Kapitel V.
De historia
oder
Von der Geschichtschreiberei

[42] Es ist aber die Geschichtschreiberei ein Erzählung geschehener Dinge, welche entweder gelobet oder gescholten werden, auch wichtiger Händel, Ratschläge, Tun und Ausgänge der Könige und grosser Leute Taten, nach Ordnung der Zeit und Orter, sonderliche Beschreibung, durch welche uns dieselben dergestalt abgemalet und vor Augen gestellet werden, als wenn sie lebendig wären.

Derowegen halten fast alle dafür, dass diese eine Meisterin des Lebens, und zu unserm Tun die allernützlichste sei, weil dieselbe durch vieler Sachen Exempel uns zu einem unsterblichen Namen und schönen Taten anreizet, also, dass sie auch bisweilen leichtfertige und böse Leute aus Furcht der ewigen Schande von den Lastern abhält, obgleich dieses zum öftern einen ganz andern Ausgang genommen hat.

Denn es sind ihrer viel, welches Livius von dem Manlio Capitolino wahrgenommen, die lieber einen grossen als guten Namen haben und hinter sich lassen wollen, auch andere, wenn sie nicht durch Tugenden sich bekannt machen können, doch durch Laster und[42] böse Taten in der Welt berühmt zu machen sich bemühen. Es beschreibt Justinus in seinen Geschichten von dem Pausania Macedona, einem Jüngling, den Königsmord des Königs Philippi; er erzählt auch von dem Herostrato, welcher den Tempel der Dianae zu Ephesien, ein unter der Sonne fast schönstes Werk, und daran ganz Asien über 200 Jahre gebaut, angezündet, wie Gellius, Valerius und Solinus gleichfalls davon Meldung tun, und obwohl durch scharfe Gesetze verboten worden, dass niemand diesen leichtfertigen Buben nennen, oder dessen in seinen Schriften gedenken solle, so hat er doch seinen Endzweck, und warum er diese verbrecherische Tat verübt, erlangt, nachdem er durch seinen bösen Nachklang dieses Geschrei auf uns durch soviel Secula gebracht.

Aber dass wir zur Geschichtschreiberei wieder kommen, obgleich von dieser eine zierliche Ordnung, Glauben, Einstimmigkeit und Wahrheit der Sachen am meisten erfordert wird, so tut sie doch hierin nichts weniger als dieses. Denn die Historienschreiber sind so diskrepant und schreiben so divers und auf unterschiedliche Arten untereinander, dass es unmöglich scheint, und man fast notwendig dafür halten muss, dass die meisten unter ihnen die allerverlogensten unter den Leuten sein müssen. Ich will jetzt nichts sagen vom Anfang der Welt, von der allgemeinen Sündflut und Gründung Roms, denn davon schreiben sie, und ist doch das erste ihnen alles verborgen, das andere glauben nicht alle, und das dritte ist bei ihnen ganz ungewiss. Derowegen, weil dieses Sachen sind so weit entfernt, und mit gleicher Vernunft von allen nicht können begriffen werden, so verdienen sie noch etlichermassen Vergebung ihrer Irrtümer, aber von andern darauffolgenden Geschichten muss ihnen die Schuld der Lügen beigemessen werden. Der Ursachen aber solcher Nichtübereinstimmung gibet es gar viel, denn die meisten, weil sie nicht zu derselben Zeit gelebt oder an demselben Ort, oder bei denselben Personen und Geschichten gewesen[43] sind, so haben sie ihre Schriften aus andern Relationen zusammentragen müssen und können dahero nichts Gewisses und Beständiges schreiben. Dieses Lasters wurde vom Strabone beschuldigt der Eratosthenes, Metrodorus, Poseidonius und der Geograph Patrocles. Andere sind, wenn sie nur ein Teil der Sachen und gleichsam nur im Vorbeigehn gesehen, und wie die Bettler das Land und Armenhäuser durchstrichen haben, die unterstehen sich Historien zu schreiben.

Auf solche Art hat vor Zeiten Onosicritus und Aristobulus von India geschrieben. Es gibt ihrer auch, die bloss zur Zierat und Belustigung den wahren Geschichten Lügen zusetzen, oder die Wahrheit gar vorbei gehen, von welchen Diodorus Siculus gedenket, und den Herodotum deswegen straft, wie auch Liborianus und Vopiscus den Trebellium, Tertullianus und Orosius den Tacitum, zu welchen wir auch gesetzt haben den Danudem und Philostratum. Ja, es gibt ihrer auch, die aus wahrhaften Dingen Fabeln machen, als Gnidius, Cresias, Hecatäus und viel andere alte Historienschreiber. Es gibet ihrer auch viel, welche sich für Historienschreiber ausgeben, und damit sie hohe Wissenschaft an Tag bringen möchten, so schreiben sie von unbekannten Ländern, in welche niemand lebenslang kommen ist, aber nichts anderes als grausame Lügen; wie zu lesen ist von den Pigmoeen, Arimaspis, Gryphis, Kranichen, Cynocephalis und Troglodytis, und diesen Irrtümern pflichten auch bei, welche so grosse Kälte über dem Arktischen Meere statuieren, gleichwohl aber finden diese noch Narren und einfältige Menschen, welche diesen allen, gleich als wenn es aus dem Oraculo geredet wäre, Glauben beimessen.

