Der Âtman im Herzen und im Weltall.

[111] Chândogya-Upanishad 8,1–4.


1,1. [Der Lehrer soll sprechen:] »Hier in dieser Brahmanstadt [dem Leibe] ist ein Haus, eine kleine Lotosblume [das Herz]; inwendig darinnen ist ein kleiner Raum; was in dem ist, das soll man erforschen, das wahrlich soll man suchen zu erkennen.«

2. Dann werden sie [die Schüler] zu ihm sagen: »Hier in dieser Brahmanstadt ist ein Haus, eine kleine Lotosblume; inwendig darinnen ist ein kleiner Raum; was ist denn dort, was man erforschen soll, was man soll suchen zu erkennen?«

3. Dann soll er sagen: »Wahrlich, so gross dieser Weltraum ist, so gross ist dieser Raum inwendig im Herzen; in ihm sind beide, der Himmel und die Erde, beschlossen; beide, Feuer und Wind, beide, Sonne und Mond, der Blitz und die Sterne, und was einer hienieden besitzt und was er nicht besitzt, das alles ist darin beschlossen.«

4. Dann werden sie zu ihm sagen: »Wenn alles dies in dieser Brahmanstadt beschlossen ist und alle Wesen und alle Wünsche, – wenn[111] sie nun das Alter ereilt oder die Verwesung, was bleibt dann davon übrig?«

5. Dann soll er sagen: »Dieses am Menschen altert mit dem Alter nicht; nicht wird es durch seine Ermordung getötet; dieses [die Seele, und nicht der Leib, wie die empirische Erkenntnis annimmt] ist die wahre Brahmanstadt, darin sind beschlossen die Wünsche; das ist das Selbst (die Seele), das sündlose, frei vom Alter, frei vom Tod und frei vom Leiden, ohne Hunger und ohne Durst; sein Wünschen ist wahrhaft, wahrhaft sein Ratschluss.

Denn gleichwie hienieden die Menschen, als geschähe es auf Befehl, das Ziel verfolgen, danach ein jeder trachtet, sei es ein Königreich, sei es ein Ackergut, und nur dafür leben, – [so sind sie auch beim Trachten nach himmlischem Lohne die Sklaven ihrer Wünsche].

6. Und gleichwie hienieden die Stellung, die man durch die Arbeit erworben hat dahinschwindet, so schwindet auch im Jenseits die durch die guten Werke erworbene Stätte dahin.

Darum, wer von hinnen scheidet, ohne dass er die Seele erkannt hat und jene wahrhaften Wünsche, dem wird zuteil in allen Welten ein Leben in Unfreiheit; wer aber von hinnen scheidet, nachdem er die Seele erkannt hat und jene wahrhaften Wünsche, dem wird zuteil in allen Welten ein Leben in Freiheit.[112]

3,1. Diese wahrhaften Wünsche sind [bei dem Nichtwissenden] mit Unwahrheit zugedeckt. Sie sind in Wahrheit da, aber die Unwahrheit ist über sie gedeckt; und wenn einer der Seinigen von hier abscheidet, so siehet ihn der Mensch nicht mehr.

2. Aber [in Wahrheit ist es so, dass er] alle die Seinigen, welche hier leben, und diejenigen, welche dahingeschieden sind, und was er sonst ersehnt und nicht erlangt, – alles das findet er, wenn er hierher [ins eigne Herz] geht; denn hier sind diese seine wahren Wünsche, welche die Unwahrheit zudeckt. – Aber gleichwie einen verborgenen Goldschatz, wer die Stelle nicht weiss, nicht findet, ob er wohl immer wieder darüber hingehet, ebenso finden alle diese Kreaturen diese Brahmanwelt nicht, obwohl sie tagtäglich [im tiefen Schlafe] in sie eingehen; denn durch die Unwahrheit werden sie abgedrängt.

4. Was nun diese Vollberuhigung [die Seele im Tiefschlafe] ist, so erhebt sie sich aus diesem Leibe, gehet ein in das höchste Licht und tritt dadurch hervor in eigner Gestalt, – das ist der Âtman«, so sprach der Meister, »das ist das Unsterbliche, das Furchtlose, das ist das Brahman!«

4,1. Der Âtman, der ist die Brücke (der Damm), welche diese Welten auseinanderhält, dass sie nicht verfliessen. Diese Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht, nicht das Alter,[113] nicht der Tod und nicht das Leiden, nicht gutes Werk noch böses Werk, alle Sünden kehren vor ihr um, denn sündlos ist diese Brahmanwelt. 2. Darum fürwahr, wer diese Brücke überschritten hat als ein Blinder, der wird sehend, als ein Verwundeter, der wird heil, als ein Kranker, der wird gesund. Darum fürwahr auch die Nacht, wenn sie über diese Brücke gehet, wandelt sich in Tag, denn einmal für immer licht ist diese Brahmanwelt.

3. Darum diejenigen, welche diese Brahmanwelt durch Brahmacaryam (Leben als Brahmanschüler in Studium und Entsagung) finden, solcher ist diese Brahmanwelt, und solchen wird zuteil in allen Welten ein Leben in Freiheit.

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. 111-114.
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