Kapitel X.
De arte memorativa
oder
Von der Gedächtnisskunst

[68] Unter diese Kunst wird auch gezählet die Gedächtniskunst, welche, wie Cicero sagt, nichts anders ist als eine Anleitung, welche mit gewissen Örtern, Bildern und Charakteren das Gedächtnis gleichsam zuverlässig wie ein geschriebenes Buch macht; erstlich von dem Simonide Melitone meistenteils erdacht, darnach durch den Metrodorum Scepticum zur Vollkommenheit gebracht. So gross als sie sein mag, kann diese Kunst doch ohne das natürliche Gedächtnis keineswegs bestehen, welches oftermals durch unzählige Vorstellungen der Wörter und Sachen also beschweret ist, dass welche mit ihrer natürlichen Begabtheit nicht zufrieden sind, durch diese Kunst unsinnig werden.

Dahero, als Simonides oder ein anderer diese Wissenschaften dem Themistocli gewiesen, hat er gesaget: ich halte es lieber mit der Vergessenheit, denn ich behalte oft, was mir nicht anstehet, und vergesse nicht, wie ich möchte; und Quintilianus saget von Metrodoro: Es ist nur eine blosse Eitelkeit und ein nichtswürdiger Ruhm, den man mit dem Gedächtnis führet, wenn man sich einer Kunst mehr rühmet als der Natur. Hiervon hat[68] geschrieben Cicero (in libr. Rhetoric.), Quintilianus (in Institut.) und Seneca; von neuen aber Franciscus Petrarca, Matheolus Veronensis, Petrus Ravennas, Hermannus Buschius und andere; sie sind aber nicht wert, dass sie im Catologo stehen. Die meisten sind dunkel, und obwohl heutiges Tages ihrer viel sich dieser Kunst befleissigen und darinnen weit fortzukommen gedenken, so sehen wir doch, dass sie ihren Lehrmeistern anstatt des Nutzens nichts als Schande bringet; und pflegen diese leichtfertigen betrügerischen Lehrer mit ihrer Neuigkeit ihre armen Schüler um ihr bisschen Geld zu bringen. So ist es auch endlich ein recht kindischer Ruhm, sich mit dem Gedächtnis hervorzutun, schändlich aber und unverschämt vor den Türen solche Sachen ums Lohn zu weisen, und das Haus inzwischen leer und öde zu lassen.[69]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 1, S. 68-70.
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