Der Arrianus, ein Grieche, hat den Sitz der Deutschen nicht weit von Ionio statuiert, mit welchem auch in diesem Stück übereinkommt der Dionysius, welcher von dem Pyrenäischen Gebirge ganz falsche Sachen geschrieben und an Tag gebracht hat. Was über dieses Cornelius Tacitus, Marcellus, Orosius und Blondus[44] von vielen Örtern in Deutschland schreiben, das kommt von der Wahrheit weit ab.

Also schreibt Strabo ganz falsch, dass die Donau nicht weit von dem Adriatischen Meer entspringe, und Herodotus, dass solche von Abend herfliesse und dass sie bei den Kelten, ist ein Volk in Frankreich, entspringe und in Skythien hineinginge; und wiederum Strabo schreibt, dass die Lippe (?) und Weser bis nach Hanau fliesse, da doch die Lippe mit dem Rhein sich vermengt, die Weser aber ins Meer fliesst. Also auch Plinius schreibet, dass die Maas in den Ozean oder ins grosse Meer fliesse, da sie doch in den Rhein gehet. Mit eben dergleichen Irrtümern aus den neuen Historien und Weltbeschreibern hat der Sabellicus statuiert, dass die Alanen, ist ein skytisch Volk, von den Alemannen oder Deutschen herkämen, und die Hungarn von den Hunnen. Ja dieser konfundiert die Goten mit den Geten und die Dänen mit den Dacis oder Wallachen, und sagt, dass der Berg Oetiliae in Bayern liege, da er doch nicht weit von Strassburg zu sehen ist.

Conradus Celtes hält dafür, dass die Dacier mit den Cimbern einerlei Volk wären, wie auch die Cheruscier und die Cerusier, auch dass das Riphäische Gebirge in Sarmatia liege, und der Agtstein ein Gummi aus den Bäumen wäre. Es sind noch ehender Historienschreiber, welchen noch grössere Lügen können beigemessen werden. Denn ob sie gleich bei einer Sache gewesen, oder dass sie anders geschehen sei, selbst gesehen, so bringen sie doch entweder aus Gunst oder aus Liebkosen und Schmeichelei lauter falsche Sachen wider die Wahrheit an den Tag; von dieser Art sind auch, welche parteilich die Sachen tadeln oder defendieren, und nur dasjenige vorbringen, was ihrem Vorhaben gutdünkt, das Wahrhaftige aber gehen sie entweder gar vorbei oder machen es ganz gering und mangelhaft.

Dieses Lasters beschuldigt Blondus den Orosium, dass er die grosse Niederlage in Italien, da die Goten[45] Ravennam, Candanum (?), Aquilegiam, Ferrariam und fast ganz Italien verwüstet, verschwiegen, damit er seine vorgesagte Absicht dadurch nicht geringer machen möchte. So sind auch andere, die entweder aus Furcht oder aus Heuchelei, oder aus Hass der Wahrheit derselben etwas abzwacken; andere, indem sie die Taten ihrer Landsleute in den Himmel heben, verkleinern sie der andern ihre und machen sie gering, schreiben also nicht, wie die Sache an sich selber ist, sondern wie sie es gerne hätten, dass sie sein sollte, und wie es ihnen beliebt, und haben dabei die Zuversicht, dass diejenigen, welche sie so artig geschmeichelt haben, ihren Lügen nicht werden widersprechen oder Zeugnis wider sie geben. Dieses Laster, welches vor Zeiten bei den griechischen Skribenten gemein gewesen, ist heutiges Tages fast bei allen Völkern eingerissen, und werden diese Historienschreiber von den Fürsten zu keinem andern Ende unterhalten, als dass, wie Plutarchus sagt, sie durch ihre nachsinnigen Köpfe anderer Leute Tugenden unterdrücken, ihre Taten aber mit lauter unnützem Geschwätz und Erdichtungen durch ihre historische Autorität erheben. Also, wenn die griechischen Historici von Erfindung der Sachen schrieben, so massten sie sich selbst alle Erfindung bei. So ist auch eine andere verderbte Art der Historienschreiber und Schmeichler, wenn sie sich unterstehen, den Ursprung ihrer Fürsten auf die ältesten Könige zu extendieren, und wenn sie mit Deduzierung ihres Geschlechtes nicht können fortkommen, so muss ein fremder Urstamm und weithergeholte Fabeln herhalten, dichten den Königen neue Namen an und lügen nicht wenig dazu.

Überdies gibet es derer auch viel, die solcherlei Historien schreiben, welche nicht das, was wahr ist, an Tag bringen wollen, sondern damit sie nur den Leser erlustieren und das Bildnis eines wackeren Fürsten, in wem sie wollen, exprimieren und erdichten mögen. Wenn nun einer gefunden wird, der sie einer Lüge bezichtigt, so sagen sie, dass sie nicht sowohl auf die[46] Taten an sich selbst, als auf den Nutzen der Posterität und Lob eines guten Namens ihr Absehen gehabt hätten. Derowegen wäre es nicht ratsam, alles zu erzählen, wie es zugangen, sondern wie es zu erzählen für ratsam könnte befunden werden. So müsste man auch nicht auf die Wahrheit so halsstarrig und erpicht sein, wenn wegen des gemeinen Nutzens viel mehr eine Lüge und Erdichtung erfordert würde; sie rufen zum Zeugen an den Fabium, welcher gesagt: »Eine Lüge, so zur Überredung ehrlicher Sachen gebraucht würde, wäre nicht zu tadeln.« Überdies sagen sie, würden diese Sachen alle unsern Nachkommen geschrieben, denen wenig oder nichts daran liege, mit was für Art ein Exempel eines guten Fürsten dem gemeinen Wesen vorgestellt würde. Dergleichen hat getan der Xenophon von dem Cyro, welcher denselben nicht, wie er gewesen, sondern wie er hat sein sollen, als ein Exempel und Vorbild eines tapferen Fürsten, aber ohne Grund der Wahrheit, in seinen Historien uns vor Augen gemalt und beschrieben.

Dahero ist es endlich geschehen, dass viel, die von Natur oder durch Kunstartig zu lügen gewusst, mit ihren scheinbaren Argumenten fabulische Historien geschrieben, wie sie solche Narrenspossen als der Morganae und Magelonae, Melusinae, des Amadisi, Florandi, Tyranti, Conamori, Arthuri, Dietheri, Lanceloti, Tristani, oder gar nichtswürdige Fabeln und erdichtete Schwärmereien, schlimmer als alle Fabeln der Dichter, an Tag gegeben. Ja auch bei den Gelehrtesten und Vornehmsten als dem Luciano und Apulejo, wie auch bei dem Herodoto, dem Grossvater der Historienschreiber, bei dem Theopompo, wie Cicero sagt, sind unzählige Fabeln zu finden, und ihre Bücher aller Lügen voll; da lesen wir Wundersachen von Bergen und Flüssen und was sonst das verlogene Griechenland in den Historien sich untersteht. Und dieses sind die Ursachen, warum fast nirgends ein historischer Glaube gefunden wird, den man doch allerdings da suchen sollte, obgleich davon zu urteilen uns schwer fällt. Denn, weil[47] die Beschreibung solcher Sachen, welche entweder wahr oder unwahr sind, nicht öffentlich geschieht, und einem jeden seine Meinung zu lassen ist, so haben sie dadurch die Macht, zu irren und zu lügen, erlanget; dahero bei den Historienschreibern so eine grosse Uneinigkeit entstanden, dass (wie Josephus sagt wider den Appionen) sie in ihren Büchern sich selbst des Irrtums überführen; also, dass sie das Contrarium von ihren Sachen schreiben. Wie weit, sagt eben dieser, diskrepieret der Hellanicus von dem Agesilao von der Genealogia, wie oft korrigiert der Agesilaus den Herodotum, und wie artig weist der Ephorus, dass der Hellanicus in vielem ein Lügner gewesen sei. Den Ephorum tadelt der Timäus, diesen die nach ihm kamen, den Herodotum aber alle. Solches schreibt der Josephus von andern, diesen aber tadelt unser Egesippus. So erzählen auch viel Historienschreiber viel Dinge, aber sie beweisen nicht alles, oder beweisen oftmals solche Sachen, die ganz nicht zu approbieren; die meisten stellen uns Exempel vor die Augen, die doch böse sind. Denn wenn sie den Herculem, Achillem, Hectorem, Theseum, Epaminondam, Lysandrum, Themistoclem, Xerxem, Cyrum, Darium, Alexandrum, Pyrrhum, Hannibalem, Scipionem, Pompejum, Caesarem mit trefflichem Lobe abmalen, so beschreiben sie nichts anderes als die grössten Strassenräuber und berühmtesten Diebe in der Welt, und lass es sein, dass sie auch gute Regenten anfänglich gewesen sind, so sind sie doch die schlimmsten und ärgsten hernach worden. Und so einer zu mir etwa sagen wollte, dass man aus dem Lesen der Historien die beste Weisheit erlangen könnte, so will ich ihm dieses nicht ganz und gar verleugnen, wenn er mir nur auch dieses zugibet, dass man daraus auch den grössten Schaden, ja oft den Untergang selbst schöpfen kann. Dahero sagt Martialis an einem Orte: Sunt bona multa, sunt mediocria multa, sunt mala multa, das ist: Es sind viel gute Sachen, viel mittelmässige, viel böse.[48]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 1, S. 42-49.
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