Dritte ›Ranke‹

[165] Dieser dritte Abschnitt enthält eine Schilderung des Selbst im Bilde eines Wagenfahrers, dessen Wagenlenker die Erkenntnis, dessen Zügel der Verstand sind. Der Schilderung gehen zwei[165] Verse voraus, die in nur lockerem Zusammenhange damit von den zweien im fernsten Jenseits sprechen und sodann ein Gebet um das richtige Zustandekommen des Naciketasfeuers enthalten. Ihr folgen einige Verse, die die Stufenleiter von den Sinnen ab bis hinauf zum höchsten Selbst beschreiben und in dem mahân âtmâ einen Weltschöpfer, einen Îshvara statuieren, der von der Einzelseele, wie Vers 13 zeigt, verschieden ist wie von dem über allen stehenden Purusha, der Weltseele. Dieser mahân âtmâ ist nicht mit der buddhi der späteren Zeit (Deussen, Allgem. Gesch. der Ph. I, 3, S. 55) identisch, sondern mit dem Îshvara, den wir in Îsha-Upanishad Vers 5, 8, 9 ohne ausdrückliche Bezeichnung finden; ebenso Kâth. Up. 6, Vers 7.


Die zwei, die in der Welt der guten Werke die Wahrheit trinken und im fernsten Jenseits in eine Höhle getreten sind, heißen bei den Brahmakundigen, den Unterhaltern von fünf Feuern und denen, die das Naciketasfeuer dreimal schichteten, ›Schatten und Licht‹1.

Möchten wir das Naciketasfeuer zustandebringen, die Brücke derer, die geopfert haben, das unvergängliche höchste Brahman, das sichere Ufer derer, die (über den Strom) setzen wollen.

Das Selbst, wisse, ist der Wageninsasse, der Körper der Wagen, die Vernunft2, wisse, ist der Wagenlenker, der Verstand der Zügel3.

Die Sinne nennt man die Rosse, die Sinnesgegenstände das Ziel, das Selbst, an Sinne und Verstand gebunden, nennen die Weisen ›den Genießer‹.

Wer die rechte Erkenntnis nicht besitzt, den Verstand nicht als Zügel anwendet, der hat, wie ein Wagenlenker schlechte Rosse, seine Sinne nicht in der Gewalt.

Wer aber die rechte Erkenntnis besitzt, den Verstand als Zügel anwendet, der hat wie ein Wagenlenker gute Rosse, seine Sinne in der Gewalt.

Wer aber die rechte Erkenntnis nicht besitzt, wer den Verstand nicht hat und keine Lauterkeit, erreicht jenen Ort nicht und gerät in den Kreislauf hinein.

Wer aber die rechte Erkenntnis besitzt, den Verstand hat[166] und immerdar Lauterkeit, der erreicht den Ort und wird nicht mehr wiedergeboren.

Wer die Erkenntnis zum Wagenlenker, den Verstand zum Zügel wählt, der erreicht das Ziel des Weges, den höchsten Ort Vishnus4.

Höher als die Sinne stehen ihre Gegenstände, höher als die Sinnesgegenstände steht der Verstand, höher als der Verstand die Vernunft, höher als die Vernunft ›das große Selbst‹.

Höher als das große (Selbst) steht das Unentfaltete (Urmaterie), höher als das Unentfaltete die Seele (der purusha). Etwas Höheres als diese gibt es nicht. Sie ist das höchste Ziel, die höchste Zuflucht.

Das Selbst wohnt verborgen in allen Wesen und offenbart sich nicht. Aber es zeigt sich der eindringenden feinen Erkenntnis feiner Denker.

Wer klug ist, der zügle Rede und Verstand; er zügle sie in der Erkenntnis in seinem Selbst (âtmani); die Erkenntnis in dem großen Selbst; dieses zügle er in dem leidenschaftslosen Selbst (dem Purusha).

Stehet auf und wachet. Nachdem ihr eure Wünsche erreicht habt, gebet acht. Die scharfe Schneide eines Messers ist schwer zu überschreiten. Die Weisen sprechen davon als dem Hindernis des Weges.

Wer das verehrt, was ohne Laut ist, ohne Gefühl, ohne Farbe, ohne Veränderung, ohne Geschmack, ewig, ohne Geruch, ohne Anfang und ohne Ende, was höher ist als das große (Selbst) und unverrückbar, der wird aus dem Rachen des Todes befreit.

Wenn ein Kluger die Erzählung von Naciketas, die von dem Todesgott verkündet ist und immer währt, verkündet und hört, der wird in Brahmans Welt erhöht.

Wer diese höchste Geheimlehre in einer Versammlung von Brahmanen oder würdig vorbereitet beim Totenmahl zum Vortrag bringt, dem gereicht das zum ewigen Leben.


(1-3)

1

Hier liegt eine Übertragung alter, Naturvorgänge schildernder Bilder auf philosophische Begriffe vor. Diese Bilder haben ihren Ursprung in RV. I, 144, 3. 4; 164, 20, besonders Atharvaveda VIII, 9: ›woher sind die beiden entstammt? Welches ist die Welthälfte? Aus welcher Welt? Aus welchem Lande?‹ Gemeint sind die beiden Âtman.

2

buddhi cf. vijnâna v. 9.

3

Dieser Vergleich des menschlichen Körpers öfter z.B. Ait. Âr. II, 3, 9; Shvet. II, 9.

4

Vishnus Ort, in alter Zeit Sitz der Frommen, der mit dem Selbst und seiner Befreiung gar nichts zu tun hat, ist eine Übertragung mythologischer Dinge auf diese Philosophie.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 165-167.
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