pelagianischen Ketzer zuwege gebracht.

Aber die ganze moralische Philosophie ist, wie Lactantius Zeuge ist, falsch und vergeblich und tut nichts zur Erhaltung der Gerechtigkeit oder der Menschen Wohlfahrt. Ja endlich ist sie den heiligen Geboten und Christo selbst zuwider, und ihre Ehre gebühret keinem andern als dem lebendigen Teufel.[212]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 1, S. 202-213.
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