Die Seele des Wunschlosen

[84] »Das gilt für den von Verlangen Erfüllten. Aber hinsichtlich dessen, der kein Verlangen hegt, heißt es: Der, welcher keine Wünsche hegt, welcher frei von Wünschen ist, dessen Wunsch das Selbst ist, dessen Wunsch erfüllt ist, aus dem ziehen die Hauche nicht fort. In ihm vereinigen sie sich. Er ist schon Brahman und geht in Brahman ein. Das sagt der Vers:

›Wenn alle Wünsche schwinden, die in seinem Herzen wohnen, dann wird der Mensch unsterblich. Schon hier erlangt er Brahman.‹ Wie eine alte, abgeworfene Schlangenhaut auf einem Ameisenhaufen liegt, ebenso liegt der Körper hier da. Der knochenlose, körperlose, erkenntnisreiche Âtman ist Brahman, ist die Welt, o Großkönig.«

So sprach Yâjnavalkya.

›Ich gebe dem Ehrwürdigen Tausend‹, sprach Janaka, der Fürst der Videha.

Davon handeln auch die Verse:

Es gibt einen schmalen, sicheren, hinüberführenden, alten Weg ..., den ich gefunden habe. Auf ihm ziehen die Weisen, die Brahmakenner zum Himmel empor, die von dieser Welt erlöst sind.

Auf ihm, sagt man, ist Weißes, Blaues, Gelbes, Grünes, Rotes. Das ist der Weg, der durch das Brahman gefunden ist; auf ihm geht der Kenner des Brahman gluterfüllt und fromme Werke tuend.

In blinde Finsternis gehen die, die dem Vergehen anhängen; in noch tiefere, scheint es, die, die an dem Werden sich erfreuen1.

Asurisch heißen diese Welten, die von blinder Finsternis bedeckt sind. Zu diesen gehen nach dem Tode die Menschen, die ohne Wissen und Weisheit sind.

Das, was wir sind, wir werden dazu. Ist das nicht erkannt, so ist das Verderben groß. Die es erkennen, die werden unsterblich. Aber die anderen verfallen der Pein.[85]

Wenn ein Mensch vom Selbst weiß: ›Das bin ich‹, in welcher Absicht, in welchem Verlangen möchte er da noch an dem Körper hängen?

Wer sein Selbst gefunden und in diesem dichten Behälter (des Leibes) befindlich wahrgenommen hat, der ist allschaffend; der ist der Schöpfer von allem. Dem gehört die Welt, und er ist die Welt.

Wenn er auf diesen Âtman unmittelbar als Gott hinblickt, als Herrn über Vergangenheit und Zukunft, dann hegt er keinen Zweifel mehr.

Auf ihm beruhen die fünf Stämme, auf ihm der Äther. Dieses Selbst sehe ich als das Brahman an, selbst unsterblich als das Unsterbliche.

Diesseits von ihm rollt das Jahr mit seinen Tagen sich ab; die Götter verehren es als das Gestirn der Gestirne, als das ewige Leben.

Die, welche in ihm des Hauches Hauch, des Auges Auge, des Ohres Ohr, der Speise Speise, des Manas Manas sehen, sie haben das alte, über allem stehende Brahman erkannt.

Mit dem Manas muß man es erfassen: nicht gibt es hier Verschiedenerlei. Der fällt von Tod zu Tod, der hier Verschiedenerlei sehen will.

Mit dem Manas muß man nach ihm ausschauen, nach dem Unvergänglichen, Festen. Jenseits des Äthers wohnt staublos der ewige, große, feste Âtman.

Der Weise, der Brahmane, der ihn erkannt hat, soll Klugheit annehmen; er soll nicht auf viele Worte sinnen; denn das würde die Rede nur ermüden.

1

Îsha 12. Über die verschiedenen Deutungen dieser Stelle siehe Garbe, Sânkhyaphilosophie, 2S. 30ff. In einer anderen Version steht für Werden und Vergehen: »Wissen« und »Nichtwissen«.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 84-86.
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