[76] Anfangs eine Sechs bedeutet:
Ein bescheiden-bescheidener Edler
mag das große Wasser durchqueren. Heil!
Eine gefährliche Unternehmung, wie das Durchqueren eines großen Wassers, ist sehr erschwert, wenn viele Ansprüche und Rücksichten dabei in Betracht kommen. Dagegen fällt sie leicht, wenn sie rasch und einfach erledigt wird. Darum ist die ganz anspruchslose Gemütsverfassung der Bescheidenheit geeignet, auch schwierige Unternehmungen fertigzubringen, weil sie keine Anforderungen und Vorbedingungen stellt, sondern schlank und leicht die Sache erledigt; denn wo keine Ansprüche erhoben werden, erheben sich keine Widerstände.
Sechs auf zweitem Platz bedeutet:
Sich äußernde Bescheidenheit. Beharrlichkeit bringt Heil.
Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Wenn jemand innerlich so bescheiden ist, daß sich diese Gesinnung in seinem[76] äußeren Benehmen zeigt, so gereicht es ihm zum Heil: denn auf diese Weise hat er von selbst die Möglichkeit beharrlicher Wirkung, die von niemand verdrängt wird.
Û Neun auf drittem Platz bedeutet:
Ein verdienstvoll-bescheidener Edler bringt zu Ende.
Heil!
Hier ist das Zentrum des Zeichens, wo sein Geheimnis ausgesprochen wird. Durch große Leistungen erwirbt man sich bald einen bedeutenden Namen. Wenn man sich durch den Ruhm blenden läßt, so wird sehr bald die Kritik einsetzen, und Schwierigkeiten werden sich erheben. Wenn man dagegen trotz seiner Verdienste bescheiden bleibt, so macht man sich beliebt und gewinnt die Hilfskräfte, die nötig sind, um das Werk, das man unternommen hat, zu Ende zu führen.
Sechs auf viertem Platz bedeutet:
Nichts, das nicht fördernd wäre
für Bescheidenheit in der Bewegung.
Alles hat sein Maß. Auch die Bescheidenheit im Benehmen kann übertrieben werden. Hier ist sie am Platz, da die Lage zwischen einem verdienstvollen Gehilfen unten und einem gütigen Herrscher oben sehr große Verantwortung mit sich bringt. Das Vertrauen des Oberen darf nicht mißbraucht, die Verdienste des Unteren dürfen nicht verdeckt werden. Es gibt wohl Beamte, die sich nicht hervortun. Sie decken sich durch den Buchstaben der Verordnungen, sie lehnen jede Verantwortung ab, sie nehmen Bezahlung an, ohne Entsprechendes zu leisten, sie tragen Titel, denen keine Wirklichkeit Bedeutung gibt. Die hier erwähnte Bescheidenheit ist das Gegenteil davon. Die Bescheidenheit in einer solchen Stellung zeigt sich eben darin, daß man mit Interesse an der Arbeit ist.
Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
Nicht pochen auf Reichtum seinem Nächsten gegenüber.
Fördernd ist es, mit Gewalt anzugreifen.
Nichts, das nicht fördernd wäre.
Bescheidenheit ist verschieden von schwächlicher Gutmütigkeit, die alles laufen läßt. Wenn man an verantwortungsvollem Posten steht, muß man unter Umständen auch einmal energisch durchgreifen. Aber dazu ist es nötig, daß man nicht durch persönliches Pochen auf seine Überlegenheit zu wirken sucht, sondern man muß seiner Umgebung gewiß sein. Das Zugreifen muß rein[77] sachlich sein und darf nichts persönlich Verletzendes haben. Darin zeigt sich die Bescheidenheit auch in der Strenge.
Oben eine Sechs bedeutet:
Sich äußernde Bescheidenheit.
Fördernd ist es, Heere marschieren zu lassen,
um die eigne Stadt und das eigene Land zu züchtigen.
Wem es wirklich mit seiner Bescheidenheit Ernst ist, der muß sorgen, daß sie in der Wirklichkeit sich zeigt. Er muß mit großer Energie dabei vorgehen. Wenn Feindseligkeit entsteht, ist nichts leichter, als die Schuld beim andern zu suchen. Ein schwacher Mensch zieht sich dann vielleicht beleidigt auf sich selbst zurück und hat Mitleid mit sich selbst und hält es für Bescheidenheit, daß er sich nicht wehrt. Wirkliche Bescheidenheit zeigt sich darin, daß sie kraftvoll darangeht, Ordnung zu schaffen, und dabei beim eignen Ich und dem engsten Kreise anfängt mit der Züchtigung. Nur dadurch wird wirklich etwas Kraftvolles geleistet, daß man den Mut hat, seine Heere gegen sich selbst marschieren zu lassen2.
1 Man bemerkt bei diesem Zeichen eine Reihe von Parallelen zur prophetischen und christlichen Lehre der Bibel, z.B.
»Wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden. Wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden.«
»Alle Tale sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was ungleich ist, soll eben, und was höckricht ist, soll schlicht werden« (Jes. 40, 4).
»Gott widerstrebt den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.«
Auch das Weltgericht in der parsischen Religion zeigt ähnliche Züge. Und zum letztzitierten Spruch wäre die griechische Auffassung vom Neid der Götter zu erwähnen.
2 Es gibt wenige Zeichen im Buch der Wandlungen, bei denen alle Linien nur günstig sind, wie bei dem Zeichen Bescheidenheit. Daraus geht hervor, wie hoch die chinesische Weisheit diese Tugend wertet.
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