Kapitel IX

Über das Orakel

§ 1

[285] Der Himmel ist eins, die Erde zwei, der Himmel drei, die Erde vier, der Himmel fünf, die Erde sechs, der Himmel sieben, die Erde acht, der Himmel neun, die Erde zehn.


[285] Dieser Paragraph steht im überlieferten Text vor Kapitel X und wurde durch Tschongtse in der Sungzeit hierher versetzt und mit dem folgenden Paragraphen verbunden, der ursprünglich hinter dem jetzigen § 3 stand. Die beiden Paragraphen gehören zweifellos zusammen, stehen aber mit dem Folgenden nur in recht losem Zusammenhang. Sie enthalten Zahlenspekulationen, die sich an den Abschnitt Hung Fan im Buch der Urkunden anschließen. Sie sind wohl der Anfang der Verbindung der Zahlenspekulation des Buchs der Urkunden mit der Yin-Yang-Lehre des I Ging, wie sie besonders während der Handynastie eine große Rolle gespielt hat. Zum Verständnis der Sache, von der hier nur eine kurze Andeutung gegeben werden soll, muß man zurückgehen auf die Figur, die unter dem Namen Ho Tu, der Plan vom Gelben Fluß, bekannt ist und die von Fu Hi stammen soll. Dieser Plan zeigt die Entstehung der fünf Wandlungszustände (wu hing, gewöhnlich fälschlich Elemente genannt) aus gera den und ungeraden Zahlen.


Kapitel IX

Das Wasser im Norden ist entstanden aus der Eins des Himmels, der sich die Sechs der Erde ergänzend zugesellt. Das Feuer im Süden ist entstanden aus der Zwei der Erde, der sich die Sieben des Himmels ergänzend zugesellt. Das Holz im Osten ist entstanden aus der Drei des Himmels, der sich die Acht der Erde ergänzend zugesellt. Das Metall im Westen ist entstanden aus der Vier der Erde, der sich die Neun des Himmels ergänzend zugesellt. Die Erde in der Mitte (Erdboden, Tu, stofflich, im Unterschied von Di, Erde, als Weltkörper) ist entstanden aus[286] der Fünf des Himmels, der sich die Zehn der Erde ergänzend zugesellt.

Die zweite Anordnung, wobei die Zahlen wieder auseinandertreten und mit den acht Zeichen sich kombinieren, ist die des Lo Schu (Schrift vom Flusse Lo).


Kapitel IX

§ 2

Zahlen des Himmels gibt es fünf, Zahlen der Erde gibt es auch fünf. Wenn man sie an die fünf Plätze verteilt, so hat jede ihre Ergänzung. Die Summe der Zahlen des Himmels ist 25. Die Summe der Zahlen der Erde ist 30. Die Gesamtsumme der Zahlen des Himmels und der Erde ist 55. Dies ist es, was die Veränderungen und Umgestaltungen vollendet und Dämonen und Götter in Bewegung bringt.


Dieser Paragraph ist aus den vorangehenden Anmerkungen ohne weiteres verständlich. Er ist ebenso wie jener zweifellos aus späterer Zeit.


§ 3

Die Zahl der Gesamtmenge ist 50. Davon benützt man 49. Man teilt sie in zwei Teile, um die beiden Grundkräfte nachzubilden. Dann hält man eines besonders, um die drei Mächte nachzubilden. Man zählt mit vier durch, um die vier Jahreszeiten nachzubilden. Den[287] Rest steckt man weg, um den Schaltmonat nachzubilden. In fünf Jahren sind zwei Schaltmonate, darum wiederholt man das Wegstecken, und danach hält man das Ganze.


Es wird hier der Prozeß des Orakelnehmens mit kosmischen Vorgängen in Zusammenhang gebracht. Der Hergang beim Befragen des Orakels ist folgender:

Man hat 50 Schafgarbenstengel, von denen man aber nur 49 benützt. Diese 49 werden zunächst in zwei Haufen geteilt. Dann steckt man vom Haufen rechts einen Stengel zwischen vierten und fünften Finger der linken Hand. Dann zählt man den linken Haufen mit vier durch und steckt den Rest (vier oder weniger) zwischen dritten und vierten Finger. Darauf macht man es mit dem rechten ebenso und steckt den Rest zwischen zweiten und dritten Finger. Das ist eine Wandlung. Man hat dann zusammen entweder fünf oder neun Stengel in der Hand. Nun vereinigt man die beiden Resthaufen wieder und macht denselben Hergang noch zweimal. Dieses zweite und dritte Mal bekommt man entweder vier oder acht Stengel. Die fünf beim erstenmal und die vier bei den üb rigen Malen gelten als Einheit mit dem Zahlenwert 3, die neun bzw. acht haben den Zahlenwert 2. Bekommt man nun bei drei aufeinanderfolgenden Wandlungen die Werte 3 + 3 + 3 = 9, so ergibt das ein altes Yang, einen sich bewegenden festen Strich. 2 + 2 + 2 = 6 ergibt das alte Yin, einen sich bewegenden weichen Strich. 7 ist das junge Yang, 8 das junge Yin. Sie kommen als Einzelstriche nicht in Betracht (vgl. den Abschnitt über das Orakelnehmen am Schluß dieses Buches).


§ 4

Die Zahlen, die das Schöpferische ergeben, sind 216; diejenigen, die das Empfangende ergeben, sind 144, zusammen 360. Sie entsprechen den Tagen des Jahres.


Wenn das Schöpferische aus sechs alten Yangstrichen, d.h. lauter Neunen zusammengesetzt ist, ergeben diese beim Orakelnehmen folgende Zahlen:

Benützt werden:

Davon ab das erstemal


Kapitel IX

Dasselbe für die sechs Linien 6 mal wiederholt, ergibt als Zahl für die Reste 6 × 36 = 216 Stengel.

In ähnlicher Weise ist es beim Empfangenden, falls es aus lauter Sechsen, d.h. alten Yinstrichen, besteht.

[288] Gesamtzahl der Stengel

Davon ab für eine Sechs (altes Yin)


Kapitel IX

Dasselbe für die sechs Linien eines Zeichens 6 mal wiederholt, ergibt 6 × 24 = 144 Stengel als Gesamtzahl der Reste.

Zählt man nun die Zahlen für das Schöpferische und das Empfangende zusammen, so erhält man 216 + 144 = 360, was der mittleren Zahl des chinesischen Jahres entspricht1.


§ 5

Die Zahlen der Stengel in beiden Teilen betragen 11520, was der Zahl der 10000 Dinge entspricht.


Im ganzen Buch der Wandlungen gibt es 192 Striche von jeder Art (im ganzen 64 × 6 = 384 Striche, davon je die Hälfte Yang bzw. Yin). Von diesen 192 Strichen ergibt jeder sich bewegende Yangstrich, wie im obigen Paragraphen gezeigt, den Stengelrest von 36, im ganzen also 192 × 36 = 6912. Die sich bewegenden Yinstriche ergeben einen Stengelrest von 24, also 192 × 24 = 4608, im ganzen also 6912 + 4608 = 11520.


§ 6

Darum: Es sind vier Verrichtungen nötig, um eine Wandlung zu ergeben; 18 Veränderungen ergeben ein Zeichen.


Die Worte Wandlung und Veränderung werden hier ganz im selben Sinn gebraucht. Jeder Strich setzt sich, wie oben gezeigt, zusammen aus drei »Veränderungen« oder »Wandlungen«. Die vier Verrichtungen sind: 1. Abteilen der Stäbchen in zwei Haufen. 2. Entnahme des einen Stäbchens, das zwischen Goldfinger und kleinen Finger gesteckt wird. 3. Durchzählung des linken Haufens mit vier und Unterbringung des Restes zwischen Gold- und Mittelfinger. 4. Durchzählung des rechten Haufens mit vier und Unterbringung des Restes zwischen Zeige-und Mittelfinger. Durch diese vier Verrichtungen bekommt man eine »Wandlung« oder »Veränderung«, d.h. den Zahlenwert 2 oder 3 (s.o.). Wird diese Wandlung dreimal wiederholt, so bekommt man den Strichwert: entweder 6 oder 7 oder 8 oder 9. Sechs Striche (= 6 × 3 = 18 Wandlungen) ergeben dann den Aufbau des Zeichens.


§ 7

Die acht Zeichen bilden eine kleine Vollendung.


Ein Zeichen aus sechs Strichen setzt sich aus zwei dreistrichigen Zeichen zusammen. Die dreistrichigen Zeichen sind eben die acht Zeichen. Das untere heißt auch das innere, das obere heißt auch das äußere Zeichen.


§ 8

[289] Wenn man fortfährt und weitergeht und die Zustände durch die Übergänge in die entsprechenden andern vermehrt, so sind damit alle möglichen Zustände auf Erden erschöpft.


Jedes der 64 Zeichen kann durch entsprechende Bewegung von einem oder mehreren Strichen in ein anderes übergehen. So erhält man im ganzen 64 × 64 = 4096 verschiedene Übergangszustände, die alle möglichen Situationen erschöpfen.


§ 9

Es offenbart den SINN und vergöttlicht die Art und den Wandel. Darum kann man mit seiner Hilfe allem auf die richtige Weise entgegentreten und mit seiner Hilfe selbst die Götter unterstützen.


Dieser Paragraph redet wieder vom Buch der Wandlungen im allgemeinen. Er spricht davon, daß das Buch den Sinn des Weltgeschehens offenbart und dadurch Art und Wandel des Menschen, der sich ihm anvertraut, göttergleich geheimnisvoll macht, so daß der Mensch in den Stand gesetzt wird, jedem Ereignis auf die richtige Weise zu begegnen und selbst den Göttern in ihrem Walten zur Seite zu stehen.


§ 10

Der Meister sprach: Wer den SINN der Veränderungen und Umgestaltungen kennt, der kennt das Wirken der Götter.

Fußnoten

1 Das chinesische Jahr stimmt im wesentlichen mit dem Metonischen Jahr überein.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 285-290.
Lizenz:

